Direkt zum Inhalt

Mathematik: Excursions into Mathematics

The Millennium Edition
A K Peters, Natick (MA) 2000. 524 Seiten, $ 34,-


Für die Mathematiker war das Jahr 2000, über die drei Nullen hinaus, die der ganzen Welt Anlass zum Feiern boten, ein Jubiläum besonderer Art: Genau hundert Jahre zuvor hatte ein 36-jähriger Forscher namens David Hilbert auf dem zweiten mathematischen Weltkongress in Paris eine ungewöhnliche Standortbestimmung seines Faches vorgenommen: Er legte eine Liste von 23 Problemen vor, die nach seiner Meinung die Forschung am ehesten voranbringen würden.

Seine Fachkollegen folgten dieser Anregung in hohem Maße, denn Hilbert war damals schon berühmt; heute gilt er als der bedeutendste Mathematiker des 20. Jahrhunderts. Einige Probleme aus der Liste sind heute noch offen, und wer eines von ihnen löst, darf mit dem Lobpreis der Fachwelt rechnen. Nicht zuletzt wegen des hundertsten Geburtstages dieser Liste ist das Jahr 2000 zum internationalen Jahr der Mathematik erklärt worden (was in Deutschland weit gehend unbemerkt blieb).

Natürlich ist die Versuchung groß, ein Jahrhundert später eine Standortbestimmung der Mathematik mit ähnlicher Langzeitwirkung vorzunehmen. Leider gibt es zur Zeit keinen Hilbert! Und jeden, der sich diese Rolle anmaßen wollte, würde die Häme der Kollegen treffen. Mehr noch: In den letzten hundert Jahren ist die Mathematik so reichhaltig, vielfältig und eben auch unübersichtlich geworden, dass der genialste Kopf den adlergleichen Überblick nicht erringen könnte. Also muss notgedrungen ein Kollektiv an die Stelle des einsamen Helden treten.

Vladimir Arnold, berühmt geworden unter anderem durch seine Resultate zum chaotischen Verhalten dynamischer Systeme (Spektrum der Wissenschaft 12/1994, S. 86), lud im Auftrag der International Mathematical Union eine Reihe der prominentesten Mathematiker zu einer Standortbestimmung aus ihrer jeweils persönlichen Sicht ein. Ihre Beiträge sind in dem Sammelband "Mathematics: Frontiers and Perspectives" abgedruckt. Unter den Autoren sind ein großer Teil der letzten Fields-Medaillen-Preisträger (die Fields-Medaille ist im Prestige dem Nobelpreis vergleichbar), Andrew Wiles, der durch den Beweis der Fermat’schen Vermutung berühmt wurde, sowie die großen alten Meister Yu. I. Manin und Peter D. Lax. Mehrere Autoren folgen einer Anregung Arnolds und legen, in aller Bescheidenheit, eine Problemliste im Stile Hilberts vor; andere geben einen eher philosophisch gehaltenen Überblick oder beschränken sich darauf, die Front ihres Spezialgebiets darzustellen.

Die Herausgeber von "Mathematics Unlimited" verfolgen im Grundsatz dieselben Ziele, allerdings mit einem weit größeren Kollektiv aus nicht ganz so berühmten Autoren. Die 63 Beiträge bieten ein noch bunteres, noch vielfältigeres Bild der Mathematik, in dem die Anwendungen etwas stärker zu Wort kommen.

Es fällt schwer, einheitliche Trends auszumachen; aber offensichtlich ist: Der vor Jahren in dieser Zeitschrift (12/1993, S. 88) totgesagte mathematische Beweis lebt und gedeiht; der Computer ist selbstverständliches, aber keineswegs vorrangiges Arbeitsmittel. Unentbehrlich ist er nur zum Aufzeichnen der Ergebnisse: Beide Bände sind durchgehend mit der Spezialsoftware TEX gesetzt.

Eine Einteilung der Mathematik in Teilgebiete ist anscheinend problematisch, unergiebig oder beides. Jedenfalls haben die Herausgeber beider Bücher gar nicht erst versucht, eine inhaltliche Gliederung vorzunehmen, sondern die Beiträge schlicht alphabetisch nach den Namen der Autoren angeordnet.

Leider bestätigen beide Bände (vor allem "Mathematics Unlimited" mit seinen fast drei Kilogramm) die allgemeine Wahrnehmung, dass Mathematik schwer ist. Mit Ausnahme einiger eher allgemeiner Betrachtungen, etwa zum Verhältnis zwischen Mathematik und Gesellschaft, sind alle Beiträge für einen Leser geschrieben, der schon ein paar Semester hinter sich hat. Aber das genügt auch schon! Wer die fachübliche Geduld aufbringt, bekommt durchwegs sorgfältig aufbereitete, nicht übermäßig spezialisierte Darstellungen. Es lohnt, auf der Suche nach einem Fachgebiet für die Diplomarbeit "Mathematics Unlimited" durchzuackern, denn dort präsentieren sich auch etliche deutsche Autoren mit ihren Arbeitsgebieten. Fachleute werden sich beide Bände gerne ins Regal stellen, für alle Fälle: Vielleicht will man ja später einmal bequem den Stand der Knoten-, der Zahlen- oder der Kontrolltheorie von 2000 nachlesen oder interessiert sich für Twistoren und die Allgemeine Relativitätstheorie.

Und die Allgemeinheit? Was haben die Mathematiker zum Jubiläumsjahr den Nicht-Fachleuten zu bieten? Erstens gut Aufgewärmtes. "Excursions into Mathematics", 1969 von drei Wissenschaftlern der University of Wisconsin verfasst, wurde zum Bestseller; und siehe da: Gute Mathematik ist haltbar. Die "Ausflüge" in die elementare Geometrie und Arithmetik mussten nur an wenigen Stellen ergänzt werden – vom damals 16-jährigen Andrew Wiles konnten die Autoren beim besten Willen noch nichts wissen.

Zweitens wirklich Neues, und das ausgerechnet aus dem deutschen Sprachraum. Berliner Mathematiker bieten seit 1990 Vorträge für die Allgemeinheit über ihr Fach in der traditionsreichen Volksbildungsstätte Urania an. Das Buch "Alles Mathematik", das eine Auswahl dieser Vorträge wiedergibt, widerlegt auf schlagende Weise die gängigen Vorurteile "zu schwer, zu trocken, zu abstrakt, zu abgehoben". Leser dieser Zeitschrift werden etliche Autoren und ihre Themen wiedererkennen.

Lesen Sie den köstlichen Beitrag "Romeo und Julia, spontane Musterbildung und Turings Instabilität" von Bernold Fiedler! Abstrakt gesehen geht es nur um die Stabilität eines zweidimensionalen diskreten dynamischen Systems in Abhängigkeit von gewissen Parametern. Aber in Wirklichkeit geht es um die Frage, ob Romeo und Julia zum stabilen Zustand des ewigen Eheglücks finden oder von einem Tag zum anderen zwischen hellstem Entzücken und schwärzester Verzweiflung schwanken. Das wiederum hängt davon ab, wie sehr sich beide von schwatzenden Schwestern oder prahlenden Brüdern beeindrucken lassen. "Schwatzt ein wenig, ihr Frauen, aber nicht zu viel. Die Grenze liegt bei 75 Prozent … Prahlt ein wenig, ihr Männer, aber nicht zu viel. Die kritische Grenze liegt bei 50 Prozent." Da lernen Sie was fürs Leben!

Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 2001, Seite 94
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.