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Geräusche ändern visuelle Wahrnehmung


Optische und akustische Täuschungen sind wohlbekannte Phänomene, die interessante Rückschlüsse auf die Mechanismen der Verarbeitung sensorischer Informationen im menschlichen Gehirn erlauben. Allerdings sagen sie nichts darüber aus, wie das Gehirn Wahrnehmungen, die über verschiedene Sinneskanäle eintreffen, zu einem einzigen multimedialen Eindruck zusammensetzt. Wie eng ist etwa die Verquickung visueller und akustischer Reize? Könnte es sein, daß die Deutung des einen vom anderen entscheidend beeinflußt wird?

Um dies zu klären, führten Robert Sekuler von der Brandeis-Universität in Waltham (Massachusetts), Allison B. Sekuler von der Universität Toronto und Renee Lau von der Dana Hall School in Wellesley (Massachusetts) ein raffiniertes Experiment durch. Sie ließen zwei kleine Scheibchen mit konstanter Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung so über einen Computerbildschirm gleiten, daß sie sich in der Mitte trafen und dann wieder voneinander entfernten. Der Vorgang erlaubte somit zwei Interpretationen: Ein Beobachter konnte meinen, die Bahnen kreuzten sich in der Mitte, oder statt dessen den Eindruck haben, daß die Scheibchen aneinander abprallten und dabei ihre Bewegungsrichtung umkehrten.

Untersucht wurde nun, inwiefern sich zusätzliche akustische Signale auf die Deutung auswirkten. Nur in einem Viertel der Fälle spielte sich der Vorgang nämlich lautlos ab; ansonsten ertönte entweder gleichzeitig mit dem Zusammentreffen der Scheibchen oder 150 Millisekunden davor oder danach ein 2,5 Millisekunden langer Klick mit einer Lautstärke von 75 Dezibel. Die vier Varianten wurden in zufälliger Reihenfolge insgesamt jeweils 20mal präsentiert, und jedesmal mußten zehn Beobachter ihren Eindruck wiedergeben.

Wie die varianzanalytische Auswertung ergab, hatte das Geräusch einen profunden Effekt: In fast zwei Drittel der Fälle waren die Versuchspersonen der Auffassung, die Scheibchen prallten voneinander ab, wenn ihr Zusammentreffen von einem Klick begleitet war; auch wenn der Ton etwas zu früh kam, hatten noch mehr als 50, und selbst wenn er nachhinkte, noch rund 35 Prozent diesen Eindruck – gegenüber nur gut 20 Prozent bei lautloser Vorführung ("Nature", Band 385, Seite 308).

In weiteren Experimenten schlossen Sekuler und seine Kollegen aus, daß der akustische Reiz lediglich unspezifisch über eine Erhöhung der Aufmerksamkeitsschwelle wirkte. Dazu kehrten sie das Signal einfach um: Nun wurde ein Dauerton erzeugt und während des Zusammentreffens der Scheibchen kurz unterbrochen. Erwartungsgemäß hatte dies keinen Einfluß auf die Interpretation. Der Einfluß des Klicks auf die optische Wahrnehmung muß also im wesentlichen darauf beruhen, daß er eine Kollision zwischen den Scheibchen signalisiert.

Einen wesentlichen Beitrag zur Erklärung dieses Phänomens liefert die Inferenztheorie, die der Mediziner und Naturwissenschaftler Hermann von Helmholtz (1821 bis 1894) schon im letzten Jahrhundert aufgestellt hat. Das bekannteste Beispiel dafür ist der Stroboskopeffekt des Bewegungssehens: Erscheint eine Figur in bestimmten Zeitabständen an benachbarten Positionen, entsteht der Eindruck einer Bewegung, wobei das Gehirn automatisch Übergangsformen kreiert. Das visuelle System schließt also aus der schnellen Änderung der Positionen, daß sich das Objekt von einem Ort zum nächsten bewegt. Das kann soweit gehen, daß sich die Räder der Kutschen in alten Wildwestfilmen bei bestimmten Geschwindigkeiten rückwärts zu drehen scheinen.

Zu dieser Illusion kommt es, weil das Sehsystem die Bewegung eines Gegenstandes ab einer bestimmten Geschwindigkeit offenbar nicht mehr zeitlich auflöst, sondern nur Ausgangs- und Endzustand registriert und dazwischen interpoliert. Sehr wahrscheinlich verbindet auch bei dem Experiment von Sekuler und seinen Kollegen der Wahrnehmungsapparat der Probanden die Bahnendpunk-te der sich bewegenden Scheibchen erst nachträglich miteinander, wobei die akustische Information in die Deutung einfließt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1997, Seite 28
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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