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Gene, Völker und Sprachen. Die biologischen Grundlagen unserer Zivilisation.

Aus dem Italienischen von Günter Memmert. Hanser, München 1999. 252 Seiten, DM 45,-.

Die Frühgeschichte des modernen Menschen von seiner Entstehung vor etwa 100000 Jahren bis zur Entstehung der Schrift schien aus Mangel an Dokumenten für immer ein dunkles Geheimnis bleiben zu müssen, denn die äußerst interessanten, aber leider seltenen Funde von Menschen aus der Steinzeit geben nur unzureichende Antworten.

Im Jahre 1951 machte es sich Luigi Luca Cavalli-Sforza zur Lebensaufgabe, diese dunkle Periode der Menschheitsgeschichte aufzuklären. Der Genetiker und Anthropologe, der heute an der Universität Stanford (Kalifornien) lehrt, unternahm es, die Stammbäume von genetischer Verwandtschaft einerseits und Sprachverwandtschaft andererseits aufzuklären und gegeneinander abzugleichen (siehe seinen Artikel in Spektrum der Wissenschaft 1/1992, S. 90). Heute gilt er zu Recht als der Vater der genetischen Geschichtsforschung sowie als Begründer der quantitativen The-orie der kulturellen Evolution. Seine Methoden lieferten ihm Antworten auf wichtige Fragen wie: Gab es eine einzige oder mehrfache Entwicklungen von unseren tierischen Vorfahren zum modernen Menschen? Wie enstanden die heutigen ethnischen Gruppen, Völker und Sprachen? Was sind ihre verwandtschaftlichen Beziehungen? Gibt es menschliche Rassen mit bedeutenden genetischen Unterschieden? Sind, wie manche behaupten, die Unterschiede in der Entwicklung zwischen Ländern der Dritten Welt und den Industrienationen biologisch bedingt? Wie werden kulturelle Neuerungen weitergegeben, und welchen Einfluß hat die Art der kulturellen Übertragung auf den gesellschaftlichen Fortschritt?

Die faszinierenden Ergebnisse seiner Forschungsarbeiten zeichnen ein Bild der menschlichen Geschichte und Zukunft. Ausgehend von Afrika haben wir Menschen uns dank unserer Anpassungsfähigkeit rasant vermehrt und die gesamte Erde erobert. Genetisch enstanden wir vor circa 100000 Jahren in Afrika. Einige Gruppen gingen vor etwa 70000 Jahren eigene Wege: von Nordafrika aus der Südküste Asiens folgend auf dem Wasserwege nach Asien, Australien und über die Beringstraße nach Amerika. Europa wurde als letzter oder vorletzter Kontinent besiedelt.

Räumliche Trennung, Anpassung an das Klima und unterschiedliche Schönheitsideale bei der Partnerwahl (sexuelle Selektion) führten zu den erkennbaren Unterschieden in Körperbau, Hautfarbe und Sprache. Dem äußeren Anschein zum Trotz sind die genetischen Unterschiede zwischen den großen Menschengruppen jedoch so minimal und ihre Merkmale so vielfältig überlappend, dass Rasseneinteilungen weder durchführbar noch sinnvoll sind. So sind die Europäer genetisch gesehen eine Mischrasse aus Afrikanern und Asiaten.

Der Rassismus hat keine genetische Grundlage, sondern basiert auf dem psychologischen Bedürfnis nach unangreifbarer Überlegenheit und Dominanz. Unterschiede zwischen den Völkern basieren weit weniger auf unterschiedlichem Erbgut als auf unterschiedlichen Übertragungsmechanismen von technischen und sozialen Innovationen. Abhängig von der relativen Bedeutung einzelner kulturel-ler Kommunikationsmechanismen entwickelt sich eine Gesellschaft mehr oder weniger konservativ. Dies zu vermitteln und damit alten und neuen Nazis ihre Argumente zu entziehen ist Cavalli-Sforza ein besonderes Anliegen (vergleiche sein Buch „Verschieden und doch gleich“, besprochen in Spektrum der Wissenschaft 5/1995, S. 132).

Unsere Vergangenheit ist geprägt von Zyklen aus Innovation, nachfolgendem Bevölkerungswachstum, Ressourcenknappheit und Migration: Durch die Erfindung der Steinwerkzeuge nahm die durch Jagd ernährbare Bevölkerung zu; in der nächsten Knappheitsphase folgten Emigration aus Afrika und Ausrottung von ganzen Tierarten. Dank der Innovation des Ackerbaues im Nahen Osten wuchs dort die Bevölkerung; die Ackerbauern verbreiteten sich schrittweise nach Europa und verdrängten dort die von der Jagd lebenden Cro-Magnon-Menschen, deren einzige Nachkommen die Basken zu sein scheinen. Solch faszinierende Einsichten ergeben sich aus den von Cavalli-Sforza erstellten Gen-Karten der Welt und seinen Hauptkomponenten-Analysen der genetischen Variation.

Wohin geht die Reise der Menschheit? Nach Auffassung Cavalli-Sforzas hängt die Zukunft des Menschen weitestgehend von der kulturellen Evolution basierend auf Innovationen und Kommunikation ab, da verglichen mit ihr

die genetische Evolution des Menschen nicht nur bedeutend langsamer ist, sondern auch zum Stillstand kommen dürfte.

Der Inhalt des Buches geht weit über die hier gegebene Zusammenfassung hinaus. Nirgendwo sonst findet sich eine derartige allgemein verständliche Synthese aus genetischen, anthropologischen, archäologischen und linguistischen Forschungsergebnissen, um die frühe Geschichte des Menschen und seine zukünftige Entwicklung zu erhellen. Die von Cavalli-Sforza propagierte Strategie der „Parallelforschung“ läuft auf eine Fortsetzung der geisteswissenschaftlichen Forschung mit anderen Mitteln, vor allem aus Molekulargenetik und Mathematik, hinaus. Offensichtlich ist Cavalli-Sforza einer der ganz wenigen Intellektuellen, denen es trotz der Wissensexplosion noch gelingt, die Kluft zwischen den zwei Kulturen der Natur- und der Geisteswissenschaften zu überwinden.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2000, Seite 105
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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