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Genetik und Ethik. Die Revolution der Humangenetik und ihre Folgen.

Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt und Barbara Schaden. Luchterhand, München 1998. 447 Seiten, DM 48,–.

Eugenik gilt als ein Wort von Schimpf, Scham und Schande. Auf dem Internationalen Genetik-Kongreß in Peking im August 1998 empfahlen etliche Teilnehmer, bei Diskussionen über die neue Humangenetik tunlichst dieses Wort zu vermeiden, weil es durch bittere historische Erfahrungen belastet ist. Und daß das vorliegende Buch, das im Original schon 1996 unter dem Titel „The Lives to Come“ in den USA erschienen war und dort erhebliches Aufsehen erregt hatte, erst vor kurzem, mit branchenunüblicher Verzögerung, in Deutschland herauskam, liegt angeblich daran, daß sich kein deutscher Verlag so recht an die Übersetzung heran getraut habe. Das Thema sei hierzulande einfach zu brisant.

Von solchen Bedenken waren vor über hundert Jahren die Schöpfer der Eugenik in England frei. Der Gedanke, die Vermehrung wertvoller Menschen zu fördern und die wertloser zu verhindern – wie immer man den Wert eines Menschen zu bestimmen gedachte –, war Thema öffentlicher Vorträge und Diskussionen in Honoratioren-Vereinen, gewerkschaftlichen und kirchlichen Gruppen, in Schulen und Universitäten, in den USA noch weit mehr als in Europa.

In den USA wurden Ideen der Eugenik auch zuerst politisch umgesetzt, etwa durch selektive Einwanderungsgesetze und durch zwangsweise Sterilisationen von zehntausenden „Wertlosen“. Das waren alle, die nicht in das Raster von Wohlverhalten, Fleiß, Anstand und Sauberkeit paßten: Arbeitsunwillige und Arbeitsscheue, Hilfsschüler und Fürsorgeempfänger, geistig Behinderte und Geisteskranke, Alkoholiker und Gewaltverbrecher. Erst Mitte der dreißiger Jahre setzte sich, vor allem unter dem Einfluß prominenter Genetiker, die Einsicht durch, daß die Beziehung zwischen Genen und komplexen menschlichen Verhaltensformen alles andere als einfach ist, in vielen Fällen gar nicht existiert, und daß deswegen die Eugenik-Aktionen der Willkür Tür und Tor öffneten.

Das war das Ende der alten Eugenik in den USA, nicht aber im Deutschland der Nazizeit, wo diese Ideologie nicht allein als Rechtfertigung für zwangsweise Sterilisationen, sondern darüber hinaus für die Tötung kranker Menschen und für Völkermord herhalten mußte. Die Eugenik hatte ihre Unschuld verloren, vielleicht auch nie besessen, und gilt heute als eine der tödlichen Ideologien des Jahrhunderts.

Eine unschuldige Art von Eugenik wurde jedoch weiterhin praktiziert, wenn auch nicht unter diesem Namen. Ein berühmtes Beispiel ist die Eindämmung der Tay-Sachs-Krankheit. Die Erbkrankheit, der Kinder in den ersten Lebensjahren qualvoll zum Opfer fallen, befiel vor allem jüdische Menschen osteuropäischer Herkunft. Mit einfachen Testverfahren läßt sich feststellen, ob ein Mensch ein geschädigtes Tay-Sachs-Gen trägt. Wenn zwei von ihnen sich für Heirat und Kinder entschließen, werden sie darüber aufgeklärt, daß durch vorgeburtliche Diagnostik verläßlich nachweisbar ist, ob ein Fetus von beiden Elternteilen ein geschädigtes Gen geerbt hat. In diesem Fall entscheiden sich die Eltern fast immer für den Abbruch der Schwangerschaft, so daß die Tay-Sachs-Krankheit nur noch sehr selten vorkommt. Das Programm war erfolgreich, auch weil Meinungsträger in den Gemeinden wie Lehrer und Geistliche es unterstützten. Ähnlich erfolgreich waren die Programme der „Community Genetics“ auf den Mittelmeer-Inseln Sardinien und Zypern, wo zuvor die Erbkrankheit Thalassämie viele Opfer gefunden hatte.

Philip Kitcher spricht nun in seinem Buch wieder von Eugenik; mehr noch: „Eugenik ist unausweichlich“ (Seite 363). Der Autor ist ein Philosoph, der sich mehr als die meisten anderen seines Faches mit der Genetik beschäftigt hat. Denn er gehört zu der Gruppe der Nicht-Biologen und Nicht-Mediziner, die das amerikanische Human-Genom-Projekt begleiten.

Dieses Projekt hat die Entzifferung des gesamten menschlichen Erbgutes zum Ziel. Als es vor etwa zehn Jahren erstmals öffentlich diskutiert wurde, war allen Beteiligten klar, daß es alles bisher in der Biologie Gewohnte übertreffen würde, was Methodik, Technologie, Organisation und vor allem Kosten angeht, aber auch, daß die Ergebnisse von unschätzbarem Wert für die biologische Grundlagenforschung und für die praktische Medizin sein werden. Heute kennen wir schon mehrere tausend menschliche Gene, darunter auch solche, die für die meisten der typischen Erbkrankheiten verantwortlich sind. Und alle Kenner der Verhältnisse gehen davon aus, daß irgendwann in den Jahren zwischen 2003 und 2008 alle hunderttausend menschlichen Gene bekannt sein werden, dazu die langen Strecken des zwischengeschalteten Erbmaterials.

Von Beginn an war aber auch klar, daß die Ergebnisse des Human-Genom-Projektes enorme Bedeutung für die menschliche Gesellschaft haben werden. Die Amerikaner mit ihrer Vorliebe für Akronyme sprechen von ELSI: ethical, legal, social issues. Ein Teil der Mittel für das Human-Genom-Projekt wird für ELSI eingesetzt; in diesem Umfeld ist das Buch entstanden.

Für Nicht-Fachleute ist als Einstieg in die Molekulare Genetik das erste Kapitel „Bausteine des Lebens“ gedacht. Aber die übrigen zwölf Kapitel gehen alle an, die sich für die Zukunft der Medizin, überhaupt für die Zukunft der Gesellschaft in unserer westlichen Zivilisation interessieren.

Schon heute sind Dutzende von Erbkrankheiten verläßlich diagnostizierbar, und „im Jahre 2020 [werden] Tests für hunderte, wenn nicht tausende unterschiedlicher Krankheiten verfügbar sein, … doch bei wenigen Tests wird die Diagnose schon mit einer Therapie einhergehen.“ Man muß kein Prophet sein, um diesen Aussagen Kitchers zuzustimmen. Seine Fragen liegen auf der Hand: „Ist die Information, ein Nebenprodukt der molekularbiologischen Revolution, wissenswert? Werden die Hunderte von Tests als Befreiung oder als Bürde angesehen?“ Als Bürde, weil Ergebnisse von Gen-Tests die Betroffenen lange vor Ausbruch der Krankheit psychisch belasten und sie von Arbeitgebern, Versicherungen und Behörden ausgenutzt werden könnten; oder weil vorgeburtliche Untersuchungen eine Erbkrankheit bei einem Fetus aufdecken werden und Eltern dann vor der schweren Entscheidung für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch stehen.

Kitcher scheut sich nicht, von Eugenik zu reden, allerdings mit dem – unglücklich gewählten – Attribut „utopisch“; besser wäre vielleicht „aufgeklärte Eugenik“ oder ein ganz anderes Wort. Aber trotz der Einwände gegen die Wortwahl unterstütze ich sein Plädoyer für eine behutsame und intelligent kontrollierte Anwendung molekulargenetischen Wissens, auch wenn das noch keine therapeutischen Konsequenzen hat.

Die utopische Eugenik ist ein Angebot an alle, die Rat suchen, unabhängig von Einkommen, Bildungsstand und ethnischem Hintergrund. Eltern entscheiden autonom, auf der Grundlage absolut verläßlicher Informationen und nach eingehender, ergebnisoffener Beratung. Sie können, aber müssen nicht das Angebot einer vorgeburtlichen Diagnostik annehmen. Sie können sich bei ungünstigem Test-Befund für oder gegen den Abbruch der Schwangerschaft entscheiden. Autonomie gilt als das vermutlich wichtigste Mittel gegen eine Auferstehung der alten Eugenik in der neuen Welt der molekularen Medizin.

Die utopische Eugenik stellt auch eine Forderung an die Gesellschaft: Sie muß die Autonomie der Eltern akzeptieren. Falls Eltern sich gegen den Abbruch der Schwangerschaft entscheiden, muß die Gesellschaft die Möglichkeiten zur Pflege und Erziehung des erbkranken Kindes bieten, nicht anders, als wenn ein Kind geschädigt durch Infektionen oder durch Komplikationen während Schwangerschaft und Geburt zur Welt kommt.

Philip Kitcher hat die Konsequenzen der heutigen und zukünftigen molekularen Humangenetik sorgfältiger und gründlicher durchdacht oder jedenfalls beschrieben als andere vor ihm, nach meinem Geschmack manchmal sogar zu gründlich, denn auf nicht wenigen Seiten verliert man den roten Faden der Argumentation durch zu viele und manchmal auch zu weit hergeholte Beispiele. Aber womöglich werden andere Leser finden, daß das Buch damit lebendiger oder auch besser lesbar wird. Nach meiner Einschätzung hat Kitcher ein Standardwerk geschrieben, das niemand ignorieren kann, der an ELSI im Zusammenhang mit der neuen Genetik interessiert ist.

Zu den Krankheiten, die das Human-Genom-Projekt erforschen soll, gehören nicht nur die sogenannten klassischen Erbkrankheiten, die jeweils für sich genommen selten sind, sondern auch die häufigen Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Arteriosklerose, Rheuma und die großen Psychosen. Erst wenn deren Ursachen einschließlich der genetischen Komponenten bekannt sind, kann sinnvolles Nachdenken über neue Therapiemöglichkeiten beginnen. Aber historische Beispiele lehren Geduld: Robert Koch hat den Erreger der Tuberkulose im Jahre 1883 beschrieben, aber erst nach 1950 gelangten wirkungsvolle Medikamente in die Hände der Ärzte.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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