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Sportgeräte: Fersenstoß und Abrollhilfe

Manche Gestalt moderner Sportschuhe beruht mehr auf Vorurteilen über den Laufvorgang denn auf wissenschaftlichen Erkenntnissen.


Eigentlich ist das Laufen eine recht simple Sportart, denn zwei Beine und ein gesundes Herz reichen dafür aus. Oder etwa nicht? Wer zum ersten Mal ein Fachgeschäft aufsucht, um sich mit einem geeigneten Schuh auszustatten, erkennt schnell, dass er oder sie dabei an die Pforten einer Geheimwissenschaft geklopft hat. Der richtige Laufschuh orientiert sich beispielsweise an Geschlecht, Gewicht und bevorzugtem Untergrund – Asphalt oder Wald? Dazu kommen Fragen der jeweiligen Lauftechnik und der Ambitionen: Hobbysportler versuchen sich durch Dämpfung und Gelenkunterstützung vor Verletzungen zu schützen, Profis wählen Schuhe, die ihnen Zehntelsekunden schenken.

Wie nun ein solcher Sportartikel optimal zu gestalten sei, beschäftigt Wissenschaftler etwa seit Beginn der 70er Jahre, als nämlich der sneaker, ein leichter Segeltuchsportschuh weltweit zum Renner wurde. Doch trotz millionenschwerer Investitionen der Industrie bieten die komplexen biomechanischen Zusammenhänge beim Laufen immer noch Überraschungen.

Steifere Sohlen und ebensolche Unterstützungen des Fußgewölbes sollen dem Fuß im Schuh Halt geben und seinen Kontakt mit dem Boden führen, freilich ohne die komplexe Folge von Teilbewegungen des Gangzyklus zu stören. Viele Produkte haben dazu eine Zwischensohle aus Kunststoff zwischen der äußeren und inneren Sohle, die unter dem Fußgewölbe fester ist als an der äußeren Seite des Schuhs. Diese Unterstützung soll den Fuß davor bewahren, zu stark einwärts zu rollen (fachlich: zu pronieren), wenn sich das Gewicht des Läufers von der Ferse zur Fußspitze verlagert.

Allerdings ist eine gewisse Pronation natürlich und beim normalen Gehen und Laufen sogar notwendig. Nachdem Anfang der 80er Jahre diese Zwischensohle üblich wurde, verzeichneten Sportärzte drastisch mehr Reizungen des tractus tibialis, einem bindegewebigen Band, das außen am Oberschenkel entlang verläuft. Läufer mit einer normalen Pronation rollten auf Grund der Gewölbestütze vermutlich zu weit auf den äußeren Fußrand (Supination), das iliotibiale Band wurde gestrafft, der Oberschenkelknochen einwärts gedreht und so die Reibung zwischen dem Band und einem knöchernen Höcker im Bereich des Knies verstärkt.

In großen Schrittenzum modernen Laufschuh


In jener Zeit kamen auch Luftkissen, Silikon-Gel oder polymere Schäume auf, die den Aufprall der Ferse auf dem Boden dämpfen sollten. Das Ergebnis: immer mehr Entzündungen der Achillessehnen. "Der Fuß sinkt ein und verdreht sich, der gedämpfte Schuh kann ihn nicht mehr führen und die Gelenke stabilisieren", erläutert Jack Taunton, Vize-Direktor am sportmedizinischen Zentrum Allan McGavin der Universität von British Columbia.

Stabilität und Dämpfung markieren zwei Eckpunkte der Schuhentwicklung, zwischen denen die Industrie Kompromisse sucht. Ein weiterer ist das Gewicht: Je leichter ein Schuh, desto weniger Energie muss der Läufer aufwenden, aber desto problematischer ist es wiederum, die Forderungen nach Stabilität und Dämpfung zu berücksichtigen. Seitdem Leder und Segeltuch durch Nylon ersetzt wurden und polymere Schäume (Ethylenvinylacetat, EVA) die Funktion des Gummis in der Zwischensohle und im Absatz übernahmen, ist es nicht einfach, Schuhe leichter zu machen. Meist versuchen die Konstrukteure, Stabilitätskomponenten wie die Zwischensohle nicht aus massivem Material sondern gitterartigen Strukturen zu fertigen.

Biomechanische Forschung sollte diese Entwicklungen der Industrie begleiten und ihr neue Wege zeigen. Doch mitunter stehen die Erkenntnisse der Wissenschaftler im Widerspruch zu langjährigen Überzeugungen, die sich sozusagen in millionenschweren Investitionen materialisiert haben. Benno M. Nigg, Direktor des "Human Performance Laboratory" an der Universität Calgary, zweifelt beispielsweise an dem so sicher geglaubten Zusammenhang von Aufprallkräften und Laufverletzungen. Untersuchungen seiner Gruppe zeigten, dass schnelle Läufer zwar mit zwei- bis dreimal höherer Belastung landen als langsamere, aber keineswegs häufiger verletzt sind. Andere Institute haben laut Nigg entdeckt, dass das Laufen auf hartem Untergrund nicht schädlicher ist als das auf weichem. Er erklärt das mit dem Anstieg von Knochenmasse und -dichte bei gelenkbelastenden Sportarten wie Laufen oder Basketball im Vergleich etwa zum Schwimmen. Das Paradigma des "Dämpfens", um die Häufigkeit oder die Art von Laufverletzungen zu verringern, muss seiner Meinung nach hinterfragt werden.

Wie kann man aber dann die Verletzungen erklären, die bis zu zwei Drittel der Läufer jährlich erleiden? Und warum sind gedämpfte Schuhe bequemer als steife? Nigg erklärt dies mit einem neuen Modell: Beim Auftreffen der Ferse auf den Boden entstünden schädliche Schwingungen im Bindegewebe. Der Körper versucht dem durch Anspannen der Muskulatur unmittelbar vor dem Bodenkontakt entgegenzuwirken. Die Dämpfungsmechanismen in Laufschuhen können ihn dabei unterstützen, indem sie die beim Aufprall entstehenden Frequenzen verschieben. Wie eine gestimmte Gitarrensaite hat auch das Weichteilgewebe eine bestimmte, von Körper zu Körper verschiedene und sich mit dem Muskeltonus ändernde Resonanzfrequenz, bei der es besonders stark mitschwingt. Stimmt die anregende Schwingung damit nicht überein, gibt es sich unberührt.

Kein Wunder also, dass Läufer ihren speziellen Schuhtyp bevorzugen. Nigg glaubt, dass Ermüdung und Verletzungen entstehen können, wenn die Muskeln zu viel Energie benötigen, um der Weichgeweberesonanz entgegenzuwirken. Der richtige Schuh vermag die Leistung um bis zu fünf Prozent zu steigern – das reduziert die Zeit beim Marathonlauf um etwa acht Minuten.

Der Marathonläufer und Biomechaniker Peter Cavanagh von der Pennsylvania State University hatte bereits 1980 am gängigen Modell für den Bodenkontakt gerüttelt: Ein Läufer landet demnach auf der Ferse, schiebt sich über seinen Spann nach vorne und drückt sich vom vorderen Teil des Fußes wieder ab. Der Aufprall mit den damit verbundenen Stoßeinwirkungen galt, wie schon erwähnt, als besonders verletzungsträchtig. Cavanagh ließ eine Kraftmessplatte in eine Teststrecke ein, um Ort und Stärke der an der Fußsohle ansetzenden Kräfte vom Aufsetzen der Ferse bis zum Abdruck von den Zehen zu quantifizieren. Die Ergebnisse waren überraschend. Selbstverständlich landeten die Meisten tatsächlich auf der Ferse, allerdings eher auf ihrem äußeren Rand. Andere, die mit der gleichen Geschwindigkeit unterwegs waren, kamen auf dem Rist auf und eine dritte Gruppe landete von vornherein etwa im ersten Drittel des Vorderfußes. Die Gruppen erhielten die Bezeichnungen Hinter-, Mittel-, und Vorderfußläufer; innerhalb jeder Gruppe fand Cavanagh eine Vielzahl von Bodenkontaktmustern.

Die Biomechanik des Laufens war offensichtlich viel komplexer und individuell unterschiedlicher als erwartet. Der Wissenschaftler fand sogar heraus, dass die Kräfte, die während des Abdrucks auf den vorderen Teil des Fußes wirken, mehrere Male größer sein können als die, die beim Aufsetzen mit der Ferse entstehen. Heutige Laufschuhe sind immerhin meist von der Ferse bis zur Spitze gepolstert, dennoch widmen Schuhhersteller dem Vorderfuß weniger Aufmerksamkeit. Oft fehlt es auch an der fachlichen Information. So entwickelten sie Anfang der 80er Jahre die so genannte Abrollhilfe – eine leichte Aufwärtskrümmung der vorderen Sohle. Der Laufschritt solle dadurch effizienter werden, weil ein natürliches Vorwärtsschieben zum vorderen Teil des Schuhs erfolge. Bewiesen wurde diese These nicht, im Gegenteil: Darren Stefanyshyn, ein Kollege Niggs, fand kürzlich heraus, dass Abrollhilfen die Vorwärtsbewegung sogar negativ beeinflussen, da sie die Zehen und Ballen daran hindern, mit voller Kraft abzustoßen. Und Nigg konstruierte einen Schuh ohne Abrollhilfe und verhalf damit Durchschnittsläufern zu 2/10 Sekunden schnelleren Sprints. Da er eng mit dem Sportschuhhersteller Adidas zusammenarbeitet, dürften seine Forschungen wohl neue Produkte inspirieren.

Auch die heute üblichen Pronationsstützen stehen neuerdings in der Diskussion. Am Nike Forschungslabor in Beaverton (Oregon) bezweifeln Wissenschaftler den Nutzen starrer Zwischensohlen und fester Pronationsstützen. "Solche Teile stoppen das natürliche Einwärtsrollen des Fußes abrupt wie eine Backsteinmauer", sagt der Direktor des Labors, Mario Lafortune. Er stützt sich dabei auf Cavanaghs Forschungen, wonach eine gewisse Pronation normal und sogar notwendig ist, um das Gewicht vom äußeren Rand des Fußes, auf dem die meisten Läufer landen, zur Mittellinie des Fußes hin zu verlagern.

Lafortune und seine Kollegen versuchen daher die Pronation nur zu verlangsamen. Dazu reichen einfache Modifikationen an derzeitigen Produkten. So lässt sich das Bruch-Polster am äußeren Rand der Ferse weicher ausführen und damit leichter zusammendrücken. Der Fuß wird dann nicht plötzlich aus seiner Landeposition gerissen. Ähnlich wirkt es, die Zwischensohle im hinteren Drittel des Schuhs zu verdünnen und zum äußeren Rand hin abzurunden. Nike hat diese Veränderungen bei einigen Modellen bereits vorgenommen. Asics brachte ebenfalls schon einen Schuh mit einer verlangsamten Pronation heraus.

Barfuß läuft sich’s besser


Lafortunes Gruppe sucht darüber hinaus nach Möglichkeiten, die natürliche Steifheit des Fußes zu verbessern. Beim Barfußlaufen unterstützt sie der so genannte Ankerwindenmechanismus, das sind bindegewebige Bänder zwischen Ferse und Zehenwurzel, die sich anspannen, sobald die Zehen während des Abdrucks gebeugt werden. Das blockiert die langen Knochen des Fußes, vertieft dessen Gewölbe und zentriert den Fuß vor dem Abdruck. Nach Lafortunes Meinung erzeugt ein sowohl steifer als auch zentrierter Fuß den sichersten und effizientesten Vortrieb. Es sei immer noch am besten, den Fuß sich selbst stabilisieren zu lassen, anstatt die Stabilität durch äußere, rigide Elemente zu erzeugen. Der Wissenschaftler äußert sich natürlich nicht darüber, wie sein Arbeitgeber diesen Mechanismus in künftigen Designs auszunutzen versucht. Vermutlich wird aber ein weicheres und flexibleres Vorderteil kommen.

Die Vorteile des Barfußlaufens stellt auch Nigg heraus. Er vertritt die Auffassung, dass jeder Körper ein bevorzugtes Bewegungsmuster aufweist, das sich beim Barfußlaufen erkennen lässt und an dem er trotz orthopädischer Intervention festhält. Sobald Schuhe dieses Muster fördern, fühlt man sich in ihnen großartig und ist leistungsstärker; wenn sie jedoch dagegen arbeiten, können sie den Läufer stören und ermüden. Darin scheinen immer mehr Biomechaniker und Entwickler übereinzustimmen: Es gibt keine Idealform des Laufens und keine systematische Verbesserungsstrategie, die für alle Läufer gilt. Nike hat deshalb angekündigt, seine Schuhmodelle stärker zu klassifizieren, um die individuelle Wahl zu erleichtern. Das Unternehmen empfiehlt seinen Händlern sogar, biomechanische Analysen durchzuführen, um den persönlichen Laufstil eines Kunden genau zu charakterisieren. Keiner für alle, aber alle Möglichkeiten für einen, das soll die Devise sein.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 2001, Seite 81
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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