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Goethe und die Naturwissenschaften


Schon beim Durchblättern des Buches fällt die Liebe des Autors zum Detail auf. Zahlreiche Abbildungen naturwissenschaftlicher Objekte und Instrumente, Graphiken, Portraits von Zeitgenossen Johann Wolfgang von Goethes (1749 bis 1832), Zitate aus Briefen, Tagebüchern und Originaltexten Goethes und seiner Korrespondenz- und Gesprächspartner begleiten den Text. Man spürt die Berufserfahrung des Leiters der Abteilung Bildung am Deutschen Museum in München und des Lehrbeauftragten für Geschichte der Chemie an den Universitäten München und Stuttgart. Otto Krätz vermittelt ein faktenreiches Bild von Wissen und Denken der Goethezeit über die Natur.

Beim Lesen gerät man mit dem Autor ins Staunen über die Breite der naturwissenschaftlichen und technischen Kenntnisse Goethes in Alchemie, Physiognomik, Bergbau, Mineralogie und Geologie, Mechanik, Zoologie, Botanik, Chemie, Optik und Farbenlehre, Meteorologie und Glasherstellung. Auch weniger Bekanntes wie die Lust Goethes am Ballon-Fliegen wird behandelt.

Es gab wohl kaum wichtige zeitgenössische Naturwissenschaftler, deren Arbeiten Goethe nicht wenigstens zur Kenntnis nahm. Mit vielen stand er in regem Gedankenaustausch. Dazu gehörten außer dem berühmten Alexander von Humboldt (1769 bis 1859) zum Beispiel der Physiker Thomas Johann Seebeck (1770 bis 1831), der Entdecker der Thermoelektrizität, und der Chemiker Friedlieb Ferdinand Runge (1794 bis 1867), dessen Werk "Der Bildungstrieb der Stoffe" als klassische Arbeit über Selbstorganisation der Materie gilt.

Die Reisen, die Goethe nicht zuletzt wegen seiner politischen Verpflichtungen am Weimarer Hof unternahm, nutzte er gründlich für Naturstudien aller Art. Verflechtungen von Naturwissenschaft und Dichtung sind ebenfalls Thema des Buches. Man bekommt einen Eindruck davon, wie Goethes Leben durchzogen ist von der Suche nach dem, "was die Welt im Innersten zusammenhält".

Aber die "geradezu beängstigende Fülle naturwissenschaftlicher Aktivitäten" Goethes bestimmt zugleich auch seine Grenzen, wie Otto Krätz in seinen Schlußbetrachtungen nahelegt. Goethe konnte sich in keinem Teilbereich als Spezialist entwickeln. Er "war als Naturwissenschaftler im Innersten seines Wesens ein Mann des 18. Jahrhunderts geblieben, einer Epoche, in der ein gebildeter und wohlhabender Dilettant, ausgerüstet mit scharfem Auge, Korb, Hämmerchen, Mikroskop und Fernglas, viele und auch wichtige Beobachtungen machen konnte". Immerhin zählt dazu der Nachweis des Zwischenkieferknochens im menschlichen Schädel, damals ein bedeutendes Indiz für einen gemeinsamen Bauplan aller höheren Säuger einschließlich des Menschen.

Goethe erscheint als Exponent der romantischen Naturwissenschaft, dem manche weiterführende Einzelentdeckung gelang, dessen Methode aber überholt ist. Krätz verweist dabei auf die Weiterentwicklung des Farbenkreises in der Farbmetrik, der Theorie der drei Grundfarben in der Dreikomponententheorie des Sehens. Insgesamt fällt die Frucht für unsere Gegenwart aber recht mager aus. Goethes Naturwissenschaft wird ergebnisorientiert beurteilt: Wie erscheint der Wert seiner Entdeckungen aus heutiger Sicht? Der Standpunkt des Autors ist klar: Wo Goethe prinzipiell von der gegenwärtigen Naturwissenschaft abweicht, kann er nur im Irrtum sein, wie etwa in der Farbenlehre.

Krätz beschreibt im wesentlichen die Geschichte ihrer Entstehung aus dem Anliegen, das Kolorit in der Malerei zu verstehen, und ihre negative Aufnahme durch die Fachwelt. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, spricht er sogleich von den "chromatischen Abenteuern" und davon, daß Goethe keine Gelegenheit hatte, bei Professor Johann Heinrich Winkler (1703 bis 1770) in Leipzig die Experimente Isaac Newtons zu sehen. Dann wird Goethes "instinktive Einsicht" beim Blick durch das Prisma im Jahre 1790, "daß immer eine Grenze notwendig sei, um Farben hervorzubringen" und daß deshalb "Newtons Lehre falsch sei", gar nicht weiter auf ihre inneren Voraussetzungen hin überprüft, sondern gleich verworfen. Und welcher vernünftige Physiker wird heute noch Goethes Erklärung der prismatischen Farben verteidigen? Damit steht das Urteil über die Ergebnisse der Farbenlehre fest. Außerdem erfahren wir, daß sich Goethe wegen der Ablehnung seiner Farbstudien schließlich nur noch mit dem Dichterfreund Friedrich Schiller (1759 bis 1805) besprach. Ihm fehlte offenbar der sachkundige Widerspruch, um seine Studien in die richtigen Bahnen zu lenken.

Krätz glaubt wie die meisten Literaten und Naturwissenschaftler vor ihm, die sich über die Farbenlehre Gedanken machten, Newton gegen Goethe verteidigen zu müssen, und verhindert damit den freien Blick auf Goethe. Man muß sich aber heute nicht mehr nur auf den Philosophen und Anthroposophen Rudolf Steiner (1861 bis 1925), den Mitarbeiter an der Weimarer Sophienausgabe von Goethes Werken, berufen, wenn man die Farbenlehre methodisch positiv würdigen will, bei aller berechtigten Kritik an ihren unverkennbaren inhaltlichen Schwächen. Nicht nur der Essener Philosoph Klaus Michael Meyer-Abich und der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme sehen darin Ansätze zu einem partnerschaftlichen Verhältnis zur Natur. Böhme fordert sogar die gleichberechtigte Behandlung der Goetheschen Farbenlehre und der Newtonschen Optik in den Schulen, um das Bewußtsein für sinnvolle Alternativen zu den gängigen herrschaftsorientierten Wissensformen zu schärfen. Von solch grundsätzlichen Erwägungen erfährt man bei Krätz nichts. Ähnlich ist es in anderen Kapiteln.

Wer das Buch in die Hand nimmt, um den historischen Goethe kennenzulernen, der wird reichhaltige Anregungen durch sachkundig durchgearbeitetes und anspruchsvoll präsentiertes Material finden. Wer darüber hinaus den Naturwissenschaftler Goethe für uns, die wir mit den Problemen der technischen Zivilisation konfrontiert werden, kennenlernen will, muß zu anderer Literatur greifen.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1994, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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