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Geschichte des heutigen Fahrradrahmens


Unter allen erprobten hat sich der aus England stammende Diamantrahmen allgemein durchgesetzt. Der Name mag verwirren, doch steht das englische diamond auch für Raute. Beim Technologietransfer vom britischen Empire ins Kaiserreich gegen Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Bezeichnung werbewirksam als "Diamant" eingedeutscht.

Die Geschichte dieses Rahmen begann in Coventry, das sich nach dem deutsch-französischen Krieg (1870 bis 1871) von einer stagnierenden Textilindustriestadt zum Weltmarktführer für Zwei- und Dreiräder entwickelte – am rührigsten und einfallsreichsten war der Autodidakt James Starley (1801 bis 1881), der sich bald selbständig machen konnte. Sogar in Deutschland nannte man die aus Coventry importierten Hoch- und Dreiräder Bicycles und Tricycles. Sie waren deutlich fortgeschrittener als die schweren Pariser Frontkurbel-Velozipede aus der Vorkriegszeit: Statt aus geschmiedeten Rahmen mit Holzspeichenrädern bestanden sie aus Stahlrohren und Stahlspeichenrädern mit Hartgummibereifung; zudem wurden zur besseren Übertragung der Muskelleistung auf die Straße möglichst große Vorderräder (mit Durchmessern bis fast zwei Meter) eingesetzt.

Allerdings lag der Schwerpunkt damit nahe der Vorderradachse, so daß sich Hochräder leicht überschlugen. Vorsichtige Radfahrer und vor allem Damen wie die englische Königin Victoria bevorzugten denn auch die zwar komplizierten, aber standsicheren Dreiräder.

Zu den besten Zeiten der Branche wurden 131 Herstellerbetriebe in Coventry gezählt. Solch intensiver Wettbewerb begünstigte Innovationen, und man bemühte sich, den leichten Lauf des Zweirads mit mehr Sicherheit für den Fahrer zu verknüpfen. Ende der siebziger Jahre wurden dementsprechende Konstruktionen als Safety-Bicycles angepriesen; ein Beispiel war das "Kangaroo" der Firma Hillman, Herbert & Cooper von 1883, das mittels Übersetzung des Antriebs ein kleineres Vorderrad erlaubte.

Im Jahre 1885 kamen Zweiräder mit kettengetriebenen Hinterrädern auf den Markt. Dafür eigneten sich kreuzförmige Rahmen, die oft zusätzlich mit Stahlseilen oder -stangen verspannt waren. Das früheste diesbezügliche Patent reichten Hillman, Herbert & Cooper am 6. Februar 1885 für das Fahrrad "Premier" ein. Die Zeichnungen zeigen zwar einen Kreuzrahmen in reinster Form (Bild 2), doch war er nicht der eigentliche Gegenstand des Patents – es ging vielmehr um eine neue Aufhängung und Kettenspannmöglichkeit für das Tretlager sowie um Federstäbe zum Stabilisieren der Lenkung am Vorderrad. Da die Festigkeit der gekrümmten Rohre nicht berechenbar war, mußten sie leicht überdimensioniert werden.

John Kemp Starley (1854 bis 1901), Neffe von James, arbeitete zur selben Zeit an einem anderen Konzept, dem Rover genannten Prototypen des Diamantrahmens (Bild 1). In einem Vortrag vor der englischen Society of Arts, publiziert im Journal der Gesellschaft vom 18. Mai 1898, schrieb er: "Obgleich ich bei vielen Gelegenheiten gedrängt wurde, eine solche Maschine (ein Kangaroo) zu machen, fand ich, daß die Zeit gekommen war, das Problem des Hochrads zu lösen, und ich entschloß mich, eins nach den Prinzipien zu machen, die sich dann im Rover wiederfanden ... (nämlich) den Fahrer in der richtigen Höhe über dem Boden zu plazieren; die Tretkurbeln mit dem Antrieb derart zu koppeln, daß die Übersetzung wie gewünscht angepaßt werden konnte; den Sitz in richtiger Höhe über den Pedalen anzubringen und so zu gestalten, daß er sowohl vor und zurück als auch hoch und nieder beliebig zu verstellen war; die Lenkergriffe relativ zum Sitz so anzuordnen, daß der Fahrer die größte Kraft auf die Pedale bei geringster Ermüdung bringen kann und diese ebenfalls justierbar zu machen." Im folgenden betont er, daß alle späteren Varianten in diesen Punkten nur wenige Zentimeter von den Maßen des Rover abwichen.

Dies war ersichtlich ein ergonomisches Konzept. Doch weil es zahlreiche der damals schon bekannten konstruktiven Elemente enthielt, wurde der Rover nicht patentiert.

Das vordere Rad des Prototyps von 1885 war allerdings noch größer als das hintere, und die Rahmenrohre waren zudem leicht gebogen. In dieser Version wurde das Vorderrad per Schubstange von dem zum Fahrer hin verlegten Lenker gesteuert; in einer zweiten ließ es sich vom Lenker aus direkt bewegen. Mit solchen Merkmalen gelangten Rover-Räder 1888 nach Deutschland. Ab 1890 wurden solche mit gleich großen Rädern hergestellt.

In den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts gab man die gekrümmten Rohre zugunsten gerader auf, weil diese sich besser berechnen und dimensionieren ließen. So entstand die heute noch übliche Rautenform mit abgestumpfter Spitze des Steuerkopfrohrs – Anlaß für die Bezeichnung diamond. Dieser Rahmen war deutlich verwindungssteifer und damit auch richtungsstabiler als der Kreuzrahmen, mit dem man anfangs auch nicht freihändig fahren konnte. Von da an waren alle Voraussetzungen gegeben, daß der Rover und zahlreiche Nachbauten – zunächst als Sportgerät Wohlhabender, nach der Jahrhundertwende als Allerweltsfahrzeug – innerhalb weniger Jahre den Markt beherrschten.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1995, Seite 103
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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