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Ermüdungsbrüche am Fahrrad

Das Fahrrad gehört zum Alltagsbild in Stadt und Land; sei es als umweltfreundliche Alternative zum Automobil, sei es als Freizeit- und Sportgerät; gleichwohl gilt ihm längst nicht die Aufmerksamkeit, die technische Gremien ebenso wie Verkehrs- und Städteplaner dem motorisierten Verkehr widmen. Um beispielsweise Radfahrer vor Unfällen durch Bauteilfehler zu schützen, müssen Betriebsfestigkeiten untersucht und im Einzelfall realistisch getestet werden – das ist derzeit noch längst nicht die Norm.

Die wohl bekannteste Urform des Fahrrades, ein hölzernes Laufrad mit Lenkerstange und gefedertem Sitz, hatte Karl Friedrich Drais (1785 bis 1851) während seiner Zeit als Forstmeister von Gengenbach im Kinzigtal 1817 entwickelt und im folgenden Jahr patentiert bekommen. Das alsbald Draisine genannte Gefährt fand vor allem in England und den USA als velocipede und dandy horse Anklang.

Doch trotz der langen, erfolgreichen Zweiradgeschichte ist in kaum einem anderen Industriezweig so wenig für die Sicherheit des Benutzers getan worden wie im Fahrradbau. Gegenwärtig gehen schätzungsweise immerhin gut elf Prozent aller Fahrradunfälle auf technische Fehler zurück, wobei solche ohne Beteiligung anderer Verkehrsteilnehmer selten erfaßt werden.

Das Produkthaftungsgesetz von 1990 könnte diese Zahl allerdings deutlich verringern, weil nun ein technischer Laie nicht mehr durch den Zusammenbau von Einzelteilen risikolos zum Fahrradher-steller avancieren kann. An der Aachener Hochschule überprüfen wir in diesem Zusammenhang alle sicherheitsrelevanten Bauteile, messen beispielsweise die Bremswirkung bei Trockenheit und Nässe, simulieren Betriebslasten für komplette Fahrzeuge, testen die wichtigsten Bauteile wie Rahmen, Gabel, Lenker und Sattelstütze auf ihre Schwingfestigkeit und untersuchen die jeweiligen Schadensmechanismen.

Statische und wechselnde Lasten

Um einen Stahlblechstreifen zu brechen, biegt man ihn öfters hin und her – eine Last, die anfangs ertragen wird, ermüdet schließlich bei mehrfachem Wiederholen das Material. Der Grund sind winzige Risse, die schon bei der Stahlherstellung, beim Walzen oder Schmieden, bei der Oberflächenbearbeitung sowie beim Schweißen entstanden sein können oder die als Kerben in das Bauteil hineinkonstruiert wurden.

Wenn geschmolzenes Metall erstarrt, bilden sich Körner mit eigenem Kristallgitter. Entlang deren Gitterebenen kann sich ein solcher mikrofeiner Riß ausbreiten; er wandert von Korn zu Korn, bis er so groß ist, daß er unabhängig von den Gitterebenen weiterzuwachsen vermag.

Das Rißwachstum beginnt mit steigender Spannungsintensität an den Rißenden. Überschreitet sie einen werkstoff-abhängigen Grenzwert, im Fachjargon als Rißzähigkeit bezeichnet, verformt sich das Metall plastisch und beginnt zu fließen.

Das ist noch nicht unbedingt problematisch. Bleibt die Länge des Risses nämlich unter einem kritischen Wert, stoppt die plastische Verformung sein Wachstum; überschreitet sie ihn hingegen, wächst er durch das Bauteil weiter bis zu dessen Bruch (Bild 1). Geringe Zähigkeit des Materials – wie bei hochfesten Leichtbaumaterialien – begünstigt die Ausbreitung, weil es an der Rißspitze nicht fließt und Spannungen abbaut.

Beim Radfahren treten belastende Kräfte immer wieder auf. Somit können sich bereits gestoppte Risse doch immer weiter vergrößern. Viele kleine Belastungen richten gerade bei den heutzutage verwendeten fließfähigen Stählen unter Umständen mehr Schaden an als eine große. Die Nutzungsdauer eines Bauteils entspricht dann der Zeit, die ein Riß braucht, um es zu durchwandern.

Bis heute sind nicht alle Einflüsse bei solchen Bruchrisiken vollständig bekannt. Reine Bauteilberechnungen über Formeln oder Finite-Elemente-Analysen sind nur unter Beachtung großer Sicherheitsfaktoren anwendbar, was oft ignoriert wird. Für die Sicherheit des Radfahrers ist es erforderlich, diese Bruchrisiken experimentell zu klären.

Planung und Auswertung der Versuche gründen auf klassischen Verfahren der Ingenieurtechnik, wie sie unter anderen der im Eisenbahnbau tätige August Wöhler (1819 bis 1914), ein Begründer der modernen Werkstoffprüfung, entwickelt hat. So zeigt das Wöhler-Diagramm, wie viele Belastungen bestimmter Stärke ein Bauteil erträgt, bis es bricht (Bild 2). Je öfter Lastwechsel auftreten, desto geringer ist die ohne Bruch ertragene Kraft. Die Wöhler-Kurve von Stählen verläuft zu hohen Frequenzen hin waagrecht; bei dieser Last und darunter ist das Bauteil dauerfest.

Ab etwa 50000 Lastspielen läßt sich die Kurve berechnen (siehe Kasten Seite 102). Sind es weniger, spricht man von Kurzzeitfestigkeit. In diesem Bereich sehr hoher Lasten, die nur wenige Male zu ertragen sind, ist die Kurve nur schwer in Zahlen zu fassen. Weil dort plastische Verformungen dominieren, gibt man bei Experimenten statt der Kraft die Dehnung je Lastspiel vor. In den Diagrammen lassen sich dann der Anteil der Elastizität und der von plastischen Verformungen trennen.

Im Betrieb eines Fahrrades treten an vielen Bauteilen rund 250000 Belastungen im Bereich der Dauerfestigkeit und solche um die halbe Dauerfestigkeit mehr als einmillionmal auf. Das läßt sich nur schwer bei vertretbarem Zeitaufwand prüfen. Reduziert man aber die Zahl der Lastwechsel und erhöht dafür die Kraft, gerät man schnell in den Bereich der Kurzzeitfestigkeit mit anderen Schadensbildern; falsche Aussagen über die erwartbare Nutzungsdauer sind dann möglich.


Realistische Dauerprüfungen

Um repräsentative Lasten und Lastspiele zu erhalten, die sich in entsprechende Prüfpläne umsetzen lassen, sind wir mit einem Meßfahrrad in Alltagssituationen gefahren und haben die Ergebnisse analysiert. Die Belastungen auf Gabel, Lenker, Sattel, Pedale und Hinterbau des umgerüsteten Fahrzeugs lassen sich mit einem tragbaren Meßsignalverstärker aufnehmen.

Zum Beispiel haben Kräfte auf die Fahrradgabel, etwa beim Überfahren einer Bodenwelle, senkrecht und waagerecht wirkende Anteile (Bild 3). Für die Haltbarkeit ist entscheidend, welches Biegemoment (Kraft mal Hebelarm) sie hervorrufen. Die spätere Prüfung nehmen wir mit einer waagerecht wirkenden Last vor, deren Moment im Schaftrohr unter dem Steuersatz (der Verbindung von Gabel und Rahmen) der Summe aus den beiden gemessenen Momenten entspricht.

In Extremsituationen wie der Fahrt im Wiegetritt, durch Schlaglöcher oder bei einer Vollbremsung maßen wir beispielsweise an der Vorderradgabel bis zu 780 Newton. Besteht die Gabel aus Stahl, müßte sie, um den Kriterien für Dauerfestigkeit zu genügen, diese Kraft mehr als zehnmillionenmal überstehen; das entspricht den für diesen Werkstoff üblichen Erfahrungswerten. Nach heutigen Konstruktionsprinzipien wäre sie dann aber ziemlich schwer.

Soll die Gabel betriebsfest, also auf Zeit ausgelegt werden, muß ihre voraussichtliche Gebrauchsdauer bekannt sein. Die beträgt im Durchschnitt zehn Jahre; doch muß in dieser Zeit die Summe aller Belastungen ohne Folgen bleiben. Aus der Luft- und Raumfahrt, dem Automobil- und Brückenbau stammen Methoden, die Betriebsfestigkeit in einem definierten Zeitraum zu berechnen und Bauteile entsprechend auszulegen.

Auf unseren Bedarf übertragen, werden zunächst die bei den Meßfahrten aufgetretenen Belastungen in Klassen eingeteilt, etwa alle Kräfte von 0 bis 50 Newton, von 50 bis 100 Newton und so fort, sowie pro Klasse aufsummiert. Anschließend extrapoliert man diese Zahlen von der Meßzeit (eine halbe bis zu einer Stunde) auf die angenommene Gebrauchsdauer von zehn Jahren. Um den Einfluß einzelner Extrembelastungen abzuschwächen, berücksichtigen wir dabei nur Werte, die öfter als zehnmal aufgetreten sind. (Um unterschiedliche Klassen miteinander zu vergleichen, extrapoliert man ihre Wirkung mitunter auf eine Million Lastwechsel.) Aus den Daten läßt sich nun der akkumulierte Schaden ermitteln und daraus die repräsentative Kraft (siehe Kasten), mit der sich ein Bauteil oder ein komplettes Rad testen läßt (Bild 4).

Unter der Annahme, daß der Besitzer eines Stadtrades mit zehnjähriger Gebrauchsdauer jeden Tag zur Arbeit fährt (212 Tage pro Jahr je zweimal zehn Minuten) sowie pro Jahr 100 Einkaufsfahrten von jeweils ebenfalls zehn Minuten unternimmt, ergibt sich eine geforderte Gesamtnutzungsdauer von 52400 Minuten. Die repräsentative Prüfkraft für eine Stahlgabel wäre dann beispielsweise 347 Newton, für eine aus Aluminium hingegen nur 272 Newton, weil man diesen Werkstoff mit zehn Million Lastspielen testet, Stahl hingegen nur mit einer Million. Doch reagiert Aluminium empfindlicher als Stahl auf Frequenzen über den im Betrieb gemessenen. Erhöht man die Prüffrequenzen, um auf diese Weise den Test zu beschleunigen, muß deshalb gleichzeitig die Prüfkraft für Aluminium größer werden.


Theorie und Praxis

In der Realität ist es aber meist komplizierter. Selten kennt man die genauen Materialkonstanten der Werkstoffe. Die Parameter der Berechnungen sind abhängig von der Bauteilgeometrie. Es ist zudem schwer, eine Meßstrecke zu finden, welche die während der gesamten Einsatzdauer eines Fahrrades einwirkenden Belastungen repräsentativ wiedergibt. Dadurch entstehen Fehler bei der Extrapolation der Meßergebnisse. Außerdem spielen bei der Messung viele Faktoren wie der Reifenluftdruck sowie schwer zu standardisierende Bedingungen wie Fahrer und Fahrverhalten mit. Die verwendete Schadensakkumulationshypothese beschreibt die Wirklichkeit darum nur annähernd.

Die Ergebnisse von dynamischen Bauteiluntersuchungen streuen zudem so weit, daß von Test zu Test erhebliche Unterschiede auftreten können. Deshalb müssen kritische Bauteile an mindestens zehn Proben begutachtet werden; für den Test eines Aluminiumbauteils müßten also mindestens zehnmal fünf Millionen Lastwechsel ertragen werden. Um solche Untersuchungen kostengünstig zu halten, haben wir einfache und schnelle Prüfmaschinen entwickelt, die bis zu zwei Millionen Lastwechsel am Tag aufbringen.

Der Bruch eines Bauteils bewirkt mitunter eine Verletzung oder sogar den Tod eines Menschen. Darum muß man einen Mittelweg zwischen der konsequenten Leichtbaukonstruktion und der stabileren, auf die Dauerfestigkeit ausgelegten Bemessung finden und sicherheitsrelevante Bauteile wie Gabel, Lenker und Sattelstütze entsprechend konstruieren.

Ein wichtiger Faktor der Gebrauchsdauer läßt sich mit den vorgestellten Theorien und Tests allerdings nicht berücksichtigen – die Korrosion. Nichts beschleunigt einen Rißfortschritt so sehr wie Korrosion entlang der Korngrenzen. Deshalb kommt dem Oxidationsschutz auch bei Aluminiumbauteilen entscheidende Bedeutung zu.

Doch alle Bemühungen können nicht verhindern, daß bei einer Jahresproduktion von einigen Millionen Fahrrädern hier und da bruchgefährdete Ausreißer auftreten. Um Sicherheit zu garantieren, muß der Konstrukteur deshalb Redundanz vorsehen: Bricht etwa eine der beiden Gabelscheiden, soll die andere die Belastung noch so lange tragen, bis der Fahrer sicher steht. Bricht jedoch das Schaftrohr, stürzt er sofort. Entscheidend ist also, daß eine Gabel, wenn der Bruch nicht zu vermeiden ist, immer zuerst in einer der beiden Scheiden brechen sollte, nie im Schaft.

Die Fahrradindustrie wird nicht umhin kommen, sich damit mehr auseinanderzusetzen, weil die Produkthaftungsgesetze der Europäischen Union seit 1990 den Hersteller im Schadensfall zwingen, seine Unschuld zu beweisen. Und dies kann er nur, wenn er nachweisen kann, daß er nach dem "Stand von Wissenschaft und Technik" gehandelt hat.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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