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Europäische Forschungs- und Technologiepolitik - Wirkungen in der Bundesrepublik

Eine Studie bewertet rückblickend, wie das zweite Rahmenprogramm der EU-Forschungspolitik die Förderung wissenschaftlicher Projekte auf nationaler Ebene beeinflußt hat. Deutsche Forschungseinrichtungen machten zunächst nur eingeschränkt, dann aber immer nachhaltiger Gebrauch von den Brüsseler Fördergeldern. Künftig wird die nationale noch besser mit der EU-Forschungspolitik abgestimmt werden müssen.

Wissenschaft, Forschung und technologische Entwicklung finden mehr denn je im internationalen Umfeld statt. Dessenungeachtet scheint die Forschungs- und Technologiepolitik weiterhin vorwiegend eine nationale Angelegenheit zu sein, wie es beispielsweise in der anhaltenden Debatte um den sogenannten Standort Deutschland zum Ausdruck kommt. Dabei wird jedoch leicht übersehen, daß die deutsche Forschungs- und Technologiepolitik längst und immer stärker in einen europäischen Rahmen eingebunden ist und daß die Kommission der Europäischen Union (EU) diesbezüglich eine eigenständige Politik betreibt, die auch hierzulande beträchtliche Wirkungen zeitigt. Dies belegt eine empirische Untersuchung, die das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung (ISI) für die EU-Kommission durchgeführt hat ("Europäische Technologiepolitik in Deutschland" von Guido Reger und Stefan Kuhlmann, Physica-Verlag, Heidelberg 1995).

Die EU-Forschungs- und Technologiepolitik, die im wesentlichen in den "Rahmenprogrammen im Bereich der Forschung und technologischen Entwicklung" zusammengefaßt ist, hat in Deutschland zunächst sehr langsam, dann immer schneller und stärker an Einfluß gewonnen: Noch bis Mitte der achtziger Jahre nur als Randphänomen wahrgenommen, wurde sie ab dem von 1987 bis 1991 laufenden zweiten und vor allem mit dem nachfolgenden dritten und dem vierten Rahmenprogramm immerhin zu einem mitbestimmenden Faktor in der deutschen Forschungslandschaft. Die Förderung bewirkte eigenständige, zusätzliche Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen in der Industrie und im industrieorientierten Forschungssystem. Dabei entwickelte sich eine – allerdings labile und sensible – Arbeitsteilung, die von den beteiligten Akteuren überwiegend akzeptiert wurde:

- Die EU konzentriert ihre Programme auf transnationale Aufgaben der Forschung. Sie will damit auch den gemeinsamen europäischen Markt schaffen helfen und die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie verbessern. Dazu sind Experten aus den Mitgliedsstaaten gehalten, ihr Wissen gemeinschaftlich einzubringen; es sollen bei aufwendigen Forschungsvorhaben durch Kooperationen Kosten gespart und gemeinsam EU-weite Normen und Standards erarbeitet werden.

- Das Bundesministerium für Forschung und Technologie (seit Februar 1995 mit dem Bildungsministerium vereinigt) fördert insbesondere die Grundlagen- und die Vorsorgeforschung sowie die langfristig orientierte Technologieentwicklung. Des weiteren sucht es – wie das Bundesministerium für Wirtschaft und die Bundesländer auch – die Innovationsfähigkeit der Wirtschaft aus nationaler beziehungsweiser regionaler Perspektive zu fördern. Die Bundesländer sind zudem zuständig für die Sicherung und Förderung der Wissenschaft an den Hochschulen in Abstimmung und in Arbeitsteilung mit dem Bund.

Was letztlich in den transnationalen Bereich der EU fällt und was nicht, ist durchaus interpretationsfähig und wird immer wieder politisch abgestimmt. Sehr deutlich ist dies in der Informationstechnik: Engagiert sich die EU so stark in diesem Bereich, weil die europäische Industrie nur durch gemeinschaftliche Anstrengungen Anschluß an die weltweiten Entwicklungen zu erringen vermag, oder weil vielmehr die Mitgliedsstaaten ihre eigentlich nationalen Aufgaben aus finanziellen Gründen an sie abgetreten haben?


Beteiligung deutscher Forscher

Im Vergleich zu anderen EU-Ländern erhält die Bundesrepublik in absoluten Zahlen zwar viel Forschungsförderung aus Brüssel; wegen der unterschiedlich aufgebauten Forschungssysteme nimmt sich der relative Anteil jedoch recht bescheiden aus: Die 1,3 Milliarden Mark an EU-Mitteln, die der Wirtschaft, den Universitäten und sonstigen Forschungseinrichtungen in Deutschland von 1987 bis 1991 – der Gültigkeitsdauer des zweiten Rahmenprogramms – zugeflossen sind, entsprechen einem Anteil von 0,5 bis 1,9 Prozent an den jeweiligen gesamten Forschungsausgaben (Bild 1).

Das deutsche Engagement an EU-Programmen ist indes auch nicht sehr ausgeprägt: Im zweiten Rahmenprogramm wurden lediglich 2108 Beteiligungen von Forschern registriert. Und obgleich es in Westdeutschland schätzungsweise 20000 kleine und mittlere Unternehmen gibt, die innovativ tätig sind, haben sie lediglich 166mal an EU-Projekten teilgenommen. Großunternehmen waren immerhin stärker vertreten, wenn auch mit sehr unterschiedlicher Häufigkeit: Allein auf zehn von ihnen entfällt mehr als die Hälfte der insgesamt 660 Beteiligungen in dieser Gruppe (Bild 2).

Das Interesse deutscher Forscher an einer Förderung über die EU hat allerdings seither deutlich zugenommen, weil die staatliche Forschungsfinanzierung weitgehend stagniert, teilweise sogar schrumpft. Doch auch wenn die europäischen Programme manches Projekt ermöglichen können, das ansonsten nicht finanzierbar wäre, so ist eine vollständige Kompensation fehlender staatlicher Mittel durch die EU weder realistisch noch wünschenswert.


Abstimmung der Forschungs- und Technologiepolitik

Verglichen mit anderen EU-Mitgliedsstaaten ist die Bundesrepublik lange sehr zurückhaltend mit der Gestaltung der europäischen Forschungspolitik umgegangen. Erst seit wenigen Jahren hat die Bundesregierung ihren Einfluß stärker geltend gemacht und begonnen, das Erfordernis einer Abstimmung zwischen EU-Maßnahmen und nationaler Forschungspolitik ernst zu nehmen.

Eine besondere Rolle spielen dabei die Bundesländer, die nach Artikel 30 des Grundgesetzes für Wissenschaft und Forschung zuständig sind. Im Laufe der letzten Jahre und Jahrzehnte hatte sich in langwierigen Auseinandersetzungen zwischen dem forschungspolitisch erstarkenden Bund und den von einem rasanten Ausbau des Hochschulwesens stark beanspruchten Bundesländern eine labile Arbeitsteilung ergeben, die nun angesichts der Abstimmungserfordernisse der EU-Forschungs- und Technologiepolitik gefährdet scheint: Die Länder sehen sich von Entscheidungen der EU-Kommission nachhaltig betroffen, fühlen sich dort aber nicht hinreichend repräsentiert. Zwar haben sie inzwischen neben dem Bund einen eigenen Repräsentanten in Brüssel, doch dieser muß die undankbare und problematische Aufgabe meistern, gleichzeitig die Interessen und Positionen der 16 verschiedenen Bundesländer zu vertreten.


Gestaltung der Förderung

Die Wissenschaftsorganisationen in Deutschland (insbesondere Deutsche Forschungsgemeinschaft, Max-Planck-Gesellschaft, Hochschulrektorenkonferenz und Wissenschaftsrat) befürchten, daß mit einem weiteren Bedeutungsgewinn der europäischen Forschungspolitik die bewährten Prinzipien und Mechanismen der Selbstorganisation der Wissenschaft in der Bundesrepublik, die es in dieser ausgeprägten Form in anderen EU-Mitgliedsländern nicht gibt, ausgehöhlt werden; dies vor allem, weil die Projektförderung, wie sie für die EU-Programme typisch ist, viel stärker als die institutionelle Förderung der Forschung nach eher politischen als wissenschaftsimmanenten Kriterien gestaltet wird. Um dem entgegenzuwirken, haben sie vorgeschlagen, die Prinzipien der Selbstorganisation des Wissenschaftssystems möglichst europaweit zu etablieren. So könnte etwa eine wissenschaftliche Stiftung auf EU-Ebene einerseits im Bereich der Grundlagenforschung mit Hilfe von Fach- und Programmausschüssen Projekte bewilligen und Fördermittel verteilen und andererseits in gemeinsamen Ausschüssen zusammen mit Industrievertretern die EU bei der Konzeption wirtschaftsorientierter Programme zur Förderung der anwendungsorientierten Forschung beraten.

Auch den Umstand, daß nur ein kleiner Teil der bei den EU-Programmen eingereichten Anträge bewilligt werden kann, sehen viele forschungs- und technologiepolitische Akteure in Deutschland eher kritisch; häufig seien, so klagen sie, die Programme noch nicht hinreichend fokussiert und die Ausschreibungen nicht spezifisch genug, wodurch eine an sich vermeidbare Antragsflut produziert werde.

Des weiteren befürchten deutsche Forscher, daß mit der zunehmenden Bedeutung der europäischen Förderung sich entsprechende Aufgaben und Kompetenzen zu sehr im politisch-administrativen System der EU konzentrierten. Sie sind besorgt, daß die an sich akzeptablen Planungs-, Entscheidungs- und Kontrollverfahren der EU-Forschungsadministration unüberschaubar und letztlich ineffektiv werden könnten. Deshalb haben sie angeregt, die Institutionen und Verfahren der europäischen Forschungs- und Technologiepolitik zu dezentralisieren; ungeklärt bleibt dabei bisher, ob dies sich lediglich auf die Administration von (Teil-)Programmen erstrecken oder auch die politischen Willensbildungsprozesse mit einbeziehen soll.

Um den anfangs zögernden Gebrauch vom Angebot der europäischen Forschungs- und Technologieförderung in Deutschland zu erhöhen, entstand in den letzten fünf Jahren eine breite und differenzierte Infrastruktur von Institutionen, die an die EU-Förderung heranführen sollen: Dazu zählen die Lobbyisten der Industrie in Brüssel ebenso wie die "Koordinierungsstelle EU der Wissenschaftsorganisationen (KoWi)", die Euro-Info-Centers für die Wirtschaft, die EU-Beratungsstellen bei den Industrie- und Handelskammern und anderen Organisationen der Wirtschaft sowie die EU-Referenten an Hochschulen und die Kontaktstellen der Bundesländer in Brüssel. Zudem wurden an bestimmten Forschungsinstituten sogenannte EU-Stabsstellen etabliert, die Informationsfluß und Einflußnahme zwischen (potentieller) Klientel und EU-Administration verbessern sollen (so etwa in Baden-Württemberg). Auch die EU-Kommission selbst hat Verbindungsbüros für Forschung und Technologie eingerichtet, die in einem europäischen Netzwerk zusammenarbeiten.

Es ist durchaus zu erwarten, daß beide Tendenzen – die kaum vermeidbare Dezentralisierung eines Teiles des europäischen Förderungsapparates sowie die Bildung deutscher EU-Beratungseinrichtungen – sich schließlich zusammenfügen und ein tragendes Element eines neuen europaweiten institutionellen Gefüges der Forschungs- und Technologieförderung bilden werden.

Die ISI-Studie zeigt, daß die Erwartungen an die EU-Forschungs- und Technologiepolitik in Deutschland deutlich gestiegen sind. Aus Sicht der Wissenschaftler und Forscher erfolgen europaweite Forschungskooperationen und ihre Förderung durch die EU längst als eigendynamische Prozesse. Diese Entwicklung ist nicht mehr umkehrbar – es kommt nun darauf an, sie verantwortlich zu gestalten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1995, Seite 119
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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