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Europäische Währungsunion - Bestandaufnahme und Kritik

Der Übergang zu einer einheitlichen Währung in Europa gestaltet sich schwieriger, als 1992 von den Verfassern und Unterzeichnern des Vertrages von Maastricht erwartet. Die damals festgelegten Kriterien für die letzte Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion verursachen heute ein Dilemma zwischen politischem Kalkül und ökonomischer Vernunft.

Nach dem Gipfeltreffen der europäischen Staats- und Regierungschefs in Dublin im Dezember 1996 dürften auch die bisherigen Zweifler eines pünktlichen Beginns der Europäischen Währungsunion ihre Erwartungen revidiert haben: In Dublin hat nämlich die Politik über den Start der gemeinsamen Währung in Europa entschieden. Dieses Projekt ist eben nicht primär ökonomisch motiviert, sondern vorwiegend politisch – ungeachtet seiner wirtschaftlichen Bedeutung und der Erfüllung einiger ökonomischer Vorbedingungen, denen die potentiellen Mitglieder genügen sollen.

Die große Mehrheit der Bevölkerung mag wenig mit dem Begriff Europäische Währungsunion (EWU) anfangen können. Hingegen löst der Kunstname Euro als Bezeichnung des neuen gemeinsamen Geldes positive wie negative Erwartungen aus. Dieser Euro soll nun – mit der Untereinheit Cent – spätestens am 1. Juli 2002 alleiniges Zahlungsmittel in der EWU sein. Die Währungsunion mit ihrer gemeinsamen Geldpolitik, implementiert durch das System der Europäischen Zentralbanken – nachfolgend stets Europäische Zentralbank (EZB) genannt –, startet nach dem im Vertragswerk von Maastricht vorgegebenen zeitlichen Fahrplan jedoch bereits am 1. Januar 1999 (Bild 1).

Eine Währungsunion besteht nämlich schon dann, wenn die beteiligten Staaten vereinbaren, ihre Währungshoheit dadurch aufzugeben, daß die Wechselkurse zwischen ihren nationalen Währungen unwiderruflich und ohne Schwankungsbreiten fixiert werden. Bereits diese Entscheidung erfordert die Gründung einer einzigen alleinverantwortlichen Notenbank. Der Übergang zu einem gemeinsamen Geldzeichen bei Abschaffung der bisherigen nationalen Währungszeichen ist lediglich der symbolisch endgültige Übergang zu einem einheitlichen Währungsgebiet.

Die Geldpolitik

Die für das Gelingen der Währungsunion entscheidende Frage lautet: Wie stabil wird das europäische Geld, der Euro, sein? Die vorrangige Aufgabe der Europäischen Zentralbank ist, die "Preisstabilität zu sichern". An dem Vertragstext fällt indes auf, daß er die Preisstabilität nicht numerisch vorgibt, so als wäre sie mit jeder beliebigen Inflationsrate vereinbar. Was letztlich darunter zu verstehen ist, erschließt sich allein aus dem Geist des Vertrages.

Es sei jedoch der Europäischen Zentralbank der Wille unterstellt, eine strikte und dauerhafte Geldwertstabilität zu gewährleisten, etwa in der Größenordnung einer Preisniveau-Steigerungsrate von maximal zwei Prozent. Ob sich eine solch durchaus ehrgeizige Vorgabe verwirklichen ließe, wird entscheidend davon abhängen, welche geldpolitische Strategie die Europäische Zentralbank verfolgen wird.

Doch was bedeutet überhaupt Geldpolitik? Die Preisstabilität läßt sich nicht effizient direkt steuern, weil die eingesetzten geldpolitischen Instrumente sich nur über eine lange Kette von Zwischenwirkungen und damit auch nur verzögert auswirken können. Eine Zentralbank muß deshalb ihr Handeln auf eine schnell beobachtbare monetäre Größe ausrichten, die sie hinlänglich genau zu kontrollieren vermag und die relativ verläßlich mit dem eigentlichen Ziel der Preisstabilität kausal verknüpft ist. Sie muß also ein geldpolitisches Zwischenziel auswählen. Theoretischen Überlegungen und empirischen Erfahrungen zufolge ist die Steuerung eines Geldmengenaggregates allen alternativen geldpolitischen Strategien überlegen; denn eine Inflation entsteht dann und nur dann, wenn die gesamtwirtschaftliche Geldmenge schneller wächst als die Produktionsmöglichkeiten der Volkswirtschaft.

Weil nun eine quantitative Vorgabe des Stabilitätszieles und damit eine überprüfbare Selbstbindung der Europäischen Zentralbank fehlt, hängt die europäische Anti-Inflationspolitik letztlich allein von dem nicht-einklagbaren Verhalten der Entscheidungsträger der Zentralbankgremien ab. Was also kann diesen elitären Personenkreis dazu bewegen, eine restriktive Geldpolitik zu verfolgen, die im Geiste des Vertrages die Preissteigerungsrate auf maximal zwei Prozent begrenzt? Die Leistung der Europäischen Zentralbank insgesamt wird davon beeinflußt, ob die geldpolitischen Entscheidungsträger sich einen Reputationsgewinn von einer stringenten Politik der Preisniveaustabilität erhoffen oder ob sie als ernannte Vertreter eines EWU-Mitgliedsstaates in erster Linie die öffentliche Meinung ihrers Heimatlandes vertreten.


Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank?

Das im Vertragswerk von Maastricht vorgegebene Ziel der Preisstabilität ist nur eine notwendige Bedingung für eine Politik des stabilen Euro, aber keine hinreichende, weil das sich tatsächlich einstellende Ergebnis von dem Entscheidungsspielraum der geldpolitischen Akteure abhängt. Anders formuliert: Wie unabhängig sind die monetären Entscheidungsinstanzen, dem Vertragstext zu entsprechen? Die Autonomie muß zumindest drei Kriterien erfüllen: Die Europäische Zentralbank muß funktionell, personell und instrumentell unabhängig sein.

Funktionelle Unabhängigkeit bedeutet, daß die Europäische Zentralbank allein verantwortlich ist für die Geldpolitik und die langfristige Stabilität des Preisniveaus in der Union. Zunächst müssen die Mitglieder der EZB-Entscheidungsgremien weisungsungebunden sein gegenüber den Regierungen der Mitgliedsländer, der Europäischen Kommission und dem Europäischen Rat. Dieses Kriterium ist formal erfüllt. Des weiteren muß die Europäische Zentralbank von jeglicher Unterstützung der Wirtschaftspolitik der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsländer entbunden sein. Diese Autonomie ist freilich eingeschränkt, denn dem Vertragstext zufolge unterstützt die europäische Notenbank, "soweit dies ohne Beeinträchtigung des Zieles der Preisstabilität möglich ist, ... die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft, um zur Verwirklichung der ... festgelegten Ziele der Gemeinschaft" – wie beispielsweise ein hohes Beschäftigungsniveau, ein hohes Maß an sozialem Schutz und die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten – beizutragen. Diese Formulierung ermöglicht Rat und Kommission der Europäischen Union im Prinzip, Einfluß auf die Europäische Zentralbank zu nehmen, wodurch Konflikte nicht von vornherein auszuschließen sind.

Die personelle Unabhängigkeit betrifft Auswahl und Ernennung der Mitglieder der Zentralbank-Beschlußorgane. Wichtigste Kriterien hierfür sollten fachliche Kompetenz und Widerstandsfähigkeit gegenüber politischer Einflußnahme sein. Doch ist nicht auszuschließen, daß die ernennenden Regierungen ihnen politisch nahestehende Personen auswählen; solche, von denen sie die Durchsetzung nationaler geldpolitischer Präferenzen erwarten.

Schließlich heißt instrumentelle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank, daß sie allein über alle Maßnahmen entscheidet, mit denen sie die Geldbasis und damit die relevante gesamtwirtschaftliche Geldmenge zu steuern vermag. Zu begrüßen ist vor allem, daß es untersagt ist, staatliche Ausgaben direkt oder indirekt durch die Europäische Zentralbank finanzieren zu lassen, weil damit die Mitgliedsstaaten mit ihren Finanzierungsbedürfnissen nicht deren Geldpolitik unterlaufen können.

Leider gewährleistet das Vertragswerk nicht die volle institutionelle Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank. Die Wechselkurshoheit verbleibt nämlich bei dem Rat und der Kommission der EU. Will beispielsweise der Rat eine Aufwertung des Euro verhindern, so wird die Europäische Zentralbank zu Ankäufen der abwertenden ausländischen Währung gezwungen und zwar durch Schaffung des eigenen Geldes – mit der Folge, daß die Geldmenge in der Währungsunion und damit die Inflation steigt. Dies ist ein gravierender Mangel in den Vereinbarungen von Maastricht. Auf einer regierungspolitisch motivierten Wechselkurspolitik beharrt vor allem Frankreich. Die Mehrheit der Nationalökonomen hingegen fordert, die Wechselkurshoheit in die Zuständigkeit der Europäischen Zentralbank zu geben.


Die Fiskalpolitik

Die Diskussion über die Schaffung der EWU konzentriert sich ferner auf die Disziplin der nationalen Budget- und Verschuldungspolitiken der potentiellen Mitgliedsstaaten. Fiskalpolitik wird also hier verstanden als schuldenfinanzierte Ausgabenpolitik. Es wird gemutmaßt, inwieweit die fiskalpolitische Konvergenz der Länder voranschreitet, das heißt welche Länder durch Erfüllen der viel diskutierten fiskalischen Konvergenzkriterien mit der Aufnahme in die Währungsunion rechnen können: Die laufende Neuverschuldung darf drei Prozent, die Gesamtverschuldung des Staates 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten.

Eine nationale Budgetdisziplin in der EWU ist erforderlich, weil ein Mitgliedsland, das seine Schulden nur unter Schwierigkeiten zu bedienen vermag, den Zielen der Währungsunion entgegenstehen würde. Die Europäische Zentralbank könnte sich in diesem Falle genötigt sehen, die Finanzprobleme des hoch verschuldeten Landes zu lindern, indem sie dessen Haushaltsdefizite direkt monetär finanziert oder dessen Staatsschuldtitel auf dem Wertpapiermarkt im Rahmen ihres Instrumentes der (definitiven) Offenmarktgeschäfte erwirbt und hierdurch dem betreffenden Staat Zinsvorteile verschafft. Weiterhin könnte die Europäische Zentralbank sich veranlaßt sehen, eine höhere Inflationsrate in Kauf zu nehmen, um die reale Schuldenlast der hoch verschuldeten Länder zu mindern. Schließlich ist nicht ausgeschlossen, daß die Gemeinschaft mittels direkter oder indirekter Transfers für die Schulden der Mitgliedsländer aufkommt, wenn der Bankrott und das Ausscheiden eines Staates aus der Währungsunion nicht nur erhebliche ökonomische, sondern auch politische Kosten für die Gemeinschaft implizieren würde.


Die fiskalpolitischen Regelungen der Maastrichter Vereinbarungen

Um den fiskalpolitischen Problemen, mit denen nach dem Übergang zur Währungsunion gerechnet werden muß, zu begegnen, sehen die Maastricht-Vereinbarungen verschiedene institutionelle Regelungen vor. Hierzu zählen das Verbot der monetären Finanzierung von Staatsdefiziten ebenso wie die Verpflichtung der Europäischen Zentralbank zur Preisstabilität, um die Gefahr der realen Entwertung der Staatsschulden durch eine inflationäre Geldmengenpolitik abzuwehren. Hinzu kommen vor allem:

- Der Haftungsausschluß (no-bail-out-Klausel), der untersagt, daß die Gemeinschaft für die Verbindlichkeiten der öffentlichen Haushalte eintritt; ebenso haften die Mitgliedsländer nicht untereinander.

- Das Sanktionsverfahren bei einem übermäßigen Defizit. Die Kommission überwacht die Haushaltspolitiken der Länder und prüft die Haushaltsdisziplin anhand jener Kriterien, die auch für die Teilnahme an der Währungsunion gelten. Dabei sind die Obergrenzen von drei beziehungsweise 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Neu- und Gesamtverschuldung – sowohl in der Eigenschaft als Eintrittskriterien als auch für die Zeit nach Gründung der Währungsunion – nicht strikt auszulegen; es genügt, wenn das laufende Defizit "erheblich und laufend zurückgegangen ist und einen Wert in der Nähe des Referenzwertes erreicht hat" und die relative Gesamtverschuldung "hinreichend rückläufig ist und sich rasch genug dem Referenzwert nähert". Sollten diese Kriterien nicht erfüllt sein, so schließt sich ein abgestuftes Sanktionsverfahren der Kommission an, das von Empfehlungen zur Defizitreduzierung, über die Veröffentlichung der Empfehlungen bis hin zum Verhängen von Geldbußen für das Hochdefizitland reicht.

Die fiskalischen Regelungen des Maastricht-Vertrags sind seit einiger Zeit heftiger Kritik ausgesetzt. Vor allem wird bemängelt, daß der Haftungsausschluß der Gemeinschaft für Schulden der Mitgliedsstaaten in einer direkten Konkurrenzbeziehung zu dem Inhalt von Artikel 103a des in Maastricht revidierten und ergänzten Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EGV) steht; dieser Artikel sieht finanziellen Beistand der Gemeinschaft vor, sollte ein Mitgliedsland "aufgrund außergewöhnlicher Ereignisse, die sich seiner Kontrolle entziehen, von Schwierigkeiten betroffen oder von gravierenden Schwierigkeiten ernstlich bedroht" sein. Des weiteren legt Artikel 2 EGV fest: "Aufgabe der Gemeinschaft ist es, ... den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt und die Solidarität zwischen den Mitgliedsstaaten zu fördern". Die Plazierung dieses Artikels in dem Abschnitt "Grundsätze" des EGV verstärkt noch die Unglaubwürdigkeit der no-bail-out-Regel. Offenbar ist die Europäische Union gewissermaßen als Solidargemeinschaft angelegt, was deutlicher noch in dem Ausbau der gemeinschaftlichen Transfermechanismen (Struktur- und Kohäsionsfonds) zum Ausdruck kommt. Opportunistisches Verhalten wird damit nicht nur nicht bestraft, sondern indirekt sogar gefördert, weil hoch verschuldete Länder bei anhaltend hohen Haushaltsdefiziten mit weiteren Transfers rechnen können.

Zu dem Sanktionsverfahren bei einem übermäßigen Defizit ist kritisch anzumerken, daß seine Verbindlichkeit durch den weiten Ermessensspielraum ("erheblich und laufend zurückgegangen", "Nähe des Referenzwertes") weitgehend außer Kraft gesetzt wird. Zudem erfolgen die Sanktionen nicht automatisch, sondern die Kommission kann sie jeweils sozusagen nach ihrem Gusto handhaben.

Wegen der Ineffizienz der bestehenden fiskalpolitischen Regelungen wurden alternative beziehungsweise ergänzende Regeln oder Institutionen diskutiert, die schließlich 1995 in dem Vorschlag des Bundesfinanzministeriums gipfelten, einen "Stabilitätspakt" zu schließen. Demnach sollte sich die Neuverschuldung je nach konjunktureller Lage zwischen einem und maximal drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts bewegen. Würde diese Grenze überschritten, soll ein Sanktionsmechanismus einsetzen, nach dem der betreffende Staat je angefangenem weiteren Prozentpunkt eine temporäre unverzinsliche Einlage von 0,25 Prozent des BIP zu hinterlegen hätte. Diese sogenannte Stabilitätseinlage würde nach Ablauf von zwei Jahren in eine Geldbuße umgewandelt, die in den Haushalt der Europäischen Gemeinschaft einflösse, wenn die Neuverschuldungsgrenze weiterhin verfehlt würde.

Beim Treffen des Europäischen Rates in Dublin wurde nun schließlich beschlossen, die Maastrichter Fiskalregeln durch einen "Pakt für Stabilität und Wachstum" zu ergänzen. Dieses Abkommen besteht aus noch auszuarbeitenden Verordnungen sowie einer Entschließung des Rates zur "feierlichen politischen Verpflichtung" der strikten Anwendung dieses Paktes. Die Verordnungen – vorgesehen als Sekundärrecht und nicht als Änderung der Maastricht-Verträge – sollen zwar die kritische Defizithöhe genauer präzisieren und das Verfahren bei einem übermäßigen Defizit festlegen und beschleunigen; eine Sanktionsautomatik im Sinne des Vorschlags aus dem deutschen Finanzministerium ist allerdings nicht vorgesehen. Sowohl die Feststellung eines übermäßigen Defizits als auch das Zustandekommen von Sanktionen wird Gegenstand des politischen Prozesses bleiben.

Die wesentliche Schwäche dieses Paktes ist die fehlende Glaubwürdigkeit der Durchsetzung seiner Inhalte, die letzlich nur durch eine strikte Regelbindung der Fiskalpolitik hätte erreicht werden können. Hinzu kommt die rechtliche Unverbindlichkeit der Regeln. Der Pakt ist lediglich als Selbstbindung autonomer Staaten mit dem Bekenntnis zu solider Fiskalpolitk anzusehen und nicht als eine völkerrechtlich verbindliche und damit einklagbare Vereinbarung. Eine Verletzung dieser Selbstverpflichtungen unterliegt damit nicht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes. Die Glaubwürdigkeit des Stabilitätspaktes würde hingegen gestärkt, wenn er als zusätzliches, ergänzendes Protokoll in die Maastrichter Vereinbarungen aufgenommen würde.

Aus all diesem läßt sich folgern, daß fiskalpolitische Regelungen offensichtlich nur dann effektiv und glaubwürdig sein können, wenn sie einhergehen mit der Abgabe oder Übertragung ehemals autonomer fiskalpolitischer Hoheitsrechte der einzelnen Mitgliedsstaaten. Zumindest für den Bereich der Fiskalpolitik ergibt sich damit gleichzeitig eine Begründung der These, daß eine Währungsunion ohne eine flankierende politische Union – in diesem Falle durch den Verzicht auf nationale fiskalpolitische Kompetenzen – langfristig nicht erfolgreich sein kann.


Fehlende Konvergenz in Europa

Die fiskalpolitischen Probleme der Mitgliedsstaaten der Europäischen Union werden augenfällig, vergegenwärtigt man sich die Entwicklung der öffentlichen Gesamtverschuldung beziehungsweise diejenige der nationalen Budgetsalden (Bilder 2, 3 und 4).

Im Jahre 1996 erfüllten nur Frankreich, Großbritannien und Luxemburg das Kriterium der Staatsverschuldung von maximal 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Besonders problematisch ist die Situation in Belgien, Italien und Griechenland mit einer relativen Gesamtverschuldung von mehr als 100 Prozent; die Schuldenlast dieser Länder ist damit höher als ihre gesamtwirtschaftliche Leistung in einem Jahr. Entsprechend eng ist der künftige fiskalpolitische Gestaltungsspielraum, denn die laufenden Zinszahlungen belasten den jährlichen Staatshaushalt.

Eine hohe Staatsverschuldung geht zumeist mit einem hohen Haushaltsfehlbetrag einher. Im vergangenen Jahr haben nur Dänemark, Irland, Luxemburg und die Niederlande die Obergrenze von drei Prozent eingehalten. Das hohe Staatsdefizit Frankreichs und vor allem die neuesten Zahlen für Deutschland haben die Öffentlichkeit aufgeschreckt. Infolge der sich abschwächenden Konjunktur und der damit verbundenen Minderung der Steuereinnahmen stieg das Haushaltsdefizit in der Bundesrepublik nach Schätzung der EU-Kommission 1996 auf vier Prozent.


Starttermin verschieben oder fiskalpolitische Kriterien aufweichen?

Das entscheidende Jahr auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion ist 1998. Dem festgelegten Zeitplan zufolge entscheidet Anfang 1998 der Europäische Rat, welche Länder die Voraussetzungen für die gemeinsame Währung erfüllen. Diese Entscheidung soll "so früh wie möglich" auf Basis der "Ist-Daten" des Jahres 1997 erfolgen.

Die so ausgewählten Staaten sind vertraglich verpflichtet, in die Währungsunion einzutreten. Dieser Automatismus gilt allerdings nicht für Großbritannien und Dänemark, die ihre Teilnahme durch eine sogenannte opting-out-Klausel offengehalten haben. Die Bildung einer Währungsunion in Europa ist ökonomisch nur dann sinnvoll, wenn sich eine größere Anzahl von EU-Mitgliedsländern qualifiziert, um die Vorteile einer gemeinsamen Währung wie etwa den Wegfall von Umtauschkosten und Wechselkursrisiken auszuschöpfen. Vorbedingung ist freilich auch, daß sowohl Deutschland als auch Frankreich sich für die Währungsunion qualifizieren müssen, um eine ausreichend hohe ökonomische und politische Substanz für die gemeinsame Währung zu gewährleisten.

Allerdings ist zu bezweifeln, daß beide Länder 1997 unterhalb der Marke von drei Prozent für das Haushaltsdefizit bleiben werden. Weiterhin ist die Teilnahme von Staaten wie Österreich, Irland, Dänemark und den Niederlanden – bei strenger Auslegung der Eintrittskriterien – nur dann möglich, wenn diese ihren jeweiligen Gesamtschuldenstand auf die Obergrenze von 60 Prozent des Bruttoinlandsprodukts reduzieren können; dazu müßten sie jedoch 1997 zum Teil erhebliche Haushaltsüberschüsse erzielen. Als Maßnahmen böten sich zwar Steuererhöhungen und Senkung der Staatsausgaben an, doch würde ein solches Vorgehen die Konjunktur in den europäischen Kernländern weiter dämpfen.

Wenn alle Eintrittskriterien tatsächlich strikt eingehalten werden sollen, ist somit kaum mit einer ausreichenden Anzahl von Teilnehmern an der Währungsunion 1998 zu rechnen. Daraus ergeben sich zwei unmittelbare Konsequenzen: Entweder wird der Beginn der letzten Stufe der Währungsunion solange verschoben, bis die Kriterien erfüllt sind, oder die Währungsunion beginnt planmäßig Anfang 1999, aber mit gelockerten Eintrittskriterien. Die erste Variante wäre die ökonomisch sinnvolle Vorgehensweise, die zweite ergäbe sich aus dem politischen Kalkül. Das Dilemma, zwischen diesen beiden Möglichkeiten wählen zu müssen, ist kennzeichnend für die Maastrichter Vereinbarungen.

Eine großzügige Auslegung der Fiskalkriterien, also die Teilnahme von EU-Staaten mit hohen Staatsdefiziten (oder hohen Schuldenständen) würde den stabilitätspolitischen Risiken der Europäischen Währungsunion Vorschub leisten. Höhere Inflationsraten und Zinsen, möglicherweise der Ausbau der innergemeinschaftlichen Transfersysteme sowie ein gegenüber Dollar und Yen schwacher Euro mit Kapitalabwanderung wären als Folgen nicht auszuschließen.

Der politische Nutzen einer Aufweichung der Kriterien und einer möglichst großen Teilnehmerzahl wird vor allem in der integrationsstiftenden Wirkung der Währungsunion gesehen. Vorreiter und Katalysator für die politische Integration soll eine weitgehende ökonomische Integration in Europa sein. Hierbei wird verkannt, daß eine instabile Währungsunion oder gar ihr mögliches Scheitern der politischen Integration letzlich erheblich schaden würde.

Durch eine Verschiebung des Starttermins wäre es möglich, ohne Termindruck die erforderliche fiskalpolitische Konvergenz in Europa voranschreiten zu lassen. Zudem könnten vor allem die hoch verschuldeten Länder unter Beweis stellen, daß sie die Kriterien nicht nur als Qualifikationshürden ansehen, sondern ihre Defizit- und Verschuldungspolitik mittelfristig tatsächlich grundlegend ändern. Das oft vorgebrachte Argument, ein Verschieben des Maastrichter Terminplanes würde den gesamten weiteren europäischen Integrationsprozeß gefährden, ist kaum stichhaltig. Integrationsfortschritte sollten zunächst im politischen Bereich angestrebt werden.

Somit wird deutlich, daß der in den Maastricht-Vereinbarungen verankerte Automatismus auf dem Weg zur Europäischen Währungsunion eine ungewollte Brisanz entstehen läßt. Das Dilemma besteht in dem politischen Postulat einer gleichzeitigen Erfüllung dreier Kriterien: das Festhalten an dem Maastricht-Fahrplan, das Einhalten der Aufnahmekriterien sowie ein möglichst großer Teilnehmerkreis schon zu Beginn der Währungsunion. Eine ökonomisch sinnvolle Entschärfung dieses Dilemmas läge in der Verschiebung des Starttermins unter Bewahrung des politischen Drucks zur weiteren wirtschaftlichen Konvergenz in Europa.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 98
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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