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Ergonomiestudien mit virtuellen Menschen- und Objektmodellen



Der zunehmende Wettbewerbsdruck zwingt Unternehmen, Produkte in höherer Qualität und größerer Vielfalt, jedoch in kürzerer Zeit und zu geringeren Kosten zu entwickeln. Eine Lösung des Dilemmas könnte sein, physische Prototypen, die zur Prüfung von Design- und Konstruktionsideen verwendet werden, durch computersimulierte zu ersetzen, denn der Bau konventioneller Modelle nimmt oft mehr als ein Viertel der gesamten Entwicklungszeit in Anspruch.

Bei der Konstruktion von Maschinen kann man oft auf die Daten früherer Typen zurückgreifen; aber es ist recht schwierig, virtuelle Menschen und ihre Aktionen zu entwerfen, etwa um die Handhabbarkeit geplanter Produkte oder die Ergonomie von Arbeitsplätzen zu testen. Die räumliche und kinematische Komplexität des Menschen stellen an die mathematische Beschreibung und graphische Darstellung solcher Computer-Dummys hohe Ansprüche.

Eine erste, derzeit schon recht gut modellierbare Unterscheidung geben Merkmale wie ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Alter, Körpergröße und Körperbau. Des weiteren differieren Seh- und Hörvermögen, körperliche Belastbarkeit und manuelles Geschick; dazu gibt es ebenfalls bereits Ansätze. Feinere und noch kaum virtuell nachzubildende Unterschiede betreffen Intelligenz, Merk- und Kombinationsfähigkeit, Erfahrungen oder gar die psychische Belastbarkeit.

Solche individuellen Charakteristika bleiben allerdings während des kurzen Zeitraums einer Simulation ziemlich konstant und sind somit gut modellierbar. Hingegen läßt sich das Biomechanik genannte räumliche und gravitationssichere Bewegungsvermögen nicht im entferntesten in all seinen Varianten und Winkelkombinationen, sondern nur stereotyp nachbilden. Allein das Greifen eines Objekts kann je nach Geschlecht und Alter, Umgebung, Tageszeit und Ermüdung völlig unterschiedlich ausfallen; je nach der zu bewegenden Masse verändern sich zudem die zwar willentlich ausgelösten, aber unterbewußt abgestimmten Anfangs- und Endbeschleunigungen von Körper, Arm, Hand und Fingern. Auch situative Bedingungen wirken sich aus; beispielsweise unterscheiden sich Bewegungssteuerungen mit und ohne Sicht, mit und ohne Training.

Des weiteren müssen virtuelle Menschenmodelle auch ihr gleichfalls virtuelles Umfeld wahrnehmen, um damit interagieren zu können. Für ergonomische Analysen werden unter anderem die Erreichbarkeit und die Sichtbarkeit von Objekten sowie die Belastung der durch die Umgebung erzwungenen Körperhaltung geprüft.

Stand der Technik

Bis Ende der achtziger Jahre benutzten Konstrukteure und Designer für Ergonomiestudien Zeichenschablonen, die sie in Beziehung zu Konstruktionen setzten. Menschliche Silhouetten in drei Ansichten halfen, das räumliche Verhältnis zwischen Mensch und Produkt zu visualisieren. Insbesondere Distanzen und Erreichbarkeiten oder Verstellbereiche für Sitze und Bedienelemente ließen sich so je nach Körpergröße bestimmen.

Gebräuchlich war auch die Video-Somatographie, die Probanden vor blauem Hintergrund aufnahm, der beim Überblenden der Szene mit Konstruktionszeichnungen weggefiltert wurde |(|diese Blue-box-Technik wurde ursprünglich für Fernseh-Trickaufnahmen entwickelt). Damit war es möglich, ergonomische Parameter ohne physische Prototypen im Maßstab 1:1 zu untersuchen.

Der Wechsel vom Reißbrett zum Computer Aided Design |(|CAD) in Entwicklungs- und Konstruktionsbüros eröffnete komfortablere Möglichkeiten. So präsentierte die Firma IST in Groß-Rohrheim 1989 einen einfachen dreidimensionalen, animierbaren Computer-Dummy mit 48 Gelenken und integrierte ihn in ein gängiges CAD-System. Zwei Jahre später folgte die nächste Generation unter dem Namen ANTHROPOS |(|griechisch für Mensch).

Dessen Software-Modul bildet die anthropometrische Basis des in Kooperation mit dem Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation |(|IAO) entwickelten neuen Systems VirtualANTHROPOS. Die Datenbank enthält die mathematischen Beschreibungen von Millionen Menschen, die sich nach Geschlecht, Alter, Größe und Körperbau, aber auch nach Nationalität und Religion unterscheiden |(|Bild 1). Die Modelle verfügen über 90 teils fünfachsige Gelenke, können also biomechanisch korrekte Bewegungen ausführen und Haltungen einnehmen, was die Software kontrolliert. Werden Objekte ergriffen beziehungsweise bewegt, bestimmt ein Energiemodul je nach Alter, Geschlecht, Gewicht sowie Frequenz und Dauer der Bewegung die zulässige Grenzlast. Ein Beinkraftprogramm ermittelt individuell zulässige Tretkräfte, abhängig von Sitz und – bei Radfahrsimulationen – Pedallage.

Neu daran ist vor allem die Kombination mit den Möglichkeiten virtueller Realität |(|VR): Der Planer, Designer oder Konstrukteur tritt als Computersimulation in eine scheinbare Realisierung seiner Ideen ein, um schon in frühen Stadien Schwachstellen und Fehler zu entdecken. Die Positionen von Kopf und Händen werden dabei mit elektromagnetischen Sensoren verfolgt, Datenhandschuhe erfassen Fingerstellungen, Displays spiegeln dem Benutzer die simulierte Welt in den Datenhelm ein, und Lautsprecher schaffen gegebenenfalls dazu das akustische Pendant.

Wichtig für die Akzeptanz der Methode und den Erfolg der Prüfung ist, daß der Benutzer sich körperlich als in dem Medium befindlich und darin eingebunden wahrnimmt; man spricht dann von Immersion. Dazu reicht es nicht, ihn mit einem Datenhelm auszustatten und somit die Realität quasi auszublenden – Simulation und Darstellung müssen in Echtzeit, also alle Berechnungen und die Wiedergabe von Bildern und Tönen mit nicht wahrnehmbarer Verzögerung erfolgen. Beim Sehen sind beispielsweise Bildfrequenzen von mehr als 12 Hertz erforderlich – zwischen zwei Bildern dürfen also maximal nur 83 Millisekunden |(|tausendstel Sekunden) vergehen. In solchen kurzen Taktzyklen müssen auch Aufnahme, Aufbereitung und Übertragung von Meßdaten der Positionssensoren verlaufen.

Mit der von uns verwendeten kommerziellen Workstation steht bei nur einem Computer-Dummy ein Bild in 25 Millisekunden bereit; die Bildwiederholfrequenz beträgt mithin etwa 25 Hertz. Für die gleichzeitige Simulation von mehreren Modellen in Echtzeit sind mehrere Prozessoren erforderlich. Andere Wahrnehmungen, zum Beispiel die über den Tastsinn, benötigen wesentlich höhere Simulationsfrequenzen, damit sie befriedigend realitätsnah erlebt werden.

Projekt Montageplanung

Erstes Anwendungsgebiet von VirtualANTHROPOS ist die virtuelle Montageplanung, eines der strategischen Forschungsprojekte des Demonstrationszentrums für Virtuelle Realität am IAO. Mit heutigen Verfahren lassen sich der real zur Verfügung stehende Einbau- oder Montageraum und die Zugänglichkeit aller seiner Elemente nur bedingt ermitteln. Insbesondere in der Automobil- und Luftfahrtindustrie bestimmen diese Größen aber die Wirtschaftlichkeit des Montageablaufs.

Unser System sollte es Planern ermöglichen, ein beliebiges Produkt unter eingeschränkter Raumökonomie und mit Berücksichtigung der menschlichen Kinematik realitätsgetreu zu montieren sowie auch zu demontieren und so interaktiv einen Ablaufplan zu erstellen.

Grundlage sind die dreidimensionalen CAD-Daten des strukturellen und geometrischen Aufbaus des zu montierenden Produkts sowie die Geometrie des Einbauraums. Anhand dieser Angaben und bereits bekannter Beschränkungen werden Art und Reihenfolge der Montageoperationen festgelegt.

In der virtuellen Szene kann man das Bauteil von Hand oder mittels einer virtuellen Vorrichtung greifen und plazieren |(|Bild 3). Zur Steuerung der Software durch Gesten – eine in VR-Umgebungen übliche Methode – werden Fingerstellungen mittels 24 Dehnungsmeßstreifen in den beiden Datenhandschuhen bestimmt. Sechs Sensoren an Händen und Füßen sowie an Rumpf und Kopf messen die jeweiligen Positionen und Orientierungen. An den Handschuhen sind zudem kleine Motoren angebracht, deren gesteuerte Vibration das Berühren von virtuellen Objekten rückmeldet.

Die Rohdaten der Handschuhe interpretiert ein neuronales Netzwerk als Gesten. Ein Software-Modul zur Kollisionserkennung bemerkt, wenn sich die Modelle von Mensch und Bauteilen beziehungsweise von Objekten durchdringen. War zuvor gestisch ein Greifen angekündigt worden, interpretiert das System die Kollision der Geometrien als Vollzug und koppelt das Bauteil an die virtuelle Hand an; ebenso simuliert es Loslassen. Kollisionen können auch akustisch und durch die Vibration haptisch vermittelt werden. Auf diese Weise bedient der Benutzer auch Hilfsmittel wie Schrauben oder Schraubwerkzeuge.

Das System erlaubt nicht nur zu prüfen, ob die Montage prinzipiell möglich ist |und ob sich das Produkt später zu Reparaturen wieder teils oder gänzlich demontieren läßt; Protokolle und eine dichte Folge von Daten der einzelnen Phasen ermöglichen auch, den Ablauf zu optimieren und die Dauer der Fertigung komplexer Produkte abzuschätzen. Die Zeiten der simulierten Montage lassen sich freilich nicht ohne weiteres auf die Wirklichkeit übertragen, weil insbesondere eine Kraftrückkopplung fehlt: Ein Gewicht von 30 Kilogramm und eines von wenigen Gramm zu bewegen erfordert in der virtuellen Welt die gleiche Anstrengung. Entsprechende Arbeitsphasen muß man identifizieren und ihren realen Zeitbedarf anhand von Erfahrungswerten einrechnen.

Eine spezielle Schnittstelle ermöglicht, analog auch die Gestaltung von Arbeitsplätzen mit Software-Dummys ergonomisch zu verbessern. Dabei wird untersucht, ob alle Hilfsmittel erreicht und alle Bedienelemente ohne Schwierigkeit betätigt werden können. Bereits seit geraumer Zeit werden CAD-basierte Menschenmodelle zudem beim Design von Fahrzeugzellen eingesetzt, speziell etwa zum korrekten Einstellen von Sitzen für unterschiedlich große Fahrer.

Ferner lassen sich Sicherheitskonzepte von Maschinen prüfen: Am virtuellen Prototyp sind mögliche Fehlbedienungen frühzeitig auszumachen, und Analysen des Benutzerverhaltens geben Hinweise auf Verbesserungen. Schließlich eignet sich ein solches System auch zur Schulung von Bedien- und Wartungspersonal.

Anhand der aufgezeichneten Abläufe kann eine Bewegungsdatenbank erstellt werden, um so weitere, aber vom Computer gesteuerte Dummys in eine virtuelle Umgebung einzubinden und Teamarbeit zu simulieren. Eine noch etwas utopische Anwendung sind realistisch wirkende, jedoch virtuelle Schauspieler in einem virtuellen Studio sowie Repräsentationen von Besuchern in Internet-Chat-Rooms anstatt von derzeit nur sehr einfach ausgeführten Avataren. Dazu entwickeln wir bereits weitgehend photorealistische Dummys, die nach Belieben mit Kleidung und Frisuren ausstaffiert werden können |(|Bild 2).


Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1997, Seite 101
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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