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Neurowissenschaften: Gedächtnis.

Die Natur des Erinnerns. Aus dem Englischen von Monika Niehaus-Osterloh. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1999. 247 Seiten, DM 68.–


Der einzige Überlebende des Autounfalls, bei dem am 31. August 1997 Prinzessin Diana und ihr Begleiter Dodi al-Fayed in Paris ums Leben kamen, war ihr Leibwächter Trevor Rees-Jones. Als dieser das Bewusstsein wiedererlangte, konnte er sich zwar noch daran erinnern, sich in den Mercedes gesetzt und den Sicherheitsgurt angelegt zu haben, an das Unfallgeschehen selbst fehlte ihm jedoch jede Erinnerung.

Dies ist nur einer von vielen im Buch genannten Belegen dafür, wie hochkompliziert und zugleich anfällig das menschliche Gedächtnis ist. Die beiden Autoren sind keine Unbekannten: Larry R. Squire ist Professor für Psychiatrie, Neurowissenschaften und Psychologie an der Universität von Kalifornien in San Diego und gilt als renommierter Fachmann auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung. Sein Fachkollege Eric Kandel genießt internationalen Ruhm. Er gründete unter anderem das "Center for Neurobiology and Behavior" in New York, gewann viele bedeutende Wissenschaftspreise und ist Autor mehrerer prominenter Lehrbücher zur Neuropsychologie; darunter ist das auch auf Deutsch erschienene "Neurowissenschaften".

Schon das erste, historische Kapitel des Buches liest sich geradezu spannend. Lange Zeit konnte man trotz intensiver tierexperimenteller Studien kein abgrenzbares Areal im Gehirn finden, in dem das Gedächtnis lokalisiert war. Der kanadischen Psychologin Brenda Milner ist eine Teillösung dieses Rätsels zu verdanken. Sie beschrieb 1957 den Patienten H. M., der sich nach der operativen Entfernung beider Schläfenlappen gar nichts mehr längerfristig merken konnte. Schon eine Stunde nach dem Mittagessen erinnerte er sich weder daran, was es gegeben hatte, noch ob er überhaupt schon etwas gegessen hatte. Nur solange er seine gesamte Aufmerksamkeit bewusst auf ein vorangegangenes Ereignis lenkte, konnte er es sich merken. Am schlimmsten war, dass er ständig vergaß, gravierende Gedächtnisprobleme zu haben.

Wie Brenda Milner später herausfand, konnte H. M. gleichwohl bestimmte motorische Aufgaben erlernen, etwa das spiegelbildliche Abzeichnen eines Sterns, und wurde in dieser Leistung von Woche zu Woche besser. Er selbst behauptete jedoch jedesmal steif und fest, diese Übung noch nie durchgeführt zu haben. Diese Beobachtung gab Anlass zu der noch heute gültigen und wichtigen Trennung zwischen deklarativen und nicht-deklarativen Gedächtnisleistungen.

Ohne Gedächtnis wäre unser Wissen auf den gegenwärtigen Augenblick beschränkt. Mehr noch: Was unseren Charakter und unsere Kenntnisse und Fähigkeiten ausmacht, beruht auf persönlichen Erlebnissen und Erinnerungen. Krankheiten wie die Demenz vom Alzheimer-Typ zeigen auf grausame Weise, wie abhängig wir vom Funktionieren unseres Gedächtnisses sind. Squire und Kandel beschäftigen sich nicht nur mit den bekannten Symptomen der Alzheimer-Demenz, sondern nennen am Ende des Bandes auch Behandlungsmethoden mit gewissen – bescheidenen – Erfolgen.

Was ist die materielle Basis des Erinnerns? Squire und Kandel fangen mit dem überschaubaren Nervensystem und einfachen Lernprozessen bei der Meeresschnecke Aplysia an und arbeiten sich dann langsam Stufe für Stufe zu komplexeren Leistungen vor, von der Habituation über das klassische und operante Konditionieren bis zu höheren kognitiven Lernprozessen. Heute gelingt es, verschiedene Arten des Lernens bis auf die Funktionsweise einzelner Nervenzellen und ihrer Verschaltungen zurückzuverfolgen.

Die Autoren setzen kein Vorwissen voraus, sondern fangen in jedem Kapitel mit den elementaren Dingen an. Für den Fachmann mag manches redundant sein, für den Laien ist das äußerst hilfreich. Zunächst geheimnisvoll klingende Sätze gewinnen bei der Lektüre des Buches plötzlich einen Sinn, Fachausdrücke wie "Second-messenger-System", "Long-term-potentiation", "Genexpression" oder "inhibitorischer Transkriptionsregulator" werden verständlich, und man beginnt zu begreifen, wie Gedächtnisfunktionen sich in einem neuronalen Netzwerk überhaupt manifestieren können.

Der Band endet mit einem Modell, das eine Brücke zwischen Molekularbiologie und kognitiven Neurowissenschaften schlägt: Unabhängig davon, welches Gehirnsystem zum Lernen rekrutiert wird, beruht Erinnerung stets auf einer Veränderung der Verbindungsstärke vieler Schaltstellen zwischen großen Ensembles von Nervenzellen. Diese Molekularbiologie der Kognition ist ein großer Fortschritt; denn nach der Ansicht beider Autoren beantwortet sie viele Fragen – und wirft ebenso viele neue auf.

Apropos: Wissen Sie noch, mit welchem Beispiel diese Rezension begann?

Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 2000, Seite 110
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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