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Werkstoffe: Form aus dem Feuer

Sich selbst fortpflanzende Wärmewellen sind ein elegantes Mittel zur Produktion von Hochtechnologie-Werkstoffen. Mit jüngst entwickelten Methoden lassen sich diese ultraschnellen chemischen Reaktionen genau verfolgen und damit gezielter steuern.


Stellen Sie sich eine brennende Zündschnur vor: Das Feuer frisst sich der Länge nach durch sie hindurch und lässt nichts zurück außer loser Asche und den Verbrennungsgasen. Nun entzünden wir das Ende einer andersartigen Lunte. Diesmal erzeugt die glühende Wärmewelle beim Wandern durch die Zündmischung eine erstarrte Masse. Dieser scheinbar paradoxe Effekt – dass Stoffe beim Verbrennen nicht unbedingt zerfallen oder verbraucht werden – ist das Wesentliche an einer der viel versprechendsten Innovationen in der Werkstoffwissenschaft: der so genannten Verbrennungssynthese.

Zwar ist das Verfahren seit drei Jahrzehnten schon bekannt, und bis heute konnten die Forscher damit bereits über 500 Verbindungen herstellen. Viele davon sind von unschätzbarem Wert für Kugellager, Schleifmittel, Schutzschilde gegen radioaktive Strahlung, Hochtemperatur-Supraleiter und andere technologisch anspruchsvolle Anwendungen. Dennoch sind Fortschritte auf diesem Gebiet immer noch größtenteils dem Zufall zu verdanken. So findet ein Forscher beispielsweise heraus, dass er einen härteren Werkstoff erhält, wenn er von feineren Pulvern ausgeht; doch über den Grund dafür könnte er nur Vermutungen anstellen.

Wegen dieser Unkenntnis beschränken sich Verbrennungssynthesen bislang vorwiegend auf sehr spezielle Produkte. Doch allmählich verstehen die Materialforscher immer besser, wie die Wärmewelle beim Durchqueren des vorgelegten Gemischs das gewünschte Material erzeugt. Damit sollten sie es schon bald schaffen, die Technik der Verbrennungssynthese für den breiteren Einsatz zu vervollkommnen.

Zum Zünden genügt ein Wärmepuls


Schon in prähistorischer Zeit erhitzten die Menschen Dinge, um ihre Gebrauchseigenschaften zu verbessern. Vor ungefähr 13000 Jahren fanden unsere Vorfahren zum Beispiel heraus, dass sich ein Stück formbarer Ton beim Brennen in harte Keramik verwandelt. Moderne Verfahrenstechniker verstehen es mittlerweile, aus speziellen Tonpulvern in Brennöfen Keramiken herzustellen, die so fest und hitzebeständig sind, dass sie als Schutzschilde für Raumschiffe beim Wieder-Eintauchen in die Erdatmosphäre dienen können. Das Gemeinsame beider Verfahren ist, dass durch Wärmezufuhr von außen chemische Bindungen in den Ausgangsmaterialien gebrochen und in einer anderen Anordnung neu geknüpft werden.

Wie schon die Wissenschaftler im späten 19. Jahrhundert erkannten, kann beim Umarrangieren von chemischen Bindungen aber auch Wärmeenergie in beträchtlicher Menge freigesetzt werden. Im Prinzip lässt sich diese Energie direkt zur Synthese von gewünschten Stoffen einsetzen. Sobald die Reaktion gestartet ist, läuft sie dann von allein weiter. Zum Zünden genügt dabei ein kurzer Wärmeimpuls – beispielsweise von einem Laserstrahl.

Während dieses Prinzip in vielen Bereichen der Chemie schon seit dem letzten Jahrhundert angewendet wird, haben es Festkörperchemiker für die Synthese von Werkstoffen aus festen Ausgangsmaterialien bisher kaum genutzt. Dabei bietet es große Vorteile. So ist zum Zünden einer sich selbst unterhaltenden Reaktion viel weniger Energie erforderlich als zum Betrieb industrieller Brennöfen – den bisher gebräuchlichen Anlagen zur Erzeugung hochwertiger Werkstoffe.

Verbrennungssynthesen bieten aber noch mehr Vorteile. In Brennöfen ist die Substanzmenge, die umgesetzt werden kann, durch die Abmessungen begrenzt. Dagegen lassen sich durch Verbrennungssynthesen im Prinzip Werkstücke in jeder beliebigen Größe herstellen; denn die Reaktionswärme der chemischen Umwandlung wird an jedem Punkt in der vorgelegten Substanzmischung einmal freigesetzt. Bei solchen Reaktionen sind außerdem ohne weiteres Temperaturen von 1500 bis 4000 Grad Celsius erreichbar – und das bei Erwärmungsgeschwindigkeiten von bis zu einer Million Grad Celsius pro Sekunde. Deshalb dauert es bei einer Verbrennungssynthese nur ein paar Sekunden, bis die Ausgangssubstanzen in einen neuen Festkörper umgewandelt sind; der gleiche Vorgang kann in herkömmlichen Brennöfen, deren Temperatur selten an 2000 Grad Celsius herankommt, dagegen Minuten oder sogar Stunden in Anspruch nehmen.

Hinzu kommt, dass das Produkt eine äußerst hochgeordnete mikroskopische Struktur hat, wenn es intensiv und rasch erhitzt wurde. Konventionelle Brennöfen erwärmen das Material dagegen sehr viel ungleichmäßiger, was Fehlordnungen in der erzeugten Struktur begünstigt. Bei einem Bauteil, das extremen Belastungen standhalten soll, können solche Strukturdefekte fatale Folgen haben. An ihnen bilden sich unter Umständen mikroskopische Risse – beispielsweise in der metallischen Außenhaut eines Flugzeugs –, die zu einem katastrophalen Bruch führen, wenn sie sich über einen kritischen Wert hinaus vergrößern.

Verbrennungssynthesen können auch unter Beteiligung von Gasen oder Flüssigkeiten ablaufen, aber bei der gängigsten Methode, der so genannten festen Flamme (solid flame), befinden sich alle Ausgangs- und Endprodukte im festen Zustand. Durch diesen Reaktionstyp lassen sich beispielsweise Metalle wie Nickel und Aluminium zu den leichten und hitzebeständigen Werkstoffen verbinden ("legieren"), die für die Turbinen und andere Triebwerksteile von Raumschiffen benötigt werden. Die Ausgangsstoffe werden dabei pulverisiert und zu einem Pressling komprimiert, der üblicherweise die Form eines Zylinders hat. Für bestimmte Anwendungen wird er als Ganzes gleichmäßig erwärmt, bis die Reaktion überall gleichzeitig abläuft. In den meisten Fällen jedoch wird das Gemisch nur an einer Stelle gezündet; von dort pflanzt sich die Wärmewelle dann bis zum anderen Ende des Presslings fort.

Verbrennungssynthesen bieten aber nicht nur einen schnellen und Energie sparenden Zugang zu hochwertigen Werkstoffen. Die hohen Temperaturen und kurzen Reaktionszeiten können die beteiligten Atome oder Moleküle auch dazu bringen, sich zu Strukturen zusammenzulagern, die unter normalen Bedingungen instabil wären. Dadurch gelingt die Herstellung von Materialien, die auf anderem Wege gar nicht zugänglich sind: zum Beispiel Keramiken mit fein verteilten synthetischen Diamantkristallen – eine ideale Kombination für Schneidwerkzeuge, die hohen Ansprüchen genügen sollen. In langsam erhitzten Brennöfen würden sich die extrem harten, scharfkantigen Diamantsplitter in den weicheren Graphit umwandeln, während sie bei dem sehr viel schnelleren Durchlauf des Hitzepulses keine Gelegenheit dazu erhalten.

Mit Verbrennungssynthesen lassen sich auch so genannte funktionell abgestufte Materialien gewinnen, deren Bestandteile und Eigenschaften über das Werkstück hinweg so variieren, wie es für die vorgesehene Anwendung optimal ist. Beispielsweise kann es fließende Übergänge im mikroskopischen Aufbau geben – etwa von einem zähen Metall am einen Ende zu einer hitzebeständigen Keramik am anderen. Durch die graduelle Änderung der Zusammensetzung sind diese funktionell abgestuften Materialien drastischen Schwankungen in der Temperatur oder mechanischen Belastungen besser gewachsen als Stoffe, bei denen die verschiedenen Komponenten scharf aneinander grenzen.

All diese potenziellen Vorteile gegenüber konventionellen Verfahren lassen die Verbrennungssynthese sehr attraktiv erscheinen. Allerdings stehen ihrem breiten Einsatz noch einige Hürden im Wege. So erfordert die Herstellung von maßgeschneiderten Werkstoffen ein detailliertes mechanistisches Verständnis derjenigen Vorgänge, die beim Aufbau der neuen Struktur auf molekularer Ebene ablaufen – und dafür muss man in jeder Phase der Reaktion präzise beobachten können, was passiert. Gerade diejenigen Eigenschaften jedoch, die an der Verbrennungssynthese so bestechend erscheinen – extrem schnelle Erwärmung, hohe Temperaturen und kurze Reaktionszeiten –, machen es auch besonders schwierig, die Reaktionswelle beim Durchlaufen des Substanzgemischs zu verfolgen. Zur Lösung dieses Problems hat sich ein neuer Bereich der Materialforschung herausgebildet.

Die Vertreter dieses Gebiets greifen Ideen aus diversen Feldern der Ingenieur- und Naturwissenschaften auf. Von Biologen, die schnelle Muskelbewegungen erforschen, haben sie sich beispielsweise ein Verfahren abgeschaut, mit dem sie präzise verfolgen können, wie im Verlauf einer Reaktion bestimmte Komponenten schmelzen oder sich neue Kristalle bilden. Bei dieser so genannten zeitaufgelösten Röntgenbeugung tastet eine Maschine die reagierende Probe mit starker Synchrotron-Strahlung ab und erzeugt alle 0,01 Sekunden ein Röntgenbeugungsmuster. Aus ihm können die Forscher die Zusammensetzung von chemischen Phasen (submikroskopisch homogenen Bereichen) ermitteln, die zum jeweiligen Zeitpunkt vorliegen.

Die Brennfront in Zeitlupe


Um nachzuvollziehen, wie sich die Mikrostruktur verändert, bedienen sich die Materialforscher einer Methode, die ursprünglich entwickelt worden war, um den Ablauf der Verbrennung von festem Raketentreibstoff zu untersuchen. Dabei lassen sie eine brennende Probe in ein Gefäß mit flüssigem Argon fallen (Siedepunkt: –186 Grad Celsius), sodass die Reaktion zu einem Zeitpunkt eingefroren wird, an dem sie erst teilweise abgelaufen ist. Diese abgeschreckte Probe schneiden sie dann in dünne Scheiben und ermitteln – beispielsweise unter dem Elektronenmikroskop – deren Mikrostruktur.

Das Studium von Verbrennungsreaktionen mit diesen neuartigen Methoden bestätigte die nahe liegende Vermutung, dass sich die Eigenschaften des Materials schrittweise ändern, während die Erwärmungswelle hindurchläuft. Viele Forscher suchen derzeit die Phänomene zu verstehen, die unmittelbar vor der Reaktionswelle – an der so genannten Brennfront – auftreten; denn hier bilden sich die Vorstufen, die über die Struktur und die Eigenschaften des Endprodukts entscheiden. Diese Zone ist im Allgemeinen nur 0,05 bis 0,5 Millimeter breit, sodass sie allenfalls einige Dutzend Pulverteilchen umfasst. Mehrere physikalische und chemische Prozesse leiten darin gemeinsam den Umbau der molekularen Struktur ein. Wie aber lässt sich diese wichtige Zone genauer unter die Lupe nehmen?

Meine Kollegen und ich haben an der Universität Notre Dame (Indiana) in den letzten sechs Jahren eine eigene Apparatur dafür konstruiert. Wichtigste Komponente ist eine digitale Hochgeschwindigkeits-Videokamera, die bis zu 12000 Bilder pro Sekunde aufnehmen kann – gegenüber 30 Aufnahmen pro Sekunde bei einem herkömmlichen Modell. Sie ist auf einem Mikroskop montiert, das noch Objekte bis zu einem Durchmesser von 0,0015 Millimetern (1/50 der Dicke eines menschlichen Haares) sichtbar macht. Indem wir mit dieser Anordnung den Durchgang der Reaktionswelle durch das Ausgangsgemisch verfolgten, stellten wir fest, dass eine Brennfront, die im makroskopisch-sichtbaren Bereich gleichmäßig zu wandern scheint, auf mikroskopischer Ebene ein komplexes, unruhiges Ausbreitungsmuster zeigen kann.

Störende heiße Flecken


Anhand dieser Befunde teilten wir die Reaktionswellen in zwei große Klassen ein: quasi-homogene und szintillierende. Eine quasi-homogene Welle bewegt sich gleichmäßig, und die Temperatur variiert relativ wenig entlang der Brennfront – ideale Bedingungen für die Synthese eines Werkstoffs mit hochgeordneter Struktur. Im Gegensatz dazu treten entlang der Brennfront einer szintillierenden Welle beträchtliche Temperaturunterschiede auf, sodass es zu Fehlstellen in dem resultierenden Material kommen kann. Dieser Wellentyp findet sich vor allem in Systemen, bei denen wenigstens einer der Reaktionspartner bei der Umwandlung schmilzt. Das geschieht unmittelbar vor der Brennfront. Die flüssigen Bereiche bilden dann heiße Flecken (hot spots), an denen die Reaktionswelle bevorzugt vorrückt.

Erst in den letzten zwei Jahren ist es möglich geworden, Reaktionswellen so detailliert zu beschreiben; meine Kollegen und mich fasziniert dabei am meisten, dass wir mit dem Wissen um diese Einzelheiten die Eigenschaften des Endproduktes gezielt beeinflussen können. So lässt sich bei Reaktionen, die sich als szintillierende Welle ausbreiten, durch geschicktes Einstellen der experimentellen Bedingungen die Entstehung von heißen Flecken kontrollieren. Bei der Umsetzung zwischen Titan und Silizium etwa bilden sich weniger solche Stellen – und damit geringere Temperaturschwankungen entlang der Brennfront –, wenn man die Dichte des Presslings aus den Ausgangssubstanzen erhöht.

Letztlich eröffnet diese bessere Kontrolle auch neue Möglichkeiten zur effektiveren Entwicklung neuartiger Werkstoffe. Ein Beispiel ist die Verbesserung von Legierungen auf Cobalt-Basis, die für orthopädische Implantate wie künstliche Hüft- und Kniegelenke weit verbreitet sind. Seit Jahrzehnten besteht das Herstellungsverfahren darin, Barren aus den entsprechenden Legierungen in Schmelzöfen zu verflüssigen und anschließend in die gewünschten Formen zu gießen. Meine Kollegen und ich arbeiten daran, härtere Legierungen zu erzeugen und gleichzeitig Produktionsschritte einzusparen, indem wir das Implantat gleich in seiner endgültigen Gestalt synthetisieren.

Die Entwicklung dieser Ein-Schritt-Technologie – und anderer Anwendungen der Verbrennungssynthese – wird noch einige Jahre dauern. Aber die Hochgeschwindigkeits-Videomikroskopie und andere Methoden zur Beobachtung und Aufzeichnung der dabei ablaufenden ultraschnellen Reaktionen versprechen künftig raschere Fortschritte. Und so könnte die Verbrennungssynthese schon bald in der vordersten Reihe der Technologien zur Massenproduktion hochwertiger Werkstoffe stehen.

Literaturhinweise

Combustion Synthesis of Advanced Materials: Principles and Applications. Von A. Varma et al. in: Advances in Chemical Engineering, Bd. 24, S. 79–226 (1998).

Complex Behavior of Self-Propagating Reaction Waves in Heterogeneous Media. Von A. Varma et al. in: Proceedings of the National Academy of Sciences USA, Bd. 95, Nr. 19, S. 11053 (1998).

Self-Propagating High-Temperature Synthesis: Twenty Years of Search and Findings. Von A. B. Merzhanov in: Combustion and Plasma Synthesis of High-Tempera-ture Materials (Hg.: Z. A. Munir und J. B. Holt). VCH-Verlag, Weinheim 1990.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2000, Seite 68
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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