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Gensequenzen und Ziffernfolgen

Die DNA des Gefleckten Zitterrochens weist überraschende Beziehungen zur reinen Mathematik auf.

Es scheint bislang eher die Ausnahme als die Regel zu sein, daß eine arithmetische oder geometrische Beziehung in – mehr oder weniger – exakter Form in lebenden Organismen realisiert ist. Mehrzählige Symmetrien bei Blütenblättern und das Auftreten der Fibonacci-Folge – 1, 1, 2, 3, 5, 8, 13..., wobei jedes weitere Glied die Summe der beiden vorhergehenden ist – in der spiraligen Anordnung der Kerne von Sonnenblumen und der Schuppen von Kiefern- und Tannenzapfen sind vielzitierte Beispiele (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, November 1995, Seite 10). Immerhin findet sich dadurch auch der Grenzwert des Quotienten aufeinanderfolgender Glieder der Fibonacci-Folge im Pflanzenreich wieder. Es handelt sich um die Maßzahl (1+SQRT5)/2 des Goldenen Schnitts, was belegt, daß das Irrationale dem Reich des Lebendigen durchaus nicht fremd ist.

Schon weniger bekannt ist das auffällige Auftreten von Primzahlen im Lebenszyklus gewisser Insekten. Einige Zikadenarten im Mittleren Westen der USA schlüpfen alle 13 beziehungsweise 17 Jahre in Massen aus, während ihre Larven die Zwischenzeit im Boden verbringen. Der Evolutionsbiologe Stephen J. Gould von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) vermutet, daß die Zikaden es auf diese Weise ihren Freßfeinden mit zwei-, drei-, vier- oder fünfjährigem Fortpflanzungszyklus besonders erschweren, genau dann massenhaft zur Stelle zu sein, wenn es reichlich Zikaden zu fressen gibt.

In diesem Zusammenhang ist eine aktuelle Entdeckung unserer Arbeitsgruppe als besonders überraschend zu bewerten: Im Januar dieses Jahres fanden wir auf Chromosom 3 des Gefleckten Zitterrochens (Torpedo torpedo), eines bis zu 60 Zentimeter langen Fisches, der im östlichen Atlantik und im Mittelmeer lebt, eine Nucleotidsequenz, die mit der mathematischen Konstante PI eng verknüpft ist. Die ersten 20 signifikanten Basen dieses Chromosoms lauten GATCAAGGGCTTTTATATAC, wobei wie üblich A für Adenin, C für Cytosin, T für Thymin und G für Guanin steht. Man ersetze nun A durch 0, C durch 1, T durch 2 und G durch 3; diese Zahlen, im Binärsystem geschrieben, liefern die genaueste Wiedergabe der Komplementaritätsbeziehungen zwischen den Purinbasen A und G und den Pyrimidinbasen Thymin und Cytosin. Es ergibt sich die Ziffernfolge 3,0210033312222020201. Das aber sind genau die ersten 20 Ziffern der Kreiszahl PI in der Darstellung zur Basis 4. Man überzeugt sich leicht, daß

(3,0210033312222020201)4

=3+2×4-2+1×4-3+...+1×4-19

=3,141592653588304

auf zwölf dezimale Stellen korrekt ist.

Das allein wäre noch nicht sonderlich erstaunlich. In Anbetracht der Tatsache, daß in den Gen-Datenbanken weltweit bereits Sequenzen mehrerer Milliarden Basenpaare dokumentiert sind und sich diese Datenflut ungefähr alle zwei Jahre verdoppelt, ist die Wahrscheinlichkeit, irgendeine beliebig vorgegebene Folge von 20 Basenpaaren in dem Fundus vorzufinden, zwar gering, aber nicht vernachlässigbar.

Nun stimmen aber nicht nur die ersten 20, sondern die ersten 193 Nucleotide mit der Darstellung von PI zur Basis 4 überein (Bild). Das ist unter keinen Umständen mehr mit einer zufälligen Koinzidenz zu erklären.

Den entscheidenden Hinweis zu dieser Entdeckung verdanken wir dem italienischen Mathematiker Francesco Vizzoboldi, der als Gastwissenschaftler an unserem Institut weilte und bei einem zufälligen Blick auf die von uns gefundene Basensequenz die Darstellung der Kreiszahl zur Basis 4, die er im Kopf hatte, sofort wiedererkannte. Durch eine Unstimmigkeit an Stelle 43 wurden wir sogar veranlaßt, die Untersuchung zu wiederholen; und tatsächlich stellte sich heraus, daß unsere erste Sequenzierung an dieser Position fehlerhafterweise G ergeben hatte. Richtig ist hingegen A, in Übereinstimmung mit dem mathematischen Faktum.


Ist Gottes Nutzenfunktion mit PI zu berechnen?

Das Resultat wirft die naheliegende Frage auf, welchen evolutionären Nutzen ein Fisch beziehungsweise sein Genom daraus zieht, das Verhältnis von Durchmesser zu Umfang eines Kreises mit derartiger Genauigkeit in seinem Erbgut zu speichern. Über Antworten kann zur Zeit nur spekuliert werden.

Möglicherweise dient das Gen seinem Träger, die Zellen seiner Hypophyse zu formen, deren perfekte Kugelgestalt bereits die Naturforscher des vorigen Jahrhunderts fasziniert hatte. Verfechter einer anderen Hypothese verweisen darauf, daß der Fisch zur Erzeugung der elektrischen Spannungen von bis zu 200 Volt, mit denen er seine Opfer betäubt, in irgendeinem Sinne die Maxwellschen Gleichungen der Elektrodynamik beherrschen müsse, in denen bekanntlich die Konstante PI an prominenter Stelle vorkommt.

Aus Anlaß des Befundes an Torpedo torpedo wird gegenwärtig das komplette Genom der Australischen Rotrückenspinne (Latrodectus hasselti) in mehreren Laboratorien des fünften Kontinents sequenziert. Erst seit kurzem weiß man, daß die Männchen dieser Tierart bei der Begattung sich selbst ihren Partnerinnen zum Fraße darzubieten pflegen; aber selbst diese aufopferungsvolle Form der Liebe wäre nicht so sensationell wie eine Bestätigung der Vermutung, daß die Weibchen ihren perfekt kugelförmigen Leib ebenfalls einer Realisierung von PI in ihrem Erbgut verdanken.

Weil die stammesgeschichtliche Verwandtschaft zwischen Spinnen und Fischen nicht sonderlich eng ist und die Kugelform oder andere Indizien für PI unter ihren gemeinsamen Verwandten nicht mit signifikanter Häufigkeit vorkommen, wäre eine solche Übereinstimmung kaum anders als mit konvergenter Evolution zu erklären. Die ersten Indizien sind ermutigend; eine Bestätigung steht jedoch noch aus.

Ein ebenfalls sehr aussichtsreicher Kandidat für inhärentes PI wäre der Rollwurm Pedalternorotandomovens centroculatus articulosus, den Maurits C. Escher erstmals 1951 in den Niederlanden beschrieben hat. Eine eingehendere Untersuchung scheiterte jedoch bislang daran, daß nicht genügend Exemplare dieses sehr scheuen und zur extrem schnellen Flucht fähigen Tieres zu beschaffen waren.


Genetische Algorithmen

Die bedeutendsten Folgen dieser Entdeckungen ergeben sich für die Mathematik selbst. Offensichtlich hat die Natur das, was die Theoretiker unter dem Namen "genetischer Algorithmus" (vergleiche Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 44) erst in den letzten Jahren bis zur Anwendbarkeit entwickelt haben, längst vorweggenommen. Ebenso wie die künstlichen dienen die natürlichen genetischen Algorithmen allem Anschein nach zur Lösung nicht nur drängendster Überlebensprobleme, sondern auch eher theoretisch bedeutsamer Optimierungsaufgaben.

Unter diesen Umständen wird es zunehmend fragwürdig, wenn Mathematiker Monate von Computer-Rechenzeit für die Berechnung von Ziffern verbrauchen (siehe Spektrum der Wissenschaft, April 1988, Seite 96), die sie auch aus – allerdings noch zu findenden – Gensequenzen ablesen könnten. In der Konsequenz ergibt sich ein vollkommen neues Paradigma der interdisziplinären Zusammenarbeit von Mathematik und Biologie. Es ist nicht auszuschließen, daß schon bald ein Mathematiker ein tiefliegendes Resultat weder mit Bleistift und Papier noch mit dem Computer, sondern durch geduldiges Angeln erreicht. Ein dicker Fisch birgt vielleicht manch unerwartete Lösung eines schon lange offenen Problems.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1996, Seite 23
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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