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Geschichte der Alternativen Medizin. Von der Volksmedizin zu den unkonventionellen Therapien von heute

C. H. Beck, München 1996.
344 Seiten, DM 48,-.

Robert Jütte, Historiker und Direktor des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung in Stuttgart, hat in diesem Buch erstmals umfassend jene Formen heilkundlicher Praxis dargestellt, die sich in Europa seit Ende des 18. Jahrhunderts in steter Konfrontation zur sogenannten Schulmedizin entwickelten und in breiterem Maße Anhänger fanden. Dabei widmet er der Entwicklungsgeschichte der wichtigsten dieser Methoden ebenso Aufmerksamkeit wie den Bedingungen ihrer Erfolge und ihrer gegenwärtigen Verbreitung.

Als "alternativ" gelten dabei Behandlungsweisen, "die von der herrschenden medizinischen Richtung mehr oder weniger stark abgelehnt werden", weil ihre Protagonisten "auf eine unmittelbare und grundlegende Änderung des medizinischen Systems zielen" (Seite 13) und dessen Therapiemethoden kritisch werten. Jütte versucht, die vielen im Detail besprochenen Ansätze zu einigen Hauptgruppen zu ordnen. Für die in besonderen Kapiteln dargestellten Naturheilverfahren, die "biodynamischen Heilweisen" (wozu unter anderem die Homöopathie und die anthroposophische Medizin gezählt werden) sowie die aus Fernost übernommenen Prozeduren Akupunktur und Ayurveda ist ihm das durchaus überzeugend gelungen. Die in dem Kapitel "Religion und magische Medizin" vorgestellten Heilpraktiken wie Exorzismus, Besprechen und Gesundbeten sowie Mesmerismus und Geistheilung sind nur bedingt einer alternativen Richtung zuzuordnen, da deren ohnehin selten gewordene Anhänger zumeist ohne jeden Bezug zur Medizin agieren.

Eine über längere Zeit wirksame alternative Heilschule wird stets von einer gut organisierten Bewegung getragen. An ihr sind immer auch akademisch ausgebildete Ärzte beteiligt, die deren Reputation sichern helfen. Ihre Überzeugungskraft erlangen diese Bewegungen nicht primär durch herausragende therapeutische Erfolge, sondern durch Versprechen, dort etwas zu leisten, wo die moderne Medizin Mängel aufweist. Dazu gehören persönliche Zuwendung, Anleitung zu gesundheitsfördernden Lebensformen, Verzicht auf risikoreiche Eingriffe und geringe Kosten. Solange unsere herrschende Medizinkultur durch marktwirtschaftliche Zwänge wie auch durch die Interessen der medizintechnischen und der pharmazeutischen Industrie geprägt bleibt, werden solche – auch nicht immer eingelösten – Versprechen Anhänger anziehen.

Besonders informativ sind die Darstellungen zur Geschichte und Wirksamkeit der Naturheilverfahren und der Homöopathie geraten. Jütte wertet dabei kritisch die von Anhängern dieser Konzepte oft überhöhten Leistungsversprechen, vor allem auch den gelegentlich erhobenen Anspruch, bei schweren oder unheilbaren Erkrankungen mehr leisten zu können als die sogenannte Schulmedizin. Ausführlicher als in anderen Abschnitten geht der Autor hier auf immer wieder unternommene Versuche ein, praktisch bewährte Verfahren in das Repertoire der akademischen Medizin zu integrieren. Wie massiv dabei zu manchen Zeiten auch politische und ideologische Intentionen mitwirkten, zeigt er sehr gut am Beispiel der während der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland angestrebten "Neuen Deutschen Heilkunde".

Problematisch ist der Versuch des Autors, die konfliktvollen Beziehungen zwischen alternativen Bewegungen und Schulmedizin in ein zeitliches Periodenschema zu bringen. Dieser Aspekt dürfte jedoch vorrangig nur Medizinhistoriker interessieren.

Da Medizinstudenten und junge Ärzte sich gegenwärtig zunehmend für alternative Heilweisen interessieren, kann das Buch eine gute Aufnahme finden. Besonders zu empfehlen ist es allen Ärzten, die eine ergänzende Qualifikation anstreben oder erste Erfahrungen bei der Aufnahme alternativer Methoden in die eigene Praxis sammeln. Die im positiven Sinne populärwissenschaftliche Darstellungsweise wird zudem der Verbreitung des Buches dienlich sein. Die drucktechnische Gestaltung ist trotz sparsamer Bebilderung gut gelungen. Besondere Anerkennung verdient die umfangreiche Bibliographie.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1996, Seite 132
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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