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Gewalttätig aus Größenwahn

Warum werden Menschen zu Gewalttätern? Weder Selbsthass noch Minderwertigkeitsgefühle, sondern übersteigerte, dabei zerbrechliche Eigenliebe sowie hohes Geltungsbedürfnis machen manche Männer gewalt-bereit. Bereits leiseste Kritik provoziert ihren Hass. Wer sie wagt, riskiert unter Umständen sein Leben. Diese Erkenntnis steht den seit einiger Zeit in den USA propagierten Erziehungsprogrammen entgegen, Kinder und Jugendliche ungeachtet ihrer Leistung in ihrem Selbstwertgefühl zu stärken, um aggressiven Auswüchsen zu begegnen. Resozialisierung von Gewalttätern nach diesem Konzept muss scheitern.


Vor einigen Jahren erzählte mir ein Jugendanwalt, sein eigener Eindruck von gewalttätigen jungen Männern passe einfach nicht zum gängigen Bild von Gewaltverbrechern. Den Lehrbüchern zufolge litten Jugendliche, die zu aggressiven Übergriffen neigen, unter einem viel zu geringen Selbstwertgefühl. Er erlebe die Klienten im Gegenteil aber als – wie ich sie nenne – "Egotisten", als Menschen mit grandios übersteigertem Überlegenheitsgefühl und völlig überzogenem Geltungsbedürfnis.

Der Jurist und seine Mitarbeiter wollten sich jedoch nicht den wissenschaftlichen Studien der letzten Jahrzehnte entgegenstellen. Sie würden sich also weiterhin bemühen, die jungen Straftäter zu resozialisieren, indem sie deren Selbstbewusstsein stärkten. Viel erreichen würden sie damit allerdings nicht. Die Männer blieben sozial auffällig.

Dass übermäßige Aggressivität aus einem niedrigen Selbstwertgefühl heraus entsteht, galt tatsächlich lange als ausgemacht. Amerikanische Lehrer, Sozialarbeiter und Juristen lernen, dass man Gewalttaten vorbeugt, wenn man die Eigenliebe junger Menschen bekräftigt. Eine hohe Meinung von sich selbst verhelfe Kindern und Jugendlichen zudem zu mehr Sozialkompetenz und auch besseren Schulleistungen. Das geht so weit, dass Schüler auf langen Listen notieren, warum sie so wunderbare Menschen sind, oder Lieder zu ihrem eigenen Lob singen. Viele Eltern und Lehrer wagen nicht mehr, die Kinder zu tadeln. Sie fürchten, die Schützlinge könnten wegen der Kritik einen seelischen Schaden davontragen und sich dann zum brutalen Draufgänger entwickeln. Bei manchen Sportveranstaltungen bekommt jeder eine Trophäe, sodass sich niemand als Versager fühlen muss.

Immer wieder werden zwar Zweifel laut, ob eine solche Behandlung wohl das Richtige sei, damit junge Menschen ein gesundes Selbstvertrauen aufbauen. Doch nach dem wissenschaftlichen Hintergrund für die herrschende Lehrmeinung selbst hat offenbar nie jemand gefragt. Wo ist der Beweis, dass Minderwertigkeitskomplexe Gewalttätigkeit generieren? Als meine Kollegen und ich Anfang der neunziger Jahre auf das Thema stießen, fanden wir zwar jede Menge Fachartikel, die sich auf die angeblich "allgemein bekannte Tatsache" stützten, dass die Ursache für Gewalt ein geringes Selbstwertgefühl sei. Doch nirgends, in keinem Buch, in keinem wissenschaftlichen Aufsatz, wurde diese Ansicht jemals formal begründet. Empirische Belege fanden wir schon gar nicht.

Im Gegenteil: Das, was die Forschung inzwischen herausgefunden hat, stützt diese Theorie gerade nicht. Das komplexe Bild, das sich langsam herausschält, sagt nämlich etwas ganz anderes: Menschen mit einem negativen Selbstbild wursteln sich gewöhnlich schlecht und recht durchs Leben. Sie wollen gerade nicht auffallen und vermeiden deswegen möglichst Anstößigkeiten. Nichts in ihrem Verhalten lässt erkennen, dass sie verzweifelt danach streben würden, um jeden Preis vor anderen überragend zu erscheinen. Gegen andere gerichtetes aggressives Verhalten ist riskant, und Menschen mit einem geringen Selbstwertgefühl meiden eher das Risiko. Wenn diese Leute in einer Sache versagen, geben sie gewöhnlich sich selbst die Schuld, nicht anderen.

Uns war klar: Wir brauchen eine andere Theorie, um das Persönlichkeitsprofil von Gewalttätern zu erklären. Wo konnten wir ansetzen? Bei dieser Arbeit leitete uns unter anderem, wie selbstherrlich sich Despoten offenbar sehen. Saddam Hussein gilt nicht unbedingt als bescheidener, zurückhaltender, von Selbstzweifeln geplagter Zeitgenosse. Auch Hitlers Wahn von der "Herrenrasse" spricht kaum für einen Minderwertigkeitskomplex. Das Selbstbild, so überlegten wir, übt vielleicht wirklich Einfluss darauf aus, ob jemand zu Aggressivität neigt – nur birgt nicht das niedrige Selbstwertgefühl solche Gefahr, sondern im Gegenteil die allzu große Eigenliebe.

Natürlich neigt nicht jeder, der von sich selbst überzeugt ist, zu Gewalt. Doch bei manchen Menschen kann die Sache kritisch werden, wenn andere an ihrem Selbstbild rütteln – so unsere These. Jeder hat von sich gern eine hohe Meinung. Und niemand korrigiert seine Selbsteinschätzung freudig nach unten. Aber Personen mit einem hohen, dabei allerdings überzogenen Selbstwertgefühl, das eben nicht trägt, wehren sich nach unserer Auffassung oft ohne Rücksicht auf Verluste. Wir sprechen in dem Zusammenhang von bedrohtem Egotismus, von bedrohter Eigenliebe.

Auf gar kei-nen Fall behaupten wir, dass hinter jeder Gewalttätigkeit eine Bedrohung der Eigenliebe steckt, auch nicht, dass ein gefährdetes Selbstbild immer in Aggressivität ausartet. Dazu sind die Gründe für menschliches Verhalten viel zu unterschiedlich und mannigfaltig. Ein Großteil der Gewalttaten hat mit der Selbsteinschätzung des Täters wenig oder nichts zu tun. Wir glauben allerdings tatsächlich, dass eine überhohe Meinung des eigenen Wertes eine beträchtliche Gewaltgefahr bedeutet. Für solche aggressiven Handlungen, die dem Selbstbild des Täters gelten, dürfte bedrohte Eigenliebe den Hintergrund bilden. Wir meinen auch, dass diese Einsicht Maßnahmen ermöglichen sollte, um Gewalttaten einzuschränken.

Wie lässt sich feststellen, welche der beiden Theorien nun stimmt, die vom geringen oder die vom hohen Selbstwertgefühl? Sozialpsychologen verfügen über keine einzelne wissenschaftliche Methode, um komplexe Zusammenhänge wie diesen zu klären. Doch üblicherweise wenden die Forscher mehrere Verfahren nebeneinander an. Wenn dann alle Ergebnisse zusammenpassen, besagt das zumindest, dass sie auf einer vielversprechenden Spur sind.

Zum einen mussten wir das Selbstwertgefühl von Testpersonen ermitteln. Dafür existieren standardisierte Fragebögen. In denen heißt es etwa: "Wie gut kommen Sie mit Menschen aus?" oder "Kommen Sie mit Ihrer Arbeit oder in Ihrer Ausbildung alles in allem gut zurecht?" Der Befragte kann jeweils zwischen mehreren Antworten wählen. Der für die Person ermittelte Gesamtwert schließlich liegt irgendwo auf einer Skala, die von einem sehr niedrigen bis zu einem sehr hohen Selbstwertgefühl reicht. Streng genommen dürfte man also nicht von "Menschen mit hohem Selbstwertgefühl" sprechen, so als sei dies eine gesonderte Gruppe. Die Ausdrucksweise erleichtert aber die Verständigung. Ich meine damit solche Personen, deren Testwert auf der Skala über dem Mittel liegt.

Laien denken oft, das Selbstwertgefühl eines Menschen schwanke erheblich. Doch in den Tests erweist es sich als ziemlich stabil. Trotz unterschiedlicher Tagesform wechselt es nur wenig. Selbst wenn jemand einen schweren Dämpfer erleidet oder Auftrieb erhält, pendelt das Selbstbild sich bald wieder auf dem alten Niveau ein. Eine stärkere Wandlung erfährt es am ehesten nach einer größeren Lebensumstellung. Wenn etwa eine Sportskanone von der High School zum College wechselt und feststellt, dass die Konkurrenz dort viel größer ist, kann dies den Menschen durchaus verändern.

Außer der Selbsteinschätzung mussten wir die Aggressivität der Testpersonen quantifizieren. Das festzustellen, ist methodisch schwieriger. Manche Forscher fragen die Menschen einfach, ob sie schnell wütend werden oder leicht in Streit geraten. Schon mehrfach haben Wissenschaftler diese Angaben mit dem zugleich ermittelten Selbstbewusstsein verglichen. In den meisten bisherigen Studien ließ sich aber kein deutlicher Zusammenhang zwischen beiden Eigenschaften erkennen, weder für ein hohes noch für ein niedriges Selbstwertgefühl – mit einer Ausnahme: Ende der achtziger Jahre kam einer Gruppe um Michael H. Kernis von der Universität von Georgia in Athens die Idee, dass es vielleicht auf die Stabilität des Selbstbildes ankommt.

Die Forscher testeten dazu die einzelnen Leute bei entsprechend verschiedenen Gelegenheiten. Tatsächlich schwankte das Selbstbild bei manchen Menschen mehr als bei anderen. Hierin ergab sich eine Beziehung zur Aggressivität: Die geringste Gewaltbereitschaft besaßen Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwertgefühl; die höchste hingegen hatten diejenigen mit einer hohen, aber instabilen Meinung von sich; Menschen mit geringem Selbstwertgefühl lagen dazwischen, gleich ob ihr Eigenbild stabil oder instabil war.

Andere Forscher, die nach solchen Zusammenhängen suchen, teilen die Menschen in übergeordnete Kategorien ein, etwa nach dem Geschlecht. Solchen Erhebungen zufolge besitzen Männer im Durchschnitt ein höheres Selbstwertgefühl als Frauen und sind auch aggressiver. Depressive Menschen wiederum leiden, wie die Studien zeigten, oft an einem schwachen Selbstwertgefühl; zugleich neigen diese vergleichsweise selten zu Gewalt. Psychopathen hingegen tendieren, bei einer sehr hohen Meinung von sich selbst, ganz besonders zu aggressivem sowie kriminellem Verhalten.

Über das Selbstbild von Mördern, Vergewaltigern und anderen Straftätern liegen wenig systematische Erhebungen vor. Das meiste sind eher anekdotenhafte Einzelberichte. Trotzdem tritt ein klares Muster zutage. Oft beschreiben Gewalttäter sich selbst als ihren Mitmenschen überlegen. Sie halten sich für eine ganz besondere, außergewöhnlich wertvolle Persönlichkeit, die eine Vorzugsbehandlung verdient. Viele Morde und Überfälle gehen darauf zurück, dass das Selbstwertgefühl des Täters einen Schlag erlitt – dass er sich beleidigt, herabgesetzt oder gedemütigt fühlte. (Dabei ist allerdings zu bedenken, dass Kriminelle nicht selten in Kreisen leben, in denen eine Erniedrigung mehr als nur das Selbstbild bedroht. Mit dem sozialen Status sind Achtung und Respekt eng verknüpft. Eine Herabsetzung hat für den Betroffenen unter Umständen erhebliche, manchmal lebensbedrohliche Folgen.)

Dasselbe Muster – hohes, aber instabiles Selbstwertgefühl – wiederholt sich in Studien über andere gewaltbereite Personengruppen. Auch die Mitglieder von Straßengangs sehen sich gern selbstherrlich. Ausfallend werden sie, sobald dieses blendende Selbstbild in Frage gestellt wird. Ähnliches gilt schon für kleinere Kinder. Die Tyrannen auf dem Spielplatz betrachten sich als anderen Kindern überlegen. Nicht sie besitzen ein geringes Selbstwertgefühl, sondern ihre Opfer. Desgleichen in der Erwachsenenwelt: Gewaltbereite Gruppierungen vertreten gewöhnlich eindeutige Wertsysteme, aus denen ihre Überlegenheit über andere Sozietäten klar hervorgeht. Wie der Soziologe Daniel Chirot von der Universität von Washington in Seattle in seinem Buch "Modern Tyrants" erläutert, führen häufig stolze Nationen Krieg, die sich nicht gebührlich respektvoll behandelt fühlen.

Oder nehmen wir Betrunkene. Bekanntlich spielt bei sehr vielen Gewaltverbrechen, vielleicht sogar bei der Mehrzahl, Alkohol eine Rolle. In angetrunkenem Zustand reagieren Menschen auf eine Provokation im Allgemeinen heftiger. Über einen Zusammenhang mit dem Selbstwertgefühl existieren allerdings wenig Untersuchungen. Doch auch in diesem Beispiel könnte das Konzept der bedrohten Eigenliebe passen: Alkoholkonsum hebt tendenziell das Selbstbild. Andererseits verändert Betrunkenheit den Menschen auch sonst in mancher Hinsicht. Sie bewirkt beispielsweise eine verminderte Selbstkontrolle. Was im alkoholisierten Zustand den Gewaltausbruch letztlich erleichtert, ist schwer zu sagen.

Was ist, wenn jemand an sich selbst Hand anlegt – was auch eine Form von Aggression darstellt? Bei vielen Selbstmorden scheint ebenfalls bedrohte Eigenliebe beteiligt zu sein. Man denke an den reichen, anerkannten Geschäftsmann, der Bankrott geht und sich das Leben nimmt, gleichermaßen die hoch stehende Persönlichkeit, die ihre Ehre einbüßt oder in einen Skandal verwickelt ist. Das glänzende Selbstbild gilt nun nicht mehr. Aber die weniger erstrebenswerte neue Identität kann der- oder diejenige nicht hinnehmen.

Dies alles spricht zwar gegen die Theorie vom niedrigen Selbstwertgefühl bei Gewalttätern. Doch unseres Wissens hatte den Zusammenhang bisher niemand in kontrollierten Laborstudien überprüft. Das wollten wir nachholen. Wenn gezielte, ausgeklügelte Tests das gleiche Ergebnis brächten, würde das unsere These bekräftigen. Diese Experimente leitete Brad J. Bushman von der Iowa State University in Ames.

Vor den eigentlichen Tests mussten wir die entscheidenden Wesenszüge der Teilnehmer feststellen. Dazu war zunächst wichtig, ihr Selbstbild zu bestimmen. Um möglichst sicher zu gehen, maßen wir als erstes mit zwei verschiedenen Verfahren ihr Selbstwertgefühl. Aber das schien uns nicht genug. Wir vermuteten ja, dass nur ein Teil der Leute mit hoher Meinung von sich selbst eine ausgeprägt aggressive Ader besaß. In der Hoffnung, diese Gruppe herauszufiltern, testeten wir die Teilnehmer außerdem auf Narzissmus.

In der klinischen Psychologie gilt Narzissmus in reiner Form als Geisteskrankheit. Charakteristisch dafür sind: ein aufgeblähtes, übersteigertes Selbstbild, Streben nach übermäßiger Bewunderung, ein überzogenes, hochgeschraubtes Geltungsbedürfnis, Mangel an Empathie (Einfühlungsvermögen in andere), Hang zum Ausnutzen anderer, Hang zum Neid oder dem Wunsch, Neid zu erregen, ausgeprägte Größenfantasien und Arroganz. Mit einer Skala, die Robert Raskin vom Institut für Verhaltenswissenschaften in Tulsa (US-Bundesstaat Oklahoma) gemeinsam mit Kollegen entwickelte, lassen sich ebenfalls narzisstische Tendenzen jenseits des Krankhaften erfassen.

Diese Skala verwendeten wir auch, um das Selbstbild unserer Versuchsteilnehmer zu messen. Die Einstufungen des Selbstwertgefühls und des Narzissmus müssen sich nicht, können sich aber decken. Wer eine hohe Meinung von sich hat, ist nicht gleich ein Narzisst. Er mag sich durch irgendwelche Fähigkeiten auszeichnen und sich dessen bewusst sein, ohne dass er deshalb überheblich wäre und sich für etwas Besseres hielte. Andererseits kommt es wohl selten vor, dass ein Narzisst ein eher geringes Selbstwertgefühl besitzt.

Mit diesen Werten im Hintergrund ließen wir die Teilnehmer des Versuches dann paarweise gegeneinander antreten. Um eventuell gekränkte Eigenliebe anzustacheln, mussten sie in einem kurzen Aufsatz ihre Meinung zur Abtreibung darlegen und dann scheinbar den Aufsatz des Kontrahenten begutachten. Wir verteilten allerdings fingierte Abfassungen. Und die Aufsätze der Teilnehmer bewerteten wir nach dem Zufallsprinzip. Entweder schrieben wir eine sehr gute Gesamtnote darunter mit dem Zusatz: "Prima, eine runde Sache!" Oder wir verteilten sehr schlechte Punkte und kommentierten: "Eine so mangelhafte Arbeit ist mir selten untergekommen!"

Nach der Rückgabe der Aufsätze ging es an den eigentlichen Test. Es kam darauf an, bei gestellten Aufgaben so schnell wie möglich zu reagieren. Wer jeweils schneller gewesen war, durfte den anderen bestrafen – mit einem lauten, unangenehmen Geräusch. Dauer und Lautstärke – sozusagen ein Ausdruck seiner Aggressivität – durfte der Sieger in vorgegebenen Grenzen selbst bestimmen.

(Mit Elektroschocks als "Bestrafung" wie in berühmten und umstrittenen Versuchen in den sechziger Jahren operieren die Forscher heute schon aus Sicherheitsgründen kaum noch. Wir wollten auch die damals erstellte "Lehrer/Schüler"-Verteilung vermeiden, weil mancher der "Lehrer" wirklich glaubte, die Strafe helfe beim Lernen.)

Wir hatten richtig vorhergesehen: Narzissten, die einen angeblich miserablen Aufsatz abgeliefert hatten, verpassten ihrem Gegner das unangenehme Geräusch besonders kräftig. Die Nicht-Narzissten verhielten sich dagegen eindeutig sanfter, auch die mit hohem Selbstbewusstsein. Und auch die Narzissten, die zuvor vermeintlich ein Lob des Kontrahenten eingeheimst hatten, verteilten signifikant weniger "Hiebe", verhielten sich also weniger aggressiv als die beleidigten Narzissten. Das Ergebnis sprach durchaus für unsere Theorie der bedrohten Eigenliebe.

Würden die Narzissten ihren Zorn auch an jedem Beliebigen auslassen? Das überprüften wir in einem Gegenversuch. Diesmal erhielt die Hälfte der Testpersonen im Reaktionswettkampf angeblich einen neuen Gegner, der mit der Aufsatzbewertung nichts zu tun hatte. Diesen Unschuldigen traktierten die gekränkten Narzissten nicht übermäßig. Nur wenn sie es mit dem vermeintlichen Beleidiger zu tun hatten, bekam der ihre Wut zu spüren.

Tatsächlich passt dieses Verhaltensmuster zu vielen anderen Beobachtungen. Auch wenn es der landläufigen Meinung entgegensteht – dass sich provozierte Gewalt gegen unbeteiligte Dritte richtet, kommt ziemlich selten vor.

Über die Einstellung von Narzissten gibt ein Erlebnis am Rande Aufschluss. Für Fernsehaufnahmen wiederholten wir die Tests mit einigen neuen Versuchspersonen. Ein Teilnehmer erzielte für Narzissmus fast den höchstmöglichen Wert. Dieser Mann benahm sich im weiteren Verlauf auffallend aggressiv. Anschließend zeigten wir ihm die aufgenommenen Szenen mit dem Hinweis, er könne die Ausstrahlung untersagen. Aber er wollte, dass der Film gesendet werde – er fand sich toll. Daraufhin nahm Bushman, der Versuchsleiter, den Mann beiseite und bedeutete ihm, vielleicht wolle er ja doch nicht, dass ganz Amerika ihn in dieser Weise, als hoch aggressiven Narzissten, im Fernsehen sehe. Schließlich zeigte der Film, wie er übel fluchte, als er seinen schlecht benoteten Aufsatz zurückerhielt, und wie er lachte, wenn er seinen Gegner dem Höchstmaß an Lärm aussetzte. Aber der Teilnehmer grinste nur, zuckte mit den Schultern und meinte, er wolle ins Fernsehen kommen. Daraufhin schlug Bushman ihm vor, sie könnten wenigstens sein Gesicht unkenntlich machen. Völlig verblüfft lehnte der Mann das ab. Am liebsten wäre ihm, so betonte er, sein Name und auch seine Telefonnummer würden mit angegeben.

Wie sieht das alles nun im gewöhnlichen Leben aus? Entsprechen unsere Laborergebnisse überhaupt normalen Verhältnissen? Mit Gewaltverbrechern Studien durchzuführen, ist nicht so leicht. Aber wir erhielten Zugang zu zwei Gruppen von Gewalttätern, die eine Gefängnisstrafe abbüßten. Ihnen legten wir die Fragebögen zum Selbstwertgefühl und zum Narzissmus vor. Die Daten verglichen wir mit den Normwerten für junge Männer – zumeist College-Studenten – aus zwei Dutzend veröffentlichten Studien. Im Selbstwertgefühl lagen die Gefängnisinsassen als Gruppe etwa im mittleren Bereich aller Werte. Beim Narzissmus allerdings erzielten sie den höchsten Durchschnittswert. Offensichtlich unterschieden sich die untersuchten Personengruppen entscheidend in diesem Charakterzug. Der Gefängnisaufenthalt hatte den auffällig gewordenen jungen Männern nicht die Illusion zu nehmen vermocht, sie seien das Geschenk Gottes an die Welt.

Dennoch – spiegeln solche Ergebnisse wirklich das tiefste Innere von Kriminellen? Wenn wir unsere Befunde schildern, bekommen wir oft zu hören: "Vielleicht wirken Gewalttäter ja nur nach außen hin so selbstgerecht, spielen nur etwas vor! Wäre es nicht möglich, dass sie in Wahrheit sehr wenig von sich halten und das nur nicht eingestehen wollen?" Doch der Einwand ist nicht ganz logisch. Menschen mit einem erkennbar geringen Selbstwertgefühl benehmen sich nicht aggressiv – das wissen wir aus zahlreichen Untersuchungen. Warum sollte das bei einem verborgenen niedrigen Selbstwertgefühl anders sein? Der einzige Unterschied zwischen beiden Fällen wäre, dass das wirkliche Eigenbild im einen Fall verdeckt ist. Die Gewaltbereitschaft mancher Personen beruhte dann nicht auf dem minderen Selbstwertgefühl, sondern darauf, dass es nicht zum Vorschein kommt. Aber die verdeckende Hülle ist gerade die Eigenliebe – womit wir wieder bei der Theorie des bedrohten Egotismus wären.

Auch nach irgendwelchen Anzeichen eines weichen Kerns haben Wissenschaftler bei Gewalttätern immer wieder vergeblich gesucht. Martin Sanchez-Jankowski, der zehn Jahre mit verschiedenen Jugendgangs lebte und eine der kenntnisreichsten Arbeiten über sie schrieb, stellt fest: "Manche Untersuchungen über Jugendbanden suggerieren, dass viele der Mitglieder zwar eine raue Schale haben, innerlich aber unsicher sind. Diese Auffassung ist falsch!" Dan Olweus von der Universität Bergen in Norwegen, ein Experte für Tyrannei unter Kindern, äußert sich ähnlich: "Entgegen einer unter Psychologen und Psychiatern ziemlich verbreiteten Ansicht haben wir keine Anzeichen dafür gefunden, dass die despotischen Jungen unter dem rauen Äußeren ängstlich und unsicher sind."

Wir möchten all diese Aussagen wiederum nicht überbewerten. Denn bisher tut sich die Psychologie schwer damit, verborgene Facetten der Persönlichkeit zu messen. Besonders gilt das für Wesenszüge, die jemand nicht einmal sich selbst eingesteht. Auf empirischer wie auch auf theoretischer Seite spricht zur Zeit allerdings nichts dafür, dass gewaltbereite Personen tief versteckte Selbstzweifel hätten, selbst wenn dies der gängigen Auffassung entgegensteht, Gewalttätigkeit hänge mit einem geringen Selbstwertgefühl zusammen.

Ein übersteigertes Selbstbild selbst bedingt nicht unmit-telbar Aggressivität. Narzissten benehmen sich auch nicht aggressiver als andere Menschen – so lange sie jedenfalls keiner beleidigt oder kritisiert. Dann aber – der Anlass kann anderen nichtig erscheinen – explodieren sie allzu leicht. Nach dem Konzept von der bedrohten Eigenliebe kommt es somit auch auf die äußeren Umstände an. Entscheidend für den Aggressionsausbruch ist, welche Wesenszüge der Person mit welcher Situation zusammentreffen. Auch wenn wir noch nicht im Einzelnen wissen, wie Ursache und Wirkung hierbei ineinander greifen, dürfte dies doch das genaueste vorhandene Denkmodell sein, um Gewalttätigkeit und Aggressivität vorherzusagen.

Die Befunde wecken Zweifel, ob jungen Menschen Gutes geschieht, wenn sie in der Schule oder im Sportverein regelrecht ein positi-ves Selbstbild trainieren, unabhängig von den Umständen, wie in Amerika vielerorts gang und gäbe. Denn eine hohe Meinung von sich selbst weckt unter Umständen den Eigendünkel und macht Menschen dermaßen hyperempfindlich gegen Kritik, dass sie beim geringsten Anlass wütend werden, besonders wenn dieses positive Selbstbild nicht gerechtfertigt ist. Kinder und andere Leute darin zu bestärken, auf Leistungen und gute Taten stolz zu sein, halte ich für völlig in Ordnung. Aus vielen Gründen erscheint mir allerdings bedenklich, Menschen eine unverdient hohe Meinung von sich selbst beizubringen. Lob sollte an Verdienste gekoppelt sein – dazu zählen auch kleine Fortschritte. Es darf nicht frei ausgeteilt werden, als hätte jeder beliebig ein Recht darauf.

Unsere Untersuchungen besagen, dass Menschen mit geringem Selbstwertgefühl wenig dazu neigen, aggressiv zu reagieren. Gefährlicher sind diejenigen, die sich für etwas Besseres halten als ihre Mitmenschen. In Acht nehmen sollte man sich vor Leuten mit einem übersteigerten, nicht in der Realität begründeten Selbstbild, genauso vor selbstherrlichen Typen, die dauernd bewundert sein wollen. Wer diese Luftblasen ansticht, gegen den werden solche dünkelhaften Zeitgenossen äußerst unangenehm.

Literaturhinweise


Threatened Egotism, Narcissism, Self-Esteem and Direct and Displaced Aggression: Does Self-Love or Self-Hate Lead to Violence? Von Brad J. Bushman und Roy F. Baumeister in: Journal of Personality and Social Psychology, Bd. 75, Nr. 1, S. 219, Juli 1998.

Evil: Inside Human Violence and Cruelty. Von R. F. Baumeister. W. H. Freeman, 1997.

Relation of Threatened Egotism to Violence and Aggression: The Dark Side of High Self-Esteem. Von R. F. Baumeister et al. in: Psychological Review, Bd. 103, Nr. 1, S. 5, Januar 1996.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 9 / 2001, Seite 70
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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