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Philosophie: Ethik des Embryonenschutzes - Ein rechtsphilosophischer Essay

Reclam, Stuttgart 2002. 136 Seiten, 3,60 €


Hat ein Embryo ein Recht auf Leben? Ist seine Tötung der Tötung eines Neugeborenen oder der eines erwachsenen Menschen gleichzustellen? Fragen dieser Art werden gegenwärtig in der Öffentlichkeit lebhaft diskutiert. Sie werden relevant im Kontext der Abtreibungsproblematik, aber auch der Embryonenforschung und der Präimplantationsdiagnostik (PID), bei der ein im Reagenzglas gezeugter Embryo vor seiner Implantation auf Erbkrankheiten getestet und, falls er diesen "genetischen Test" nicht besteht, unter Umständen getötet wird. Es ist die Aufgabe der philosophischen Ethik, sich dieser Fragen anzunehmen und in vorurteilsloser Abwägung der Argumente Stellung zu beziehen. Norbert Hoerster, profilierter, aber wegen seiner Ansichten zu Fragen wie Abtreibung und Sterbehilfe auch umstrittener Rechtswissenschaftler und Philosoph, tut dies im vorliegenden Büchlein in vorbildlicher Weise.

Der Embryo sei ein Mensch, und seine Tötung verstoße gegen das Prinzip der Menschenwürde – so das wohl verbreitetste Argument für das Lebensrecht des Embryos. Der Begriff der Menschenwürde sei jedoch, so Hoerster, selbst "normativ aufgeladen". Der Artikel des Grundgesetzes, der sie für unantastbar erklärt, drücke nichts weiter aus als eine moralische Einstellung. Die Berufung auf das Menschenwürdeprinzip begründe also nur eine moralische Einstellung mit einer anderen und sei daher inhaltsleer.

Zweifellos ist der Embryo in einem rein biologischen Sinne als Angehöriger der Gattung Homo sapiens ein Mensch. Aber wenn wir damit sein Lebensrecht begründen wollen, verwenden wir "Mensch" in einem mehr als biologischen, nämlich (auch) moralischen Sinne. Ob aber ein Embryo auch in diesem Sinne ein Mensch ist und ihm daher ein Lebensrecht zukommt, sei eine offene Frage, die wir nicht durch den Hinweis auf die biologischen Fakten als beantwortet ansehen können.

Eines aber scheint klar: Wenn wir dem Embryo ein Lebensrecht zusprechen, dann muss seine Tötung auch unter allen Umständen verboten sein und entsprechend mit Strafe bedroht werden. Vor diesem Hintergrund kritisiert Hoerster die geltende Abtreibungsregelung, die dem Embryo ein Lebensrecht zuzugestehen behauptet und gleichwohl eine Frühabtreibung nach erfolgtem Beratungsgespräch straffrei lässt, als doppelzüngig. Da nach der geltenden Beratungsregelung die Tötung des Embryos zwar als Unrecht bezeichnet, aber nicht als solches behandelt wird, sei es ein "reines Lippenbekenntnis", wenn das Bundesverfassungsgericht das Lebensrecht des Embryos betone.

Hoersters eigene Begründung für das Menschenrecht auf Leben basiert auf der Annahme, dass auf einer fundamentalen ethischen Ebene einzig das Überlebensinteresse eines Individuums als Grund für die Zuschreibung eines Lebensrechtes gelten kann. "Überlebensinteresse basiert auf einem (tatsächlichen oder mutmaßlichen) Wunsch eines Wesens W, der sich auf eine von W für die Zukunft erwartete Erfahrung bezieht ... [Das] setzt offensichtlich voraus, dass W in der Lage ist, sich selbst überhaupt als im Zeitablauf identisch zu erfahren, ... also über das verfügt, was wir als ein Ichbewusstsein bezeichnen können." Da ein Embryo das nicht hat, ist ihm auch kein Lebensrecht zuzusprechen.

Ausführlich geht Hoerster auf mögliche Einwände gegen diese Position ein. Mit der Koppelung des Lebensrechts an das Überlebensinteresse sei keineswegs ausgeschlossen, dass wir – wenngleich eher aus pragmatischen als aus fundamentalethischen Gründen – auch Säuglingen ein Lebensrecht zuzusprechen haben. Obwohl ein Mensch erst einige Zeit nach der Geburt ein Überlebensinteresse entwickelt, plädiert Hoerster für die Festlegung der Geburt als Grenzlinie für die Zusprechung eines Lebensrechtes, da eine Grenze nach der Geburt fatale Folgen für den Lebensschutz von Kindern hätte. Auch besagt seine Position nicht, dass wir den Embryo beliebig behandeln könnten. Schädigungen des Embryos sind auch auf der Basis einer Interessenethik zu verwerfen, weil damit der Mensch, zu dem sich der Embryo entwickelt, geschädigt werden kann.

Zudem gesteht Hoerster dem Embryo einen schlichten Lebensschutz zu; der gilt nicht ihm als Individuum, sondern ergibt sich daraus, dass wir Leben an sich wertschätzen und daher auch gegenüber dem Embryo Schutzpflichten haben. Dieser Lebensschutz ist aber Gegenstand einer möglichen Abwägung mit anderen Interessen; daher scheint Hoerster die Tötung des Embryos sowohl im Falle der Abtreibung als auch im Rahmen der Embryonenforschung und der PID moralisch legitim und ein strafrechtliches Verbot dieser Praktiken nicht begründbar.

Hoersters Abhandlung, die sich nicht nur an ein akademisches Fachpublikum richtet, besticht durch Klarheit der Darstellung, begriffliche Präzision und argumentative Genauigkeit. Hoerster will seine Gegner nicht pauschal diskreditieren, sondern intellektuelle Redlichkeit und argumentative Disziplin einfordern. Wer seine Abhandlung gelesen hat, wird in vielen öffentlich vorgetragenen Argumenten – beider Seiten – kaum mehr als rhetorische Leerformeln erblicken können.

Das heißt nicht, dass man Hoerster inhaltlich in allen Punkten zustimmen müsste. Möglicherweise gibt es jenseits der von ihm erwogenen religiösen oder metaphysischen Begründungen Argumente für die Zusprechung eines Lebensrechtes an den Embryo. Zudem bedürfen einige der Argumente, mit denen er Einwände gegen seine Position abwehrt, weiterer Diskussion. Vor allem wäre zu fragen, ob er den Einwand entkräften kann, dass nach seiner Position schwer Geisteskranken oder Menschen mit gewissen Krankheiten am Lebensende das Lebensrecht abgesprochen werden müsste.

Aber unabhängig davon, ob man Hoersters Positionen teilt oder nicht: Wer sich nicht damit begnügen will, eigene Emotionen und Vorurteile zur Grundlage seines moralischen Urteils zu machen, wem an Argumenten und rationaler Problemdiskussion gelegen ist, dem ist Hoersters Buch nachdrücklich zu empfehlen.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2003, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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