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Exzentriker des Lebens. Zellen zwischen Hitzeschock und Kältestreß.

Spektrum Akademischer Verlag,
Heidelberg 1997.
304 Seiten, DM 49,80.

Exzentriker leben länger, glücklicher und gesünder als regelkonforme Normalbürger(innen), so eine im Vorwort zitierte Studie des Neuropsychologen David Weeks (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1997, Seite 119). Ob die einzelligen Exzentriker, um die es in dem vorliegenden Buch geht, glücklicher sind als normale Bakterien oder sich in ihrem höllischen Milieu eher wie arme Seelen im Fegefeuer fühlen, sieht man ihnen nicht an. Jedenfalls scheinen sie ihrem ungewöhnlichen Lebensraum so gut angepaßt zu sein, daß sie unter weniger exotischen Bedingungen nicht mehr wachsen können.

Die normalen Bakterien tun im globalen Stoffkreislauf täglich viele nützliche Dinge, ohne die höheres Leben in der heutigen Form nicht denkbar wäre. Aber es waren die Extremisten unter ihnen, die in den letzten Jahren die Phantasie und den Forschergeist von Mikrobiologen, Molekularbiologen und Biochemikern entscheidend stimuliert haben. Seit Carl Woese an der Universität von Illinois in Urbana vor etwa 20 Jahren die Archaebakterien als ein drittes Urreich des Lebens entdeckt hat, sind diese Mikroorganismen in vielen Labors zu bevorzugten Untersuchungsobjekten geworden. Ein Großteil dessen, was wir heute über extremophile Mikroorganismen wissen, wurde in dieser Zeit erarbeitet.

Der Biochemiker und Wissenschaftsjournalist Michael Groß kennt das Thema aus eigener Forschung. Er hat in Regensburg studiert, wo ein einschlägiges Forschungszentrum entstanden ist, und sich im Arbeitskreis von Rainer Jaenicke mehrere Jahre lang mit der molekularen Anpassung von Mikroorganismen an hohe hydrostatische Drücke beschäftigt.

Unter extremophilen Mikroorganismen versteht man meistens solche, die bei – aus der Sicht des Menschen – extrem hohen oder niedrigen Temperaturen, hohen Salzkonzentrationen oder in sauren oder alkalischen Gewässern optimal leben. Aber auch andere Umweltbedingungen können eine extreme Belastung für einen Organismus bedeuten, zum Beispiel große Trockenheit, denn eine Grundvoraussetzung für alles Leben ist die Verfügbarkeit von flüssigem Wasser. Diese Grenzsituationen des Lebens versucht der Autor einem breiten Leserkreis verständlich näherzubringen.

Der Leser lernt zunächst ungewöhnliche Biotope kennen, die sich wahrscheinlich seit der Urzeit nicht verändert haben: vulkanische Habitate wie marine Hydrothermalsysteme und kontinentale Solfataren (schwefelgashaltige Gebiete). Sie enthalten möglicherweise lebende Fossilien, die von den vulkanischen Ausgasungen leben. Auf dem Meeresboden in 4500 Meter Tiefe gedeiht eine faszinierende Lebensgemeinschaft in der Nähe der sogenannten Black Smokers. Das Tote Meer ist nicht tot, und Leben ist auch bei Minusgraden im Eis der Antarktis möglich. Selbst in 500 Meter tiefen Gesteinsschichten oder Erdöllagerstätten tummeln sich noch Mikroben (Spektrum der Wissenschaft, Juni 1997, Seite 86).

Im folgenden Teil des Buches erfährt der Leser einiges über die Ursachen der Extremophilie, soweit man heute die molekularen Mechanismen überhaupt versteht. Hitzeschock- und Frostschutzproteine, DNA-Reparaturmechanismen, Sporenbildung und symbiontische Wechselwirkungen werden als Überlebensstrategien in einer unwirtlichen Umgebung besprochen.

Ein eigener Teil des Buches befaßt sich mit den biotechnologischen Anwendungen. Wie wenig Bedeutung und Potential der Extremophilen bisher erkannt sind, sieht man daran, daß sie kaum industriell eingesetzt werden. Eine Ausnahme sind die DNA-Polymerasen der Hyperthermophilen Thermus aquaticus und Pyrococcus furiosus, die inzwischen in der molekularbiologischen Forschung unentbehrlich geworden sind.

Im letzten Teil befaßt sich der Autor mit der systematischen Zugehörigkeit der Extremisten. Waren die ersten Lebewesen vielleicht extrem Thermophile? Stammbäume, abgeleitet von ribosomalen RNA-Sequenzen, geben gewisse Hinweise in diese Richtung. Auffällig viele der außergewöhnlichen Mikroben gehören zu den Archaea. Und wie könnten noch vor der Entstehung des Lebens die ersten katalysierten Reaktionen abgelaufen sein, aus denen die ersten Biomoleküle entstanden? Nach neueren Theorien könnte die Oberfläche von Pyritkristallen geeignete Bedingungen bieten. Eisen-Schwefel-Zentren jedenfalls findet man heute noch in einer Reihe von Enzymen. Ganz zum Schluß blickt der Autor mit der Frage nach extraterrestrischem Leben über den Rand unseres Erdballs hinaus. Ein Nachweis ist bisher nicht gelungen. Aber in tieferen Gesteinsschichten des Mars ist mikrobielles Leben denkbar, vielleicht nur bisherigen Nachforschungen entgangen.

Das Buch ist in lockerer Form, aber durchaus spannend geschrieben und für einen breiten Leserkreis geeignet. Historisches und Persönliches ist auflockernd in den Text eingeflochten. Die erklärenden Einschübe zu Personen, Methoden oder Sachfragen sind manchmal sehr speziell und subjektiv ausgewählt. Sicherlich hätte Carl Woese als der Vater des Archaea-Konzeptes eine Erwähnung in einem der Personenprofile verdient. Jedenfalls ist dieses Buch geeignet, deutschsprachigen Lesern neue Welten zu eröffnen.

Auch für Archaea-Forscher kann das Buch noch eine spannende Lektüre sein. Zwischen den Zeilen wird etwas von dem Pioniergeist vermittelt, der die Beschäftigung mit diesen extremen Welten mit sich bringt, vielleicht sehr entfernt vergleichbar mit der Wirkung, die das Buch "Mikrobenjäger" von Paul de Kruif in den zwanziger Jahren hatte.

Es bleibt nicht aus, daß bei dem fragmentarischen Wissen die Kapitelfolge etwas den Anschein einer Ansammlung von Mosaiksteinen erweckt, die noch lange nicht das vollständige Mosaik erkennen lassen. Das Thema bleibt jedenfalls weiterhin spannend, und wir dürfen auf einen Folgeband in zehn Jahren hoffen. Vielleicht erfahren wir dann, warum Pyrodictium im kochenden Wasser optimal lebt oder ob es Leben auf dem Mars gibt.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1997, Seite 138
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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