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Gehirn, Computer, Komplexität.

Springer, Berlin 1997. 248 Seiten, DM 39,80.


Wenn ein Buch gleich am Anfang seines Vorworts darauf hinweist, daß es genau 40 Jahre nach John von Neumanns Klassiker "The Computer and the Brain" erscheint, weckt es große Erwartungen. Immerhin hat es in diesen 40 Jahren umfangreiche Versuche gegeben, Computer nach dem Vorbild des Gehirns zu bauen und zu programmieren und umgekehrt das Gehirn durch Modellierung mittels Computern zu verstehen. Zudem ist es zum Fokus zahlreicher Disziplinen von der Neurobiologie über die Medizin und Psychologie bis hin zur Informatik und Physik geworden.

Der Augsburger Philosoph Klaus Mainzer will nicht über weltanschauliche Probleme und die zahlreichen Scheinprobleme und Ismen im Zusammenhang mit dem Leib-Seele-Problem schreiben, sondern über die heutigen Forschungsperspektiven, ihre Möglichkeiten, Grenzen und Bewertungen. (Sein eigener Ismus, der Reduktionismus – der Glaube, daß jedes Phänomen auf elementare Bausteine und Prozesse zurückgeführt werden könne –, kommt ihm dabei nicht in den Sinn. Vom Inhaber eines Lehrstuhls für Philosophie und Wissenschaftstheorie hätte ich dazu wenigstens eine Bemerkung erwartet.) Das Ziel sei eine abgesicherte Theorie, mit der wir die Vorgänge in unserem Gehirn besser verstehen könnten, um daraus Konsequenzen auch für Medizin und Psychologie abzuleiten (Seite 4). Am Ende kommt Mainzer zu dem Ergebnis, daß die Erforschung "komplexer dynamischer Systeme" im allgemeinen und des Gehirns im besonderen uns "über die Rahmenbedingungen und Entscheidungsspielräume unseres Handelns" aufklären könne (Seite 220). Schafft er im Laufe des Buches diesen großen Sprung?

In der Tat stellt er ein breites Spektrum an Disziplinen und Methoden und ihre Beiträge zum Verständnis des Gehirns dar. Der erste Teil enthält eine Einführung in die Neurobiologie des Gehirns, von der neuronalen Signalverarbeitung bis hin zu Wahrnehmung, Kognition und Bewußtsein. Im zweiten Teil wendet sich der Autor dem Computer zu und erläutert – nach einem kurzen Ausflug in dessen Geschichte – die wichtigen Begriffe Berechenbarkeit, Entscheidbarkeit und Unvollständigkeit. Dahinter steht die Frage: Welche prinzipiellen Leistungsgrenzen haben Computer? Und welche Rolle spielt der Gödelsche Unvollständigkeitssatz, demzufolge formale Systeme einer gewissen Mindestgröße (die mindestens die Arithmetik umfassen) stets wahre Sätze enthalten, die in diesem System nicht bewiesen werden können? Diese nicht nur Mathematiker beunruhigende Einsicht wird seit Jahrzehnten in den verschiedensten Varianten als Argument dafür herangezogen, die Computer könnten niemals die Intelligenz des Menschen erreichen; denn letzterer kann eben die Wahrheit auch dieser Sätze beweisen – außerhalb des gegebenen formalen Systems.

Mainzer kommt hier zu dem erfreulich nüchternen Ergebnis, daß der Gödelsche Satz nur für ein statisches System gilt, nicht aber für ein mit seiner Umwelt interagierendes und daraus lernendes System. Auch ein Quantencomputer (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1995, Seite 62) könne diese prinzipiellen Leistungsgrenzen nicht überschreiten, da er sich im wesentlichen nur durch die Fähigkeit zur parallelen Datenverarbeitung von einem gewöhnlichen Computer unterscheide. "Das Gehirn mit seiner Fähigkeit zu nicht-algorithmischem Denken (z. B. in der Mathematik) ist also ebensowenig ein Quantencomputer, wie es früher mit einer von-Neumann-Maschine identifiziert werden konnte" (Seite 101).

Weniger gelungen ist ein Kapitel über Künstliche Intelligenz (KI). Seine Quellen sind inzwischen ein bißchen verstaubt. Allzu beliebig ist die Auswahl der Themen; so bleibt maschinelles Lernen – ein eigentlich für das Buch zentrales Thema – gänzlich unerwähnt. Und der abschließende Hinweis auf die grundsätzliche Verschiedenheit der Arbeitsweise von Computern und Gehirnen – etwa deren komplexe Vernetzung oder die Einbeziehung von Emotionen – ist viel zu wenig, um Erfolge und Mißerfolge der KI und ihr gegenwärtiges Stagnieren zu verstehen.

Im dritten Teil "Komplexität und Dynamik neuronaler Netze" kommt der Autor dann zu seinem eigentlichen Thema. Anhand von Beispielen führt er in die Chaostheorie ein und beschreibt die Funktionsweise neuronaler Netze und deren Anwendung auf die Simulation von Wahrnehmung, Bewegung und Kognition. Im Kern geht es ihm dabei – zusammen mit den beiden ersten Teilen des Buches – um folgendes:

"Zunächst wurde in diesem Buch gezeigt, daß ein Gehirn nicht wie ein von-Neumann-Computer aufgebaut ist und funktioniert (Teile I-II)... Erweitern wir also den Begriff des Computers vom herkömmlichen ,Rechner' (im Sinne von Neumanns) zum komplexen dynamischen System, so handelt es sich nicht bloß um eine äußere Analogie oder Metapher. Es handelt sich um ein Modell, das uns erst die innere Dynamik des Gehirns zeigt" (Seite 207 und folgende). Vom Nachweis dieser Behauptung bleibt der Autor allerdings weit entfernt.

Seine Erklärungen bleiben dabei schon im Elementaren stecken: Was ist ein komplexes System, und wie unterscheidet es sich von einem nicht-komplexen? Im diesbezüglichen 8. Kapitel beschreibt er lediglich die üblichen Beispiele der Chaos-Forschung wie Bénard-Konvektion, Lorenz-Attraktor und Schmetterlingseffekt (Spektrum der Wissenschaft, Februar 1987, Seite 78) und verweist auf "nichtlineare Wechselwirkungen" (ohne diese zu erläutern). Aber schon ein einfaches Doppelpendel hat eine nichtlineare Dynamik. Wie kann man da hoffen, allein mit diesem Begriff zu einem Verständnis von Gehirn und Geist zu kommen? Dazu wäre es nötig, die wesentlichen Unterschiede zwischen Gehirnen und Nicht-Gehirnen mit ihren zugrundeliegenden Begriffen und Prozessen zu finden. Die Gemeinsamkeiten zwischen einem Gehirnprozeß und der Dynamik des Wetters – etwa deren begrenzte Vorhersagbarkeit – helfen dabei nicht weiter.

Des weiteren beruht die Begeisterung des Autors über die Erklärungskraft komplexer dynamischer Systeme auf neuronalen Netzen (Spektrum der Wissenschaft, November 1992, Seite 134), die kognitive Prozesse simulieren sollen, so etwa dem System NETalk des amerikanischen Neuroinformatikers Terrence J. Sejnowski, das die Aussprache geschriebener Texte aus Beispielen lernt (Kapitel 10). Lassen wir die Frage beiseite, inwieweit solche Simulationen kognitive Prozesse erklären. Welchen Beitrag leistet die Theorie komplexer dynamischer Systeme überhaupt zum Verständnis neuronaler Netze? Der Autor bezeichnet sie lediglich als "Beispiele für komplexe Systeme mit wechselwirkenden technischen Neuronen. Sie sind nach dem Vorbild sich selbst organisierender Systeme gebaut" (Seite 143). Im folgenden beschreibt er unter anderem die von der Physik inspirierten Hopfield-Systeme und Boltzmann-Maschinen (Seite 151 und folgende) und hebt bei der Beschreibung eines Wiedererkennungsprozesses hervor, daß es sich dabei um einen Phasenübergang zu einem Zielattraktor handele, der "ohne zentrale Programmsteuerung durch Selbstorganisation geschieht" (Seite 154 und an vielen anderen Stellen). Ist das alles, was die Theorie komplexer dynamischer Systeme zu neuronalen Netzen zu sagen hat? Ansätze zu einer wissenschaftlichen Theorie finden sich noch am ehesten im 11. Kapitel, wo der Autor Versuche beschreibt, Meßwerte von Krankheitsverläufen mit dieser Theorie zu modellieren.

Am Ende hat Mainzer den Gang der wissenschaftlichen Beweisführung auf den Kopf gestellt: Ein Gehirn arbeite "weitgehend dezentral, parallel, lernfähig, fehlertolerant und in begrenztem Maße regenerierungsfähig. Es verwirklicht mit anderen Worten die Prinzipien eines komplexen dynamischen Systems" (Seite 207). Ohne Zweifel gibt es Analogien zwischen Gehirnen und komplexen dynamischen Systemen. Aber gezeigt hat der Autor nur, daß bestimmte Begriffe aus der menschlichen Erfahrung, wie etwa Fehlertoleranz, Eigenschaften komplexer dynamischer Systeme beschreiben können (mancher Systeme – welchen Sinn hätte es zu sagen, das Wetter sei fehlertolerant?). Vom Nachweis der Behauptung, daß ein Gehirn diese zu Prinzipien erhobenen Eigenschaften verwirklicht, ist er aber noch weit entfernt.

So bietet dieses Buch seinen Lesern ein prächtiges Mosaik seines Gegenstandes, das mit vielen Abbildungen und in verständlicher Sprache fast kein Thema ausläßt; unter anderem geht es auch um Neuroprothesen, Cyberspace, Computernetze, künstliches Leben und Ethik. Ein schlüssiges Gesamtbild ist daraus allerdings nicht geworden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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