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Eskimo. Geschichte, Kultur und Leben in der Arktis.

Aus dem Englischen von Ilse Rothfuss.
Frederking & Thaler, München 1996.
160 Seiten, DM 49,80.

Mehr als andere Völker entlang des Nordrands der Welt, mehr auch als viele andere Völker der Erde haben die Eskimo die abendländische Welt seit je fasziniert. Außer der relativ großen Zahl eskimoischer Lehnwörter – meist aus dem Bereich der materiellen Kultur wie Iglu, Kajak oder Anorak – belegen dies Filme, schöne Literatur und Sachbücher zu diesem Thema. Der gut lesbar geschriebene und reich bebilderte Band des kanadischen Archäologen David Morrison und seines Landsmannes, des Journalisten Georges-Hébert Germain, reiht sich ein in die lange Liste populärer Literatur über "das Volk der Kälte" (französischer Untertitel) und bietet "Einblicke in eine arktische Vergangenheit" (englischer Untertitel).

Das Wort Eskimo kommt außer als Titel der deutschen Ausgabe im ganzen Buch nur dreimal vor: einmal als Bezeichnung der Sprachfamilie, zu der auch Inupik, die Sprache der Inuit, zählt, und zweimal dort, wo das Wort mit der angeblichen Bedeutung Rohfleischesser (tatsächlich wohl "Schneeschuhnetzer" und anfangs gar nicht auf die Bewohner der amerikanischen Arktis bezogen) übersetzt und durch die Selbstbezeichnung "Inuit" (so auch der englische und französische Originaltitel des Buches) ersetzt wird. Freilich ist diese nur in der östlichen und zentralen Arktis gebräuchlich und wird demgemäß als neuer Oberbegriff hauptsächlich von kanadischer Seite gefördert. Im Zentrum der Betrachtung stehen die kanadischen Copper Inuit; aber in Text und Bildlegenden werden auch alle Eskimogruppen, die nicht Inupik sprechen, zu Inuit gemacht.

In acht Abschnitten gelingt es den Autoren, die an die extremen Umweltverhältnisse angepaßte Lebensweise der Copper Inuit zu skizzieren und dabei auch auf die wesentlichsten Unterschiede zu anderen Eskimo zu verweisen. Jeder Abschnitt beginnt mit einer Szene aus der Geschichte eines fiktiven Eskimo-Ehepaars; daran gliedern sich mehr oder weniger zugehörige thematische Abschnitte über Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft, Religion und Sachkultur. Schneehaus und Schamanismus, Frauentausch und Kindstötung – alles, was zum Eskimobild der gebildeten Welt gehört, wird angesprochen und erklärt. Manche der Fragen und die dazu angebotenen Erklärungen sind – vielleicht aus didaktischen Gründen – etwas vereinfacht dargestellt. Das gilt zum Beispiel für die Tötung neugeborener Mädchen, deren Bedeutung die Wissenschaft ebenso kontrovers diskutiert wie die Frage, ob sie überhaupt in nennenswertem Ausmaß praktiziert wurde.

Wer von dem Archäologen Morrison Auskunft über die Urgeschichte der Eskimo erwartet, findet sie etwas versteckt am Ende des zweiten Kapitels, wo kurz auch die anderen zirkumpolaren Völker vorgestellt werden. Noch dürftiger und verstreut im ganzen Buch ist die Geschichte der Eskimo dargestellt; ein historischer Abriß auf den Seiten 154 bis 157 ist kursorisch und endet im 19. Jahrhundert. In dieser Hinsicht ist das Wort "Geschichte" im deutschen Untertitel recht irreführend.

Indem die Autoren in der Vergangenheitsform geschrieben haben, deuten sie an, daß die Kultur der Copper Inuit so, wie sie hier geschildert wird, nicht mehr existiert; sie drücken jedoch nirgendwo klar aus, auf welchen Zeitraum sich die Beschreibung bezieht. Daß die Kultur sich auch vor der technischen Moderne verändert hat, entnimmt man Phrasen wie "in früheren Zeiten". Wie die Copper Inuit und andere Eskimo heute leben, erfährt der Leser gar nicht.

Auch das Bildmaterial, das einen wesentlichen Reiz des Buchs ausmacht, verdient eine kritische Würdigung. Die Mehrzahl der Abbildungen sind Photos von Gegenständen aus den Sammlungen des Canadian Museum of Civilization in Hull (Québec), dem kanadischen Nationalmuseum für Ethnologie und Archäologie. In Ergänzung der Bildlegenden sind oft einzelne Teile der gezeigten Geräte benannt oder mit erklärenden Hinweisen versehen – eine nützliche und allzuselten anzutreffende Praxis. Eine zweite Gruppe von Bildern sind die meist bunten Zeichnungen des Illustrators und Trickfilmers Frédéric Back, die in manchmal etwas idealisierter Form Szenen aus einer Vergangenheit zeigen, als es noch keine Farbphotographie gab. Sie sind überall dort korrekt, wo der Künstler auf gute Vorlagen zurückgreifen konnte. War dies nicht der Fall, wie bei der Darstellung eines athapaskischen Überfalls auf die Copper Inuit im Jahre 1771 (Seiten 80 und 81), schleichen sich zuweilen erhebliche Fehler ein.

Der größte Teil der ethnographischen Farbphotos stammt freilich aus der zwölfstündigen filmischen Rekonstruktion des Lebens der Netsilik, Nachbarn der Copper Inuit, die deutschsprachigen Fernsehzuschauern in Form verschiedener Verschnitte bekannt geworden ist. Gerade weil die Bilder so eindringlich sind, ist ihre Verwendung nicht unproblematisch: Die meist fröhlichen Gesichter repräsentieren eine heile Inuit-Welt, wie der Text des Buches sie keineswegs nahelegt. Überdies ist es mit Photos von Netsilik in diesem Zusammenhang so, als würde das Leben im Schwarzwald durch Abbildungen aus Oberbayern illustriert. Dadurch unterlaufen die Bilder vielfach die Absicht des Textes, zwischen den verschiedenen eskimoischen Kulturen der Arktis zu differenzieren.

Bei aller Detailkritik ist das Buch durchaus empfehlenswert für jeden, der schon immer wissen wollte, wie die Eskimo (oder Inuit) wirklich lebten. Für weitergehende Interessen gibt es ausreichend speziellere Fachliteratur, auf die der vorliegende Band allerdings nicht verweist.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1997, Seite 115
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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