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Gekrümmter Raum und verbogene Zeit. Einsteins Vermächtnis

Aus dem Amerikanischen
von Doris Gerstner und Shaukat Khan.
Droemer Knaur, München 1994.
720 Seiten, DM 58,-.

"Jeder Straßenjunge in Göttingen versteht mehr von der vierdimensionalen Geometrie als Einstein." Was trieb Anfang unseres Jahrhunderts den höchst angesehenen Mathematiker David Hilbert (1862 bis 1943), Professor in Göttingen, zu dieser Äußerung? Warum waren in den dreißiger Jahren ehrenwerte Wissenschaftler der Meinung, daß es nicht ratsam sei, die ebenso honorigen Walter Baade (1893 bis 1960) und Fritz Zwicky (1898 bis 1974), beide als Astrophysiker in Amerika tätig, zusammen in ein Zimmer zu stecken?

Die Geschichte der Relativitätstheorie und ihrer Anwendungen auf solch exotische Himmelskörper wie weiße Zwerge, Neutronensterne und Schwarze Löcher war mitbestimmt von Eitelkeit, sturem Konservatismus und einem guten Schuß Revoluzzertum. Kip S. Thorne, theoretischer Physiker am California Institute of Technology in Pasadena, erzählt diese Geschichte in aller Ausführlichkeit, dabei überaus spannend und unterhaltsam. Man fühlt sich hineinversetzt in die Studierstuben, Forschungslabors, Vorlesungs- und Konferenzsäle.

Ist eines der 14 Kapitel abgeschlossen, stellt der Leser fest, daß er ganz nebenbei ein gutes Stück der schwierigsten Theorie gelernt hat. In erster Linie woll-te der Autor sicherlich ein Buch über die Physik selbst schreiben; er benutzt die Wissenschaftshistorie aber geschickt als didaktisches Vehikel. Nach einem schwierigen Stoffbrocken wird die nächsten zwei Seiten erst einmal locker geplaudert.

Thorne hat selbst entscheidende Beiträge zur Erforschung der Schwarzen Löcher und der Gravitationswellen geleistet. Er und Charles W. Milsner (geboren 1932) haben zusammen mit ihrem Mentor John Archibald Wheeler (geboren 1911) den brillanten, aber sehr anspruchsvollen Klassiker "Gravitation" verfaßt. In dem vorliegenden Buch kommt Thorne gänzlich ohne mathematischen Formalismus aus, was aber nicht bedeutet, daß dem Leser etwas vorenthalten bliebe. Selbst ein so schwieriges formales Gebilde wie das System der Einsteinschen Feldgleichungen wird mit einfachen Worten beschrieben.

Das Buch mit dem Originaltitel "Black Holes & Time Warps – Einstein s Outrageous Legacy" erschien als neuntes in einer vom Commonwealth Fund herausgegebenen Reihe, in der herausragende Wissenschaftler eingeladen werden, ihr Forschungsgebiet dem gebildeten Laien nahezubringen. Thorne beginnt mit einer Science-fiction-Story: Der Leser ist Kommandant eines Raumschiffes, mit dem er nacheinander Schwarze Löcher verschiedener Massen in den Weiten des Universums besuchen und durch Experimente erforschen soll. Das scheinbar paradoxe Verhalten von Raum und Zeit wird auf dieser Reise im Wortsinne erfahren: Man bekommt Lust, sich in das Thema zu vertiefen.

Warum startete Albert Einstein (1879 bis 1955) seinen umstürzlerischen Angriff auf die klassische Physik? Warum glaubte er – ganz konservativ – nicht an die Existenz Schwarzer Löcher? Die Antworten gibt Thorne in den daran anschließenden Kapiteln. Er erzählt unter anderem auch die Geschichte des Sankt Petersburger Physikers und Nobelpreisträgers Lew Dawidowitsch Landau (1908 bis 1968) und seiner spektakulären Theorie zur Energieerzeugung von Sternen: In jedem normalen Stern steckt womöglich ein äußerst kompakter Klumpen aus Neutronen mit einer Dichte von einer Million Tonnen pro Kubikzentimeter. Landau äußerte diese Vorstellung nicht primär aus wissenschaftlichen Gründen, er wollte sich vielmehr durch Erregung von internationalem Aufsehen vor der stalinistischen Verfolgung schützen. Tatsächlich trug er auf diese Weise, auch wenn er für normale Sterne nicht Recht behielt, entscheidend zum Verständnis der Neutronensterne bei, jener Relikte der gewaltigen Supernova-Explosionen.

Wir erfahren, wie der Zweite Weltkrieg und die anschließende Zeit des Eisernen Vorhangs auf die Astrophysik Einfluß nahmen, indem nämlich die besten Forscher in Ost und West sich mit der Entwicklung der Atom- und der Wasserstoffbombe befaßten. Einerseits klaffte dadurch eine Lücke von etwa 15 Jahren im Fluß der Forschung, andererseits fanden die mit Nachdruck fortentwickelte Kernphysik und die zum Bau der Bomben unerläßlichen Elektronenrechner Einsatz in der Astrophysik.

Die letzten Kapitel behandeln die aktuelle Forschung: die Beobachtung von Quasaren und Radiogalaxien, die Suche nach Schwarzen Löchern und Gravitationswellen sowie die theoretischen Kontroversen um kosmische Wurmlöcher und Zeitmaschinen. Abgerundet wird das Buch durch Kurzbiographien, eine Zeittafel und ein Glossar – das alles auf immerhin 100 Seiten. Ein Stichwortregister macht das Buch auch zum nützlichen Nachschlagewerk.

Sonst kein Freund sehr dicker Bücher, habe ich dieses nach wenigen Tagen verschlungen und war begeistert. Mir fehlten allein die wichtigsten Formeln. Thorne hätte sie ruhig in separaten Kästen angeben können, um die "abstrakte Anschaulichkeit" für Leser mit mathematischer Grundausbildung zu erhöhen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1996, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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