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Existenzbeweis für eine schwache Lösung - eine starke Leistung

Der französische Mathematiker Pierre-Louis Lions hat eine Fields-Medaille unter anderem für den Nachweis erhalten, daß eine mathematische Beschreibung des Verhaltens stark verdünnter Gase in gewissem Sinne korrekt ist.


Die Mechanik bewegter Gase – etwa der Luft in der Fahrradpumpe oder im Heißluftballon, des Windes oder der heißen Gase im Verbrennungsmotor – gilt als nicht besonders problematisch. Die klassische Physik hält zu ihrer Beschreibung Begriffe wie Dichte, Druck und Temperatur bereit; mathematisch sind darunter Funktionen des Ortes und der Zeit zu verstehen. Jedem Punkt innerhalb eines Gasvolumens und innerhalb eines interessierenden Zeitraums ist also ein Zahlenwert für die genannten Größen zuzuschreiben. Die physikalischen Gesetze werden durch Gleichungen unter diesen Größen ausgedrückt; ein Beispiel ist die allgemeine Gasgleichung.

Erst bei genauem Hinsehen stellt sich heraus, daß diese wohletablierte Theorie stillschweigend eine erhebliche mathematische Idealisierung voraussetzt. Da ein Gas kein Kontinuum ist, sondern aus Molekülen besteht, gibt es an einem bestimmten Punkt in Raum und Zeit zunächst weder eine Dichte noch eine Temperatur, sondern bestenfalls ein Molekül mit einer gewissen Geschwindigkeit oder auch nicht. Die geläufigen physikalischen Größen sind Mittelwerte für die Anzahl – genauer: die Gesamtmasse – der Moleküle in der Nähe dieses Punktes (die Dichte) oder die Energie ihrer ungeordneten Bewegung (die Temperatur). Es handelt sich um abgeleitete Größen, deren Definition bereits eine mathematische Operation erfordert.

Hinzu kommt, daß die Gleichungen, welche die zeitliche Veränderung des Gaszustands beschreiben, Differentialgleichungen sind. Sie enthalten nicht nur die physikalischen Größen selbst, sondern auch deren räumliche Ableitungen: zahlenmäßige Angaben darüber, wie stark sich die Größe in einer kleinen Umgebung eines Punktes ändert. (Die allgemeine Gasgleichung ist keine Bewegungs-, sondern eine Zustandsgleichung; sie enthält keine Ableitungen. )

Es stellt sich also nicht nur – wie bei jeder Modellierung – die Frage, ob die mathematische Darstellung die realen Verhältnisse angemessen wiedergibt, sondern zusätzlich, ob sie von inneren Widersprüchen frei ist. Man möchte bei gegebenem Anfangszustand das Verhalten eines Systems vorhersagen, zu beschreiben als die bislang unbekannte Lösung der Differentialgleichung; das setzt voraus, daß diese Lösung existiert und eindeutig ist. Insbesondere dürfen sich die Funktionen, welche die physikalischen Größen darstellen, mit der Zeit unter der Wirkung der Differentialgleichung nicht so verändern, daß die Differenzierbarkeit verlorengeht. Dann wäre nämlich die räumliche Ableitung nicht definiert und damit die Gleichung nicht nur unlösbar, sondern sinnlos geworden. Gleiches gilt, wenn sich im Verlauf der Zeit ein Zustand ergibt, bei dem beispielsweise der Druck über eine beliebig kurze Strecke nicht beliebig wenig, sondern erheblich ändert (unstetig ist) oder unendlich große Werte annimmt. Die Abwesenheit dieser unerwünschten Eigenschaften wird als Regularität bezeichnet.

Solange Druck, Temperatur und Geschwindigkeit nicht allzu extreme Werte annehmen, muß man sich darum keine großen Sorgen machen. Unter alltäglichen Umständen stoßen die Gasmoleküle sehr häufig unter Austausch von Energie und Impuls zusammen. Im Gesamteffekt wirken diese Kollisionen aus statistischen Gründen nivellierend. Wenn sich also aus irgendeiner Ursache an einer Stelle ein großer Druckunterschied aufbaut, mildert die ausgleichende Wirkung der zahlreichen Kollisionen diesen so weit ab, daß die mathematische Darstellung unproblematisch bleibt. Das ist bereits der Differentialgleichung zu entnehmen: Man kann unabhängig von der physikalischen Realität beweisen, daß die Lösung differenzierbar bleibt oder sogar wird, selbst wenn der Anfangszustand nicht differenzierbar war. Nur bei Überschallgeschwindigkeit reicht die Zeit zum Abmildern nicht aus; in diesem Falle sind besondere Überlegungen erforderlich.

Die Boltzmann-Gleichung


Bei extrem geringer Dichte, etwa in den höchsten Lagen der Erdatmosphäre, sinkt nun die Kollisionshäufigkeit so weit ab, daß keine brauchbaren Mittelwerte mehr zustande kommen. Insbesondere kann man eine Temperatur nicht mehr definieren. Damit bricht die Grundlage der mathematischen Beschreibung zusammen, und man muß sich eine neue ausdenken, die zudem nicht mehr ohne weiteres vom Ausgleichseffekt der großen Zahl profitieren kann. Das Problem wird also erheblich schwieriger.

Nachdem nun viel weniger Moleküle beteiligt sind, könnte man für jedes einzelne seine Bewegungen einschließlich der Kollisionen mit anderen Molekülen mit einem großen Gleichungssystem beschreiben und dieses zu lösen versuchen – beispielsweise angenähert auf einem Computer. Das hätte den Vorteil, daß man für die Modellierung weniger zweifelhafte Annahmen machen muß. Es genügt, auf physikalische Gesetze wie die Newtonschen Bewegungsgleichungen, den Energie- und den Impulserhaltungssatz zurückzugreifen, die elementarer sind als die von ihnen hergeleiteten thermodynamischen Gleichungen.

Dieses Verfahren ist jedoch im allgemeinen nicht sinnvoll, weil in realistischen Problemen immer noch sehr viele Moleküle – mit entsprechenden Folgen für den Rechenaufwand – beteiligt sind, und weil man vor allem über das jeweilige Beispiel hinaus kaum allgemeingültige Aussagen gewinnen kann. Statt dessen beschreibt man den Systemzustand doch wieder durch eine Funktion f, die in jedem Raumpunkt x und zu jedem Zeitpunkt t einen Wert haben soll, stellt für sie eine Differentialgleichung auf und versucht, allgemeine Aussagen über deren Lösungen zu gewinnen. Diesmal ist die Funktion s jedoch außer von x und t auch noch von der Geschwindigkeit v abhängig, denn sie soll ein Maß für die Wahrscheinlichkeit sein, mit der man zur Zeit (ungefähr) t am Ort (ungefähr) x ein Molekül mit der Geschwindigkeit v antrifft.

Präziser ausgedrückt: Es handelt sich um eine Wahrscheinlichkeitsdichte (auch kurz Dichte genannt). Derartige Beschreibungsformen sind besonders in der Quantenmechanik üblich; allerdings dienen sie dort nicht einer bequemen Zusammenfassung zahlreicher Teilchen, deren Verhalten im einzelnen man so genau gar nicht wissen will, sondern zur Beschreibung einer prinzipiellen Unsicherheit.

Solange die Moleküle nur unbeeinflußt voneinander durch die Gegend fliegen, ist die Zeitentwicklung der Dichte einfach. Die Wahrscheinlichkeit, am Ort x zur Zeit t ein Molekül mit der Geschwindigkeit v anzutreffen, ist gleich der Wahrscheinlichkeit, zum Zeitpunkt 0 ein Molekül mit derselben Geschwindigkeit am Ort x- vt zu finden. Denn in Abwesenheit äußerer Kräfte kann sich die Geschwindigkeit nicht ändern; also vermag man zurückzurechnen, wo und wie schnell das gesuchte Molekül gewesen sein muß (Bild 1). Aus dem Anfangszustand (das heißt dem zur Zeit t = 0) läßt sich somit jeder spätere berechnen. Das gilt auch dann noch, wenn man äußere Kräfte wie beispielsweise die Schwerkraft einbezieht.

Problematischer ist die Modellierung von Kollisionen. Ob die Stoßpartner einander zentral, streifend oder gar nicht treffen, hängt von winzigen Unterschieden in ihren Ausgangspositionen und Geschwindigkeiten ab, hat aber erhebliche Auswirkungen auf den Zustand danach (Bild 2). Sicher ist nur, daß Gesamtenergie und -impuls der Stoßpartner erhalten bleiben; für die Einzelheiten muß man sich abermals auf Wahrscheinlichkeitsaussagen zurückziehen (in die wiederum physikalische Erkenntnisse über Wirkungsquerschnitte und ähnliches eingehen). Vor allem aber kann nun eine bestimmte Geschwindigkeit auf viele verschiedene Arten zustande kommen. Um zu berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sie vorliegt, muß man über alle Möglichkeiten, wie sie entstanden sein kann, gewissermaßen aufsummieren. Genauer: Es ist ein Integral über die Dichten aller Geschwindigkeiten (vor dem Stoß) zu bilden. Damit ergibt sich als Bewegungsgleichung eine Differentialgleichung, in der auch noch ein Integral steht. Sie heißt Boltzmann-Gleichung nach dem österreichischen Mathematiker und Physiker Ludwig Boltzmann (1844 bis 1906), dem Begründer der statistischen Thermodynamik.

Diese Integrodifferentialgleichung beschreibt nicht nur das Verhalten extrem dünner Luft; sie gilt auch für zahlreiche Systeme aus vielen Komponenten, die so intensiv aufeinander einwirken, daß eine summarische (statistische) Beschreibung sinnvoll ist, aber nicht so intensiv, daß die Mittelungen der klassischen Thermodynamik gerechtfertigt wären. Dazu gehören unter anderem Phononen (die Quanten der Gitterschwingung) in Festkörpern, Atome eines Gases, das zur Beschichtung aus der Dampfphase (chemical vapor deposition, CVD) dient und Fahrzeuge im Straßenverkehr. Entsprechend groß ist das Interesse an einer mathematischen Durchdringung der – sehr schwierigen – Materie.

Schwache Lösungen


Der Integralterm macht nun nicht allein das Lösen der Gleichung erheblich schwieriger; er vereitelt auch den Rückschluß von der Gegenwart auf die Vergangenheit. Jede einzelne Kollision läßt sich- zwar ohne weiteres in der Zeit zurückverfolgen, denn die Newtonschen Bewegungsgleichungen sind symmetrisch gegenüber Zeitumkehr. Das mißlingt jedoch für ihren – durch das Integral ausgedrückten – kumulativen Effekt; es gibt vielmehr sehr verschiedene Anfangszustände, die mit beliebig geringen Abweichungen in denselben Zustand münden.

Mit der Zeit geht also Information verloren, oder – was auf dasselbe hinausläuft – die Entropie (Unordnung) des Systems nimmt zu. Der Ablauf der Zeit hat einen nivellierenden Effekt. Was üblicherweise mit gutem Grund als Verlust betrauert wird, ist nun aber für die Lösung der Boltzmann-Gleichung hilfreich. Denn je langweiliger – will sagen: informationsärmer, entropiereicher – die Lösung ist, desto regulärer ist sie auch. Dieser physikalische Sachverhalt hat ein mathematisches Gegenstück: Man kann eine Funktion definieren, die der physikalischen Entropie entspricht, und beweisen, daß sie mit der Zeit nicht abnehmen kann.

Der Mathematiker Pierre-Louis Lions von der Universität Paris-Dauphine hat nun bewiesen, daß die spezielle Mittelung über alle Geschwindigkeiten, die in dem Integralterm steckt, tatsächlich einen regularisierenden Effekt hat. In einem weiteren Schritt konnte er zeigen, daß für die Boltzmann-Gleichung stets eine schwache Lösung existiert. Das ist nicht ganz eine echte Lösung; aber sie ist von einer solchen nicht zu unterscheiden, solange man sie gewissermaßen durch eine unscharfe Brille anschaut – wobei wiederum deren Unschärfe beliebig klein sein darf. Unter anderem dafür hat Lions die dem Nobelpreis vergleichbare FieldsMedaille erhalten (Spektrum der Wissenschaft, Oktober 1994, Seite 22).

Gemessen an dem bedeutenden Preis wirkt das Ergebnis zunächst eher kläglich. Lions hat die Boltzmann-Gleichung ja nicht gelöst in dem Sinne, daß er eine Formel angegeben hätte, mit der sich aus dem gegenwärtigen Zustand eines stark verdünnten Gases dessen Zukunft berechnen ließe. Er hat lediglich gezeigt, daß es eine Lösung gibt, und selbst deren Eindeutigkeit und Regularität sind noch offen. Sie ist nur nicht so schwach wie die Lösungen, deren Existenz zuvor bereits bewiesen war, das heißt, sie hält auch dem Blick durch andersartige, im Prinzip bessere Brillen stand. Aber der Unterschied zwischen Differenzierbarkeit und Nicht-Differenzierbarkeit verschwimmt unter der Betrachtung mit jeder Brille.

Die Arbeit von Lions hat auch keine neuen Erkenntnisse über die Mechanik der Gase (Phononen, Kraftfahrzeuge und so weiter) gebracht. Ob dicht oder dünn, sie verhalten sich immer so, daß ihre Entropie höchstens zunimmt, einerlei, wie die Mathematiker das zu beschreiben belieben. In diesem Sinne ist also die Mathematik mit Mühe da angelangt, wo die Physik längst war. Und dafür eine Fields-Medaille?

Ja; denn erstens war das Ergebnis so schwer zu erzielen, daß Mathematiker sich jahrelang vergeblich daran versucht hatten. Zweitens liefert es die dringend erforderliche Bestätigung dafür, daß die ganze Bemühung um die BoltzmannGleichung überhaupt Sinn macht, und damit einen Stützpfeiler für eine Theorie, die bisher an diesem Ende sozusagen in der Luft hing. Drittens: Wenn es darum geht, das Verhalten dünner Gase mit dem Computer zu berechnen, müßten die Numeriker eigentlich auf Lions’ Berechnungen im einzelnen zurückgreifen können. Der Beweis arbeitet nämlich mit einem Verfahren, aus einer Näherungslösung eine bessere zu konstruieren. Wenn man das oft genug wiederholt, kommt man einer – schwachen – Lösung beliebig nahe. Eine Nachbildung dieses Prozesses auf dem Computer müßte demnach eine Lösung liefern, deren Qualität sogar von der Theorie garantiert würde. Hier klafft allerdings noch eine Lücke, denn diese Nachbildung steht einstweilen aus, während die gängigen, sehr leistungsfähigen numerischen Verfahren gänzlich andere Wege gehen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1995, Seite 21
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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