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Geschmacksverändernde und süße Proteine

Eiweißstoffe assoziiert man normalerweise mit herzhafter Fleischnahrung und nicht mit Naschwerk. Dennoch sind einige Proteine gewöhnlichem Zucker in der Süßkraft hundert- bis tausendfach überlegen.


Die Beeren des Dioscoreophyllum cumminsii Diels, einer tropischen Pflanze aus der Ordnung der Yams-Gewächse (Dioscoreaceae), werden in Westafrika seit Jahrhunderten zum Süßen verwendet. Der Geschmack ihres schleimigen Fruchtfleischs ist nicht nur sehr intensiv, sondern hält auch ungewöhnlich lange an. Wissenschaftler der westlichen Welt wurden auf die Beeren freilich erst in den sechziger Jahren aufmerksam, als Diskussionen über eine mögliche krebsfördernde Wirkung des synthetischen Süßstoffs Cyclamat eine hektische Suche nach Ersatzmitteln auslösten. (Inzwischen ist Cyclamat von dem bösen Verdacht freigesprochen, hat aber seinen Marktanteil weitgehend an das Konkurrenzprodukt Aspartam verloren.)

Forscher vom Monell Chemical Senses Center in Philadelphia konnten 1971 den aktiven Bestandteil der tropischen Beeren isolieren. Es handelt sich um ein recht kleines Protein mit einem Molekulargewicht von 10.700, das nach dem Institut der Entdecker Monellin genannt wurde. Bezogen auf dieselbe Gewichtsmenge ist es 3000mal süßer als gewöhnlicher Haushaltszucker. Für die wirksamsten synthetischen Süßstoffe, Aspartam und Saccharin, betragen die Vergleichszahlen 200 beziehungsweise 450.

Inzwischen gibt es eine kleine, aber exquisite Familie von sechs stark süß schmeckenden Proteinen (Bild 1). Bislang gelten sie eher als wissenschaftliche Kuriositäten – lediglich eines, das kurz nach dem Monellin in einer anderen tropischen Frucht entdeckte Thaumatin, hat bereits den Weg zum Verbraucher gefunden und ist in Nordamerika und Europa als Nahrungsmittelzusatz zugelassen. Monellin könnte ihm jedoch bald folgen, nachdem es jetzt gelungen ist, das Protein gentechnisch in größeren Mengen herzustellen. Auch Brazzein hat dank seiner hohen Hitzestabilität gute Aussichten auf eine breitere Anwendung.

Rätselhaft bleibt aber weiterhin die genaue Wirkungsweise der süßen Proteine. Nachdem die Arbeitsgruppe von John Markley an der Universität von Wisconsin in Madison kürzlich die Struktur des Brazzeins per Kernresonanz-Spektroskopie aufgeklärt hat ("Nature Structural Biology", Band 5, Seite 427), stehen nun von allen drei erwähnten Proteinen hochaufgelöste Strukturmodelle zur Verfügung (Bild 2). Doch der Vergleich ist ernüchternd: Seltsamerweise zeigen die in ihrer Geschmackswirkung so ähnlichen Proteine nicht die geringste strukturelle Ähnlichkeit – nicht einmal das allerkleinste Bindungsmotiv haben sie gemeinsam. Jedes von ihnen ähnelt allerdings anderen, nicht geschmacksaktiven Stoffen. Beim Brazzein etwa finden sich Beziehungen zur Familie der disulfid-verbrückten Alpha-beta-Proteine, deren Vertreter sich durch ein sehr breites Funktionsspektrum auszeichnen: Einige dienen als Abwehrproteine von Pflanzen (Defensine), andere als Abbau-Enzyme, die Stärke und Proteine spalten.

Wendet man die Ergebnisse von Mutationsstudien auf die Struktur von Brazzein an, zeigt sich, daß im wesentlichen nur zwei Stellen für die Bindung an Geschmacksrezeptoren in Frage kommen (Pfeile in Bild 2). Sie liegen allerdings an entgegengesetzten Seiten und können demnach nicht gleichzeitig mit ein und demselben Zielmolekül in Wechselwirkung treten.

Wie die molekulare Erkennung zwischen süßen Proteinen und Geschmacksrezeptoren aussieht, liegt noch völlig im dunkeln. Das nimmt insofern nicht wunder, als der Geschmackssinn die Sinnesleistung ist, über die man auf molekula-rer Ebene noch am wenigsten weiß. Die chemische Vielfalt süß wirkender Stoffe legt nahe, daß es mehrere verschiedene Rezeptoren geben muß, die diese Geschmacksempfindung vermitteln; doch kein einziger ließ sich bis heute ausmachen. Erst vor wenigen Jahren wurde das an der Geschmackswahrnehmung beteiligte Signalmolekül Gustducin identifiziert; vergleichbare sogenannte G-Proteine, die am Sehvorgang mitwirken, kennt man dagegen schon lange (Spektrum der Wissenschaft, September 1992, Seite 54).

Nur soviel scheint sicher: Der erstaunlich intensive Geschmack süßer Proteine rührt daher, daß sie sich sehr fest an ihr Zielmolekül heften. Dafür spricht insbesondere die über Minuten bis Stunden anhaltende Wirkung. Gewöhnlicher Zucker ist im Vergleich da-zu ein sehr schlechter Signalstoff. Damit man ihn schmeckt, muß seine Konzentration um etliche Zehnerpotenzen höher liegen als bei Hormonen, die durch Andocken an Rezeptoren Signale übertragen. Möglicherweise wirkt Zucker demnach überhaupt nicht auf einen Rezeptor, sondern in relativ unspezifischer Weise auf ein nachgeordnetes Element, etwa einen Ionenkanal.

Die starke Bindungskraft und langanhaltende Wirkung teilen die sechs süßen Proteine übrigens mit einer weiteren, noch merkwürdigeren Gruppe von Biomolekülen: den geschmacksverändernden Proteinen. So hat Curculin nicht nur selbst einen süßen Geschmack; nach dem Verzehr einer kleinen Menge schmecken auch saure Substanzen über Stunden hinweg nach Zucker. Dieselbe geschmacksverändernde Wirkung weist das Glykoprotein Miraculin auf, obwohl es selbst nicht süß schmeckt – und das trotz zuckerartiger Molekülteile.

All diese Substanzen sind für mögliche Anwendungen in der Lebensmittelherstellung interessant. Die aufwendige Extraktion aus nur saisonal verfügbaren tropischen Früchten macht sie zur Zeit zwar noch sehr teuer. Dies wird allerdings dadurch aufgewogen, daß wegen der sehr hohen Wirksamkeit winzige Mengen genügen. Aus demselben Grunde sind die natürlichen Stoffe auch attraktiv für Kalorienbewußte: Bei einer bis zu 3000fach stärkeren Süßkraft gegenüber Rohrzucker lassen sie sich so niedrig dosieren, daß der Brennwert (Kaloriengehalt) vernachlässigbar klein bleibt.

Als einziges süßes Protein ist Thaumatin seit Ende der achtziger Jahre in Europa und Japan kommerziell erhältlich – zur Zeit unter dem Markennamen "Talin". Es wird zum Beispiel in Getränken, Kaugummis, verarbeiteten Lebensmitteln sowie in Tierfutter verwendet. Es war auch das erste süße Protein, das versuchsweise in eine transgene Pflanze eingeführt wurde – eine Kartoffelstaude.

Nachdem es letztes Jahr gelungen ist, Monellin von genmanipulierten Hefen herstellen zu lassen, dürften sich seine Marktchancen deutlich verbessert haben ("Nature Biotechnology", Band 15, Seite 453). Die gentechnisch gewonnene Substanz wäre nicht nur billiger, sondern könnte auch leicht in ihrer Stabilität verbessert werden. Das natürliche Protein besteht aus zwei Aminosäureketten und verliert seine Wirksamkeit vollständig und unwiderruflich, sobald diese – etwa beim Kochen – voneinander getrennt werden. Bei gentechnischer Herstellung läßt sich jedoch, wie durch Experimente mit dem Darmbakterium Escherichia coli gezeigt wurde, eine Verbindung zwischen den beiden Ketten konstruieren, welche die Süßkraft nicht beeinträchtigt, die Hitzestabilität aber verbessert.

Weitaus am beständigsten ist Brazzein. Dieses recht kleine und durch vier Disulfidbrücken stabilisierte Protein bewahrt seine Süßkraft auch nach zweistündigem Kochen, was sowohl für den Hausgebrauch als auch für die industrielle Lebensmittelverarbeitung ein erheblicher Vorteil ist. Obwohl Brazzein der Benjamin in der Familie der süßen Eiweißstoffe ist, könnte es deshalb durchaus schon in wenigen Jahren im Supermarkt auftauchen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 1998, Seite 26
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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