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Fremde: die Herausforderung des anderen - Ausstellung in Frankfurt


Der Umgang mit Fremden muß nicht nur in Deutschland stets aufs neue bewältigt werden – mit zeitweilig anwesenden Gästen, Arbeitsmigranten oder Flüchtlingen sind Bewohner aller Staaten der Welt immer konfrontiert.

Eine Ausstellung im Frankfurter Museum für Völkerkunde soll den Blick auf Fremdes und Fremde erweitern. Dabei steht nicht der Ausländer im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern das andere am anderen – eben das, was die Begegnung mit dem Fremden zur Herausforderung werden läßt. Im interkulturellen Vergleich präsentieren wir unterschiedliche Vorstellungen von Fremden und Fremdem sowie kollektive Strategien im Umgang damit.

Fast alle Ethnien, Kulturen und Staaten streben einen kulturell homogenen Zustand zur eigenen Identitätsfindung an. Zugleich aber gibt es stets eine innere Differenzierung nach Geschlecht, Alter, Teil- oder Subkulturen, die mit der Größe der Gemeinschaft zunimmt. Die modernen Nationalstaaten sind inhomogen strukturierte Gebilde mit verschiedenen sprachlichen, religiösen, ethnischen, kulturellen und sozialen Teilgruppen. Ein Zustand der "Reinheit" oder des "Ursprungs", zu dem man zurückkehren könnte, erweist sich als Mythos; denn schon immer waren und sind die Grenzen zwischen Kulturen und Ethnien fließend, und sie werden fortwährend je nach Situation neu definiert: Kulturen und Ethnien sind dynamische Gebilde, bei denen Wandel aus inneren Motiven und äußeren Einflüssen immer möglich ist und auch stattfindet.

So allgegenwärtig Fremde sind – der Umgang mit ihnen ist gleichwohl nie und nirgends problemlos. Menschen leben nun einmal in Gruppen, die sich voneinander abgrenzen, zwischen "fremd" und "eigen" unterscheiden müssen, weil sich nur auf diese Weise Sicherheit und Zukunftsfähigkeit der fragilen Gruppengebilde, ohne die auch das Individuum nicht bestehen könnte, auf Dauer in den ebenso fragilen Lebenswelten erhalten lassen. Da aber Kultur erst in der Auseinandersetzung mit dem Fremden entsteht, wirken Neugier und exploratives Verhalten dem Streben nach Gruppenhomogenität entgegen. Gruppen sichern sich das Innovationspotential kreativer Individuen, um in ergebnisoffenen Suchbewegungen zwischen innen und außen, eigen und fremd Grenzverschiebungen vorzunehmen und die Chancen veränderter Lebensbedingungen auszuloten. In der Wechselwirkung dieser verschiedenen Kräfte entsteht ein offenes Feld von Spielräumen und Gestaltungschancen.

In vielen Kulturen ist der einzelne mit dem Fremden nicht allein. Vielmehr werden in und von der Gemeinschaft individuelle Sichtweisen stets aufs neue zusammengeführt. Der Umgang mit Fremdem und mit Fremden wird im Kollektiv durch gesellschaftliche Institutionen wie intertribale Feste, Heirat, Gastfreundschaft und Handel, aber auch Krieg in geregelte Bahnen gelenkt (Bilder 1 und 2).

Die Ausstellung in unserem Museum nähert sich dem Thema auf mehreren Ebenen. Zunächst wird am Beispiel des hiesigen Alltags – dargestellt anhand eines biederen zeitgenössischen Wohnzimmers – verdeutlicht, wie das Fremde im Eigenen längst vertraut und selbstverständlich geworden ist. Vom Raum in die Zeit schreitend, wird sodann offenkundig, daß der Mensch zwar seit je gewissermaßen ein Fremdling auf Erden ist, zusätzlich aber Vertreibung, Flucht und Exilierung in der jüngeren Geschichte für Millionen Menschen willkürlich Not, Leid und Vernichtung gebracht haben.

Eine Inszenierung lädt den Besucher ein, die eigenen Reaktionen auf das Fremde im Spannungsfeld zwischen Angst, Ablehnung, Furcht und Ekel einerseits und Freude, Begehren, Lust und Verklärung andererseits zu überprüfen. Daß moderne Industriegesellschaften mit ihrem Wachstum, ihren Produkten und ihrer Attraktivität Wanderungsprozesse auslösen, durch die Fremde sozusagen massenhaft entstehen, belegt der Hinweis auf die verschiedenen Push- und Pull-Faktoren der internationalen Migration: Symbolen für die Vertreibung stehen solche für die Attraktivität des Lebens und Arbeitens in den Industrieregionen gegenüber – Bürgerkrieg und Landminen hier, Begrüßung des einmillionsten Gastarbeiters in der Bundesrepublik mit einem Moped als Willkommensgeschenk (im Jahre 1964) dort.

Ein besonders interessanter Teil der Ausstellung sind die ethnologischen Beispiele aus Gesellschaften in Afrika, Indonesien, Ozeanien und Amerika. Sie zeigen, mit welchen Mitteln und Institutionen außereuropäische Kulturen den Umgang mit Fremden bewältigen: Man empfängt sie als Gast und weist ihnen vorübergehend einen Platz in der Gesellschaft der Gastgeber zu.

Das indonesische Beispiel verdeutlicht die entsprechenden Vorkehrungen, mit denen die Einheimischen den fremden Gast so integrieren, daß er keinen realen oder symbolischen Schaden anzurichten vermag. Sogenannte Colon-Figuren aus der Bild- und Kunstwelt der Afrikaner repräsentieren den weltweit häufigsten Typ des Fremden: den Weißen, den kolonisierenden Europäer. Ein Fall aus Kenia demonstriert, wie Einflüsse der Moderne auf traditionelle Stammesrechte treffen; bei einem langwierigen Streit um die Beerdigung eines Rechtsanwaltes wurde landesweit die Frage diskutiert, ob über den Tod hinaus eheliche Bindung höher einzuschätzen sei als traditionelle Klan-Zugehörigkeit. Bei den Asmat in Irian Jaya auf Neuguinea war die Kopfjagd Teil eines komplizierten Systems des langfristigen Nebeneinanders verschiedener Gruppen: Der tödlichen Aggression folgten als befriedender Ausgleich rituelle Beziehungen nach dem Vorbild der biologischen Verwandtschaft. Im südamerikanischen Regenwald entwickeln einst verfeindete indianische Gruppen mit neuen Kooperations-, Austausch- und Denkformen ihre Version von Multikulturalität; die Überwindung von Fremdheit zwischen den Gruppen kann sich nur dann vollziehen, wenn der einzelne fähig ist, sich zu verwandeln. Und am zeitgenössischen Beispiel, wie afrobrasilianische Künstler Bedeutung und Attribute der katholischen Maria übernehmen, um eine neue Göttin zu erschaffen, läßt sich ermessen, welche Bedeutung das Aufeinandertreffen mit dem Fremden für die individuelle Kreativität hat.

Die Ausstellung im Frankfurter Museum für Völkerkunde ist ab 10. Mai täglich (außer montags) von 10 bis 17 Uhr geöffnet und voraussichtlich ein Jahr lang zu sehen. Sie wird durch eine Vortragsreihe (bis 13. Juni, jeweils dienstags von 18 bis 20 Uhr) ergänzt. Ein Begleitbuch mit den Texten der Vorträge und Photos zur Ausstellung erscheint in Kürze.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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