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Evolution und Anpassung. Warum die Vergangenheit die Gegenwart erklärt


Diese Festschrift ehrt den Göttinger Anthropologen, Primatenforscher und Soziobiologen Christian Vogel zu seinem 60. Geburtstag. Sie ist wie die meisten Festschriften ein bunter wissenschaftlicher Blumenstrauß, zu dem Kollegen, Freunde und Schüler beigetragen haben.

Der soziobiologischen Theorie zufolge programmiert die biotische Evolution alle Organismen auf die Verbreitung eigener Gene. Anwendungen dieser Theorie auf menschliches Verhalten bilden den thematischen Schwerpunkt der Festschrift. Die Vergangenheit, welche die Gegenwart erklären soll, ist die der menschlichen Spezies.

Nicht alle Beiträge erklären menschliches Verhalten mit dieser Theorie vom "egoistischen Gen". Der Kieler Bevölkerungswissenschaftler Hans W. Jürgens erteilt ihr eine deutliche Absage: Versuche, den Bevölkerungsprozeß entwickelter Gesellschaften biologisch zu erklären, seien gescheitert; menschliche Fruchtbarkeit sei "heute im wesentlichen ein soziales und kein biologisches Phänomen". Der Herausgeber, der Göttinger Anthropologe Eckart Voland, und andere Angehörige des harten Kerns deutscher Soziobiologen zeigen sich in ihren Beiträgen jedoch entschlossen, menschliches Handeln durch den Fortpflanzungserfolg der Handelnden zu erklären.

Bietet eine Redaktion die Besprechung eines Buches zur Soziobiologie des Menschen einem Soziologen an, erhofft sie sich vermutlich Streit (vergleiche "Soziobiologie des Menschen – Wissenschaft oder Ideologie?" von Hansjörg Hemminger, Spektrum der Wissenschaft, Juni 1994, Seite 72, und die Leserbriefe in dieser Ausgabe). Viele Geistes- und Sozialwissenschaftler wittern bei biologischen Erklärungen menschlichen Verhaltens sofort Unrat, etwa Sexismus und Rassismus. Einige biologische Verhaltensanthropolog(inn)en betreten daher wie die in Kalifornien lehrende Sarah B. Hrdy das Universitätsgebäude nur noch "auf Zehenspitzen", unausgesetzt versichernd, daß sie keine Faschisten seien. Sozialwissenschaftler bekämpfen biologische Verhaltenserklärungen auch als Konkurrenz ihrer eigenen Erklärungen.

Dieser seit Jahrzehnten geführte Streit um "Erbe oder Umwelt" ist unfruchtbar. Die Soziobiologie erklärt Ausleseprozesse in der Evolution der Organismen. Ihren eigenen Voraussetzungen zufolge endet ihr Erklärungsanspruch bei den genetischen Vorprogrammierungen des Verhaltens. Und hier erst beginnen individuelle und kulturgeschichtliche Verhaltensanpassungen. Psychologische und sozialwissenschaftliche Verhaltenserklärungen knüpfen folglich an verhaltensbiologische an.

Lust- und Unlustgefühle, mit denen Psychologen menschliches Tun und Lassen erklären, sind zweifellos durch den Egoismus der Gene vorprogrammiert. Die Gene programmieren Menschen jedoch nicht darauf, ihren Fortpflanzungserfolg zu maximieren, sondern Lust zu suchen und Unlust zu meiden. Ob der Lustgewinn im aktuellen Fall fitnessträchtig ist oder nicht, das spielt für das Verhalten überhaupt keine Rolle. Geschlechtsverkehr mit Verhütungsmitteln mag den Egoismus der Gene noch so sehr frustrieren – für Menschen ist er deswegen nicht weniger befriedigend. Wer freilich wie die Osnabrücker Psychologen Athanasios Chasiotis und Heidi Keller den Gen-Egoismus zu einem Motiv menschlichen Verhaltens neben Lust und Unlust macht, verwechselt die Ausleseprozesse der menschlichen Stammesgeschichte mit der Lerngeschichte individueller Menschen.

Derselbe Kurzschluß vom Egoismus der Gene auf den der Individuen beeinträchtigt auch die Überzeugungskraft anderer Beiträge. Volker Sommer von der Universität von Kalifornien in Davis versucht Religion soziobiologisch zu erklären. Nach einer von ihm zitierten Untersuchung schreiben Religionen in Abhängigkeit von den Lebensbedingungen den Eltern für die Aufzucht von Kindern jeweils dasjenige Verhalten vor, das ihren Fortpflanzungserfolg maximiert. Unabhängig von dem erwähnten theoretischen Kurzschluß ließe sich zu Methode und Aussagekraft solcher Untersuchungen manches anmerken.

In anderen von Sommer zitierten Befunden wird zur Erklärung nicht unmittelbar der Fortpflanzungsvorteil angeführt, sondern das seelische Wohl und der lebenspraktische Erfolg der Gläubigen. Daß religiöse Vorstellungen Beruhigungsmittel angesichts der eigenen Sterblichkeit seien, daß sie Leid erträglich machten und die entschlossene Hinwendung zur Zukunft programmierten, trifft zwar empirisch nicht durchweg zu und ist auch nicht gänzlich neu; schon Karl Marx bezeichnete Religion als Opium für das Volk. Die Erklärung durch emotionale Mechanismen ist jedoch methodologisch durchaus plausibel. Allerdings ist sie psychologisch und nicht biologisch. Wo Sommer dann auf Gewinne an gesellschaftlicher Ordnung verweist, die durch religiöse Dogmen abgesichert würden, argumentiert er, genau betrachtet, soziologisch. Soziobiologisch verstanden ist sein Argument ein Verstoß gegen die Lehre, daß Selektion immer beim Individuum ansetzt.

Der Band enthält weitere Beispiele dafür, daß Biologen, angetreten, um menschliches Verhalten biologisch zu erklären, unversehens beginnen, psychologisch oder soziologisch zu argumentieren. Würden mehr Humanwissenschaftler konstruktiv auf die Verhaltensbiologen eingehen, könnten sie ihnen vermutlich die Mühe ersparen, die Kultur- und Sozialwissenschaften neu zu erfinden. Jedenfalls entdecken Eckart und Renate Voland, indem sie das menschliche Gewissen als Ausdruck elterlichen Parasitierens an der Darwinschen Fitness ihrer Kinder erklären, was Sigmund Freud und Emile Durkheim zu Beginn dieses Jahrhunderts im einzelnen analysiert haben: den "spürbaren Einfluß Ich-fremder Instanzen auf die menschlichen Lebensäußerungen" – eine Entdeckung, die geeignet ist, das soziobiologische Bild vom Menschen "als einem unentwegten persönlichen Fitnessmaximierer" zu korrigieren. Von dieser Einsicht bis zur Soziologie ist nur noch ein kurzer Weg.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 125
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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