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Gips - Dämmstoff aus Entschwefelungs-Abfall

Gips, der bei der Rauchgasreinigung von Kohlekraftwerken anfällt, läßt sich mit geringem Aufwand zu einem Material verarbeiten, das herkömmliche Dämmstoffen unter Umwelt- und Gesundheitsaspekten deutlich überlegen ist.


Die in den letzten Jahren getroffenen Maßnahmen zur Reinigung der Abgase von Kraftwerken haben die Luftqualität deutlich verbessert. Allerdings fallen bei der nassen Rauchgaswäsche mit Kalk oder Kalksteinmehl in der Bundesrepublik inzwischen jährlich rund vier Millionen Tonnen Gips an, die umweltverträglich entsorgt werden müssen. Im Grunde könnten sie einen Großteil des auf fünf Millionen Tonnen geschätzten Gipsbedarfs hierzulande decken. So gibt es auch schon Abnahmevereinbarungen zwischen Betreibern von Rauchgas-Entschwefelungsanlagen (REA) und der gipsverarbeitenden Industrie. Qualitätsauflagen stellen dabei sicher, daß das REA-Gipspulver einen Reinheitsgrad von 95 Prozent hat und mit Schadstoffen wie Arsen, Blei oder Cadmium sogar weniger verunreinigt ist als Naturgips.

Dennoch werden auch neue Verarbeitungs- und Anwendungsmöglichkeiten gesucht. So kam am Fraunhofer-Institut für Bauphysik (IBP) in Stuttgart schon 1987 die Idee auf, aus dem REA-Abfall durch Aufschäumen einen preiswerten schall- und wärmedämmenden Baustoff herzustellen. Grundlage des seither in der Arbeitsgruppe um Stephan Meinhardt entwickelten Verfahrens bilden Isocyanate, die auch als Ausgangsmaterial zur Produktion von Schaumstoffen auf Polyurethan- oder Polyharnstoff-Basis dienen. Weil Isocyanate selbst giftig sind, werden die flüchtigen Moleküle allerdings zunächst durch Kondensierung zu harmlosen Präpolymeren vernetzt.

Während der Schritt von der Idee zur ersten Gipsschaumprobe im Reagenzglas nur wenige Monate dauerte, erforderte es mehrjährige mühsame Arbeit, das Produkt zur Marktreife zu entwickeln. Als Vertragspartner des IBP war daran die Feuchtwanger Firma Preform, die auf schall- und wärmedämmende Raumgliederungssysteme spezialisiert ist, maßgeblich beteiligt, ihr Inhaber Rudolf Miller hat für das umweltfreundliche Material inzwischen weltweit Patente angemeldet.

Das Grundrezept für den Gipsschaum ist recht einfach: 60 Prozent REA-Gips plus 20 Prozent Wasser werden mit 20 Prozent präpolymerem Isocyanat aufgeschäumt. Letzteres reagiert geradezu begierig mit Feuchtigkeit und bildet unter Abspaltung von Kohlendioxid – dem Treibgas zum Aufschäumen der Gipsmischung – einen gesundheitlich völlig unbedenklichen Polyharnstoff, der weder monomeres Isocyanat noch Formaldehyd abgibt. Der feuchte Brei läßt sich in beliebige Formen gießen und härtet in knapp zwei Stunden zu einem großporigen, mechanisch stabilen Material aus, das man sägen, nageln, dübeln und kleben kann. Durch Modifikation der Mischungsverhältnisse lassen sich Dichte und Härte außerdem der jeweiligen Anwendung anpassen.

In seinen mechanischen, akustischen, wärme- und feuchtetechnischen Eigenschaften steht Gipsschaum den bisher gebräuchlichen Stein- und Glasfaserstoffen nicht nach, und in ökologischer Hinsicht ist er ihnen sogar deutlich überlegen: Seine Herstellung erfordert außer für den Betrieb der Mischanlage keine Energie, während die wenigen geschäumten Gipsbaustoffe, die bisher auf dem Markt sind, nur unter Druck und bei Temperaturen zwischen 300 und 500 Grad Celsius produziert werden können. Auch die Fertigung von Mineralfasern verlangt hohe Schmelztemperaturen. Dabei ist die Verarbeitung der Fasern äußerst unangenehm: Die Spleißen setzen sich in der Haut fest und erzeugen einen permanenten Juckreiz. Außerdem ist ihre Aufnahme mit der Atemluft in die Lunge potentiell gesundheitsschädlich. Nur im Preisvergleich schneidet der Gipsschaum zur Zeit noch etwas schlechter ab als konventionelle Dämmstoffe, weil das Schäummittel relativ teuer ist.

Dafür kann man das ohnehin kaum wasserlösliche Material durch Zugabe eines Netzmittels auch als wasserabweisenden Außenbaustoff einsetzen – für Gips eine geradezu revolutionäre Anwendung. Die dringliche Altbausanierung in den neuen Bundesländern und verschärfte Euro-Normen öffnen diesem feuchtebeständigen Gipsschaum breite Einsatzmöglichkeiten in Wärmedämm-Verbundsystemen, bei denen noch keine optimale Lösung auf dem Markt ist.

Aber auch die Möbelindustrie kann vom Gipsschaum profitieren. So bietet er sich als schalldämmende Schrankwandverkleidung oder für Schreibtischschubladen an. Das beliebig formbare Material ist außerdem für Sanitäreinrichtungen verwendbar, desgleichen für Pflanztröge oder als Verpackungsmaterial. Besonders anschaulich zeigt der Gipsschaum seine Umweltverträglichkeit als nährstoffhaltiges Substrat im Pflanzen- und Gemüseanbau.

In mehr als 80 Prüfverfahren hat das Material, dessen organischer Bestandteil biologisch abbaubar ist, inzwischen seine bautechnische Reife sowie seine Umwelt- und Gesundheitsverträglichkeit bewiesen. Mit zwei potenten Abnehmern steht die Firma Preform schon in Verhandlungen: Die Züricher Versicherungsgesellschaft und die Allianz-Lebensversicherung in Hannover haben sich für Trennwandsysteme aus Gipsschaum entschieden. Sobald die bauaufsichtliche Zulassungsbehörde ihr Plazet erteilt hat, was unmittelbar bevorsteht, ist der Start für die Produktion solcher Wände frei.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1994, Seite 18
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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