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Gedankenmaterie


"Gedankenmaterie" – so die gelungene Übersetzung des Originaltitels "matière a pensée" – bietet Material zum Denken über das Wesen der Gedanken und die materielle Grundlage unseres Denkens. Jean-Pierre Changeux, Professor für Neurobiologie am Institut Pasteur, und Alain Connes, Professor für Mathematik, beide in Paris, haben als Stilmittel für ihr Buch den Dialog gewählt.

Sich dadurch mit Platon auf eine Stufe zu stellen wäre vermessen; nur im Vorwort wird dezent darauf hingewiesen, daß schon jener die Dialogform wählte, um die Dialektik seiner Philosophie zum Ausdruck zu bringen. Für die Autoren ist dieses Verfahren sehr bequem: Die Textgrundlage lieferten auf Band aufgezeichnete Gespräche. Beim Leser verbleibt stellenweise eine gewisse Frustration, weil These und Antithese eben nicht immer zur Synthese gebracht werden und manche Dialoge zu abrupt enden. Der Gang der Diskussion zeigt alle Schattierungen von wissenschaftlich bis polemisch.

Durch das ganze Buch zieht sich die Frage, ob die Mathematik auch ohne den Menschen existiere, sozusagen als innerste Wesenseigenschaft der Natur, oder erst durch den Menschen geschaffen werde. Es ist die alte Frage des Universalienstreites, die Frage nach dem Wesen des Allgemeinen oder eben Universellen. Auf sie kommen die beiden Autoren auch bei allen anderen im Buch erörterten Problemen immer wieder zurück. Das Themenspektrum ist sehr weit; es reicht von Theorien über die Hirnfunktionen bei geistiger Kreativität und die Frage nach der Konstruierbarkeit von intelligenten Maschinen bis hin zu der Erwägung, ob es eine allgemeingültige Ethik geben könne.

Changeux und Connes begründen ihre jeweiligen Haltungen mit den Erfahrungen aus ihrer Forschertätigkeit. Die in kürzester Form vorgestellten Forschungsergebnisse nachzuvollziehen ist nicht immer ganz leicht. Das Glossar mathematischer, physikalischer und neurobiologischer Fachausdrücke wirkt, obwohl es sich um einen Anhang nur zur deutschen Ausgabe handelt, stellenweise allzu wörtlich aus dem Französischen übersetzt. Auch haben sich in den mathematischen Definitionen etliche Fehler eingeschlichen.

Diese fachlichen Hindernisse beeinträchtigen das Verständnis des Gesamtzusammenhanges aber nicht entscheidend. Die Frage, ob echte künstliche Intelligenz aus unbelebter Materie entstehen könne, wird sogar erstaunlich klar diskutiert. Recht verständlich gelungen ist auch der Abschnitt über ein darwinistisches Konzept in der Neurobiologie. Dabei handelt es sich um den Versuch, Charles Darwins Theorie von der Entwicklung der Arten auf die Entwicklung des menschlichen Gehirns vom Embryo bis zum Erwachsenen zu übertragen: In Analogie zu der Vorstellung von Variation und Selektion würden demnach aus einer Vielzahl von Verbindungen von Nervenzellen geeignete Netze selektiert.

Aus der Sicht des Neurobiologen stellt Changeux vor, was beim Denken und der geistigen Kreativität vor sich gehen könnte. Wer selbst schon viel Mathematik getrieben hat, wird außerdem mit Genuß lesen, wie Connes gänzlich subjektiv die Entstehung einer mathematischen Idee und die damit einhergehenden Gefühle beschreibt: Er erzählt von Holzwegen, Frustrationen, dem Bearbeiten eines Problems im Unbewußten und den Aha-Effekten.

Die Frage aber, was bei der erwähnten Selektion aus einer Vielzahl von neuronalen Netzen "geeignet" heißt, führt Connes und Changeux wieder auf ihre Ausgangsfrage zurück. Woran mißt sich die Entwicklung unserer Gedanken? Hat das, was insbesondere in der Mathematik formuliert wird, unabhängig von seiner Erforschung durch den Menschen eine Realität?

Connes hält die Mathematik für die universelle Sprache schlechthin. Sie existiere auch ohne den Menschen und müsse als etwas, das der Natur innewohnt, entdeckt und nicht erfunden werden. Für Changeux dagegen ist die Mathematik vollständig auf Gehirnaktivitäten rückführbar. Es gebe sie nur in dem Maße, wie der Mensch sie betreibt.

Connes muß sich von Changeux vorwerfen lassen, er "glaube" an eine Mathematik, die es zu entdecken, nicht zu erfinden gelte. Überhaupt sind sämtliche Haltungen, die etwas mit Glauben, Religion oder Metaphysik zu tun haben könnten, für Changeux keiner Diskussion würdig. Das ist ein wenig schade, denn wenn so geniale Wissenschaftler wie Johannes Kepler, Blaise Pascal oder Werner Heisenberg, um nur einige zu nennen, sich durchaus ihre Gedanken zum Thema Religion gemacht haben, warum hält es dann Changeux nicht für nötig, seine Haltung zu begründen?

Die Aufklärung hat ihre Spuren hinterlassen, und Changeux' stark positivistische Einstellung verleitet ihn sogar, eine universelle Ethik, befreit von kulturellen Unterschieden, als Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung für möglich zu halten. Aber wie kann er rein naturwissenschaftliche Grundlagen einer Ethik fordern und gleichzeitig so manche umstrittenen Forschungsmethoden verschweigen?

Connes' Stellungnahme zur Ethik ist zugleich kürzer und differenzierter. Er betont die Ambivalenz der Forschung – die Freude an der Suche nach der Wahrheit und die Gefahren einer unheilvollen Nutzung.

In der Frage, ob die Mathematik nur durch unser Gehirn eine Realität habe, kommen der Biologe Changeux und der Mathematiker Connes zu keiner Einigung. Wie sollten sie auch, ohne sich das Wasser ihrer eigenen Forschung abzugraben? Wer jemals in einer interdisziplinären Gruppe aus Mathematikern und Biologen gearbeitet hat, dem werden die manchmal schwer überwindbaren Mauern aufgrund unterschiedlicher Denkweisen und eines unterschiedlichen Sprachgebrauchs sehr vertraut vorkommen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 1994, Seite 126
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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