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Göttliche Luft, vernichtendes Feuer. Wie der Geist im Gehirn entsteht - die revolutionäre Vision des Medizin-Nobelpreisträgers

Aus dem Amerikanischen
von Anita Ehlers.
Piper, München 1995.
396 Seiten, DM 48,-.

"Als junger Mann glaubte ich, die Physik könne schließlich einmal alles erschöpfend erklären. Ich wußte es damals nicht, aber ich war ein Objektivist. Jetzt ist meine Achtung vor der Physik noch genauso groß, aber ich sehe, daß einige Ergänzungen notwendig sind."

So schreibt der Mediziner und Neurobiologe Gerald Edelman in seinem Buch, in dem er eine biologische Theorie des Bewußtseins entwickelt. Edelman, der nach langjähriger Tätigkeit in New York seit 1993 am Scripps-Forschungsinstitut in La Jolla (Kalifornien) arbeitet, nennt als Beispiel für eine solche Ergänzung "eine typisch biologische Denkweise, die andere Naturwissenschaften weder kennen noch fordern" (Seite 111), das "Populationsdenken". Darunter versteht er im wesentlichen das darwinistische Prinzip der Evolution durch Variation (Mutation) und Selektion.

Erstaunlicherweise gelingt Organismen die Anpassung an eine sich verändernde Umwelt, ohne daß dabei "eine ausdrückliche Informationsübermittlung zwischen Umwelt und Organismen" (Seite 112) stattfände. Edelman illustriert das am Beispiel des Immunsystems, das nach demselben Prinzip arbeitet (ihm wurde für seine Arbeiten auf diesem Gebiet 1972 der Nobelpreis verliehen): Um ein körperfremdes Bakterium zu binden und unschädlich zu machen, produziert das Immunsystem eine große Vielfalt verschieden geformter Antikörper (Variation), bis schließlich eine bestimmte Form zu dem fremden Bakterium paßt wie ein Schlüssel zu seinem Schloß. Die dadurch ermöglichte Bindung löst eine Vermehrung des Antikörpers aus (Selektion), so daß nun die Bekämpfung einer ganzen Population dieses Bakteriums in Gang kommen kann. Bemerkenswert ist daran, daß das Immunsystem mit diesen Mechanismen eine primitive Form von Gedächtnis hat und auf wirklich Neues reagieren kann.

Im Rückblick kann man den Prozeß zwar so beschreiben, als sei Information geflossen, und in der Forschungsrichtung Künstliche Intelligenz gibt es in der Tat die Neigung, Prozesse, die von außen nach einem Informationsfluß aussehen, auch explizit so zu modellieren. Wesentlich ist aber, daß – zum Beispiel – das Immunsystem bei der Suche nach der richtigen Form keine expliziten Informationen aus der Umwelt verwendet, sondern die gesuchte Information am Ende plötzlich da ist.

Edelman überträgt nun dieses Prinzip – Variation und Selektion sowie die Fähigkeit zum Wiedererkennen – auf das Gehirn und macht es zur Grundlage seiner Biologie des Geistes. In dieser Theorie sind die kleinsten einer Selektion unterworfenen Einheiten – entsprechend den Lebewesen in der Evolution oder den Antikörpern bei der Immunreaktion – Gruppen von Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn. Eine bestimmte neuronale Gruppe ist zum Beispiel fähig, spezifisch auf einen Lichtreiz zu reagieren. Sie bildet sich im Laufe der embryonalen Entwicklung durch Kopplung benachbarter Neuronen und kann sich auch später unter dem Einfluß von Erfahrungen verändern, da die Kopplungen variabel sind. Obwohl Fachkollegen die Existenz neuronaler Gruppen bezweifeln, sieht Edelman in jüngsten Ergebnissen der Hirnforschung (siehe etwa Spektrum der Wissenschaft, September 1993, Seite 42) Hinweise auf die Richtigkeit seiner Theorie.

Neuronale Gruppen organisieren sich auf der nächsthöheren Ebene zu sogenannten Karten, so daß zum Beispiel sensorische Reize von räumlich benachbarten Punkten der Körperoberfläche auf benachbarte neuronale Gruppen abgebildet werden. Beispiele für Karten sind die wohlbekannten Areale im visuellen Bereich des Gehirns (vergleiche "Selbstorganisierende neuronale Karten" von Hans-Ulrich Bauer, Fred Wolf, Klaus Pawelzik und Theo Geisel, Spektrum der Wissenschaft, April 1996, Seite 38).

Karten werden Edelman zufolge untereinander und mit anderen Gehirnstrukturen (etwa im Kleinhirn oder im Hippocampus) durch "reziproke Kopplungen" verknüpft, und Verhalten beruht schließlich auf der Einbeziehung der Sensomotorik in solche Prozesse. Edelman bezeichnet diese Annahme als "Grundpfeiler einer Brücke zwischen Psychologie und Physiologie" (Seite 129). Dies trägt der Tatsache Rechnung, daß bisher im Gehirn keine übergeordneten Strukturen gefunden wurden, die Informationen zusammenführen und als Steuerungszentren fungieren könnten. Aus der Vielzahl der in einer Situation möglichen Verhaltensformen wird selektiert, und zwar nach internen Wertkriterien, die das Verhalten zum Beispiel auf die Befriedigung körperlicher Bedürfnisse hin orientieren und nach Edelmans Vorstellungen schon durch die evolutionäre Selektion entstanden sind.

Mit diesem Modell erklärt Edelman nicht nur die grundlegende Fähigkeit des Nervensystems zur "Kategorisierung" – der "selektiven Unterscheidung eines Dings oder Vorgangs von anderen Dingen oder Vorgängen, die dann zur Anpassung führt" –, sondern auch Gedächtnis und Begriffsbildung. Beide sind Voraussetzung für das Entstehen von Bewußtsein, das auf verschiedenen Formen der "Selbstkategorisierung" des Gehirns beruht. Primäres Bewußtsein, das Edelman als "erinnerte Gegenwart" charakterisiert und auch höher entwickelten Tieren zugesteht, wird in diesem Modell durch die Verknüpfung aktueller Wahrnehmungskategorisierungen mit dem Gedächtnis für Begriffe verursacht. Das nur bei Menschen vorkommende höhere Bewußtsein, in dem das Bewußtsein selbst bewußt wird, beruht danach auf Kategorisierungen des primären Bewußtseins vor allem durch symbolische Mittel, ganz entscheidend aber auch auf der "Selbstheit" (der personalen Identität; Seiten 190, 194 und 240), die durch den Bezug auf die menschliche Gemeinschaft ermöglicht wird.

Edelmans Position verdeutlichen am besten die drei Annahmen, die er seiner Theorie zugrundelegt: Erstens seien die Gesetze der Physik eine notwendige, aber nicht hinreichende Basis für Bewußtsein; zweitens sei Bewußtsein eine durch die Evolution ausgelesene Eigenschaft und deshalb nicht nur eine Begleiterscheinung (ein Epiphänomen) geistiger Prozesse, sondern kausal wirksam; drittens habe jedes bewußte Wesen jene als "Qualia" bezeichneten geistigen Zustände, aus denen unser subjektives Erleben – Gefühle, Sinneseindrücke – besteht.

Qualia sind ein Kern des Bewußtseinsproblems und ein heikles Problem für die Naturwissenschaft, denn auch die geistigen Aktivitäten von Naturwissenschaftlern beruhen auf Qualia. Da Qualia aber keinem anderen als dem Erlebenden selbst zugänglich sind, werden sie in der intersubjektiven Kommunikation aus jeder Theorie grundsätzlich verbannt und daher durch die heutige Naturwissenschaft auch nicht erklärt: "Der Geist wird aus der Natur entfernt" (Seite 167). Eine Wissenschaft des Bewußtseins, so Edelman, muß den Geist in die Natur zurückbringen und deshalb über die heutige Naturwissenschaft hinausgehen. Andere Theoretiker gehen diesen Problemen aus dem Weg, indem sie die kausale Wirksamkeit des Bewußtseins und die Existenz von Qualia in Abrede stellen.

Der hier beschriebene zentrale Gedankengang von Edelmans Buch steht im dritten Teil, der sich außerdem mit Aufmerksamkeit, dem Unbewußten und dem Entstehen von Sprache befaßt. Der erste Teil enthält eine Einleitung, der zweite beschäftigt sich mit Entwicklung und Aufbau des Gehirns, Gebieten, auf denen Edelman selbst gearbeitet hat und die für ihn wesentlich zum Verständnis des Geistes sind. Im vierten und letzten Teil diskutiert er Auswirkungen seiner Theorie, und es geht darin um Philosophie, Reduktionismus, Geisteskrankheiten und künstliches Bewußtsein.

In einem umfangreichen Nachwort unter dem Titel "Geist ohne Biologie" setzt sich Edelman mit Modellen des Geistes und insbesondere der gegenwärtigen Hauptströmung, dem Kognitivismus, auseinander. Dessen Vorstellung, das Gehirn funktioniere nach dem Prinzip eines Computers, hält Edelman angesichts unserer heutigen Kenntnis von Entwicklung und Aufbau des Gehirns, insbesondere seiner je eigenen, von individuellen Erfahrungen geprägten und unwiederholbaren Entwicklungsgeschichte, für absurd. Philosophie und Kognitivismus wirft er vor, die biologischen Grundlagen des Geistes weitgehend zu ignorieren. Der Kognitivismus entledige sich mit Hilfe eines "Kunstgriffs" dieses Problems, indem er die Verarbeitung symbolischer Repräsentationen als Prinzip des Geistes postuliere, deren unterste Ebene, die der Symbole, auf beliebige Weise realisiert werden könne und damit unabhängig von der Biologie werde.

Des weiteren kritisiert Edelman vor allem die mit solchen Theorien einhergehende Vorstellung, der Spracherwerb beruhe auf einem genetisch vorgegebenen Mechanismus. Die von Edelman bevorzugte Vorstellung einer "semantischen Ureingabe", die Affekt, Belohnung, Lernen und (phonologische) Kategorisierung verknüpft, ist da in der Tat viel überzeugender.

Edelmans Buch ist auch eine populärwissenschaftliche Zusammenfassung seiner früheren Bücher zu diesem Thema, die sich mit embryonaler Entwicklung, neuronalen Gruppen im Gehirn (deutsch: "Unser Gehirn – ein dynamisches System", München 1993) und Bewußtsein beschäftigen. Leider bleibt gerade in dem zentralen Kapitel, das die Theorie neuronaler Gruppen beschreibt und sein entsprechendes Buch zusammenfaßt, manches unverständlich. Aber das ist eher die Ausnahme; Edelman schreibt sonst klar und überzeugend, mit großem Engagement.

Vergleiche mit anderen Theorien und Modellen – abgesehen von seiner umfassenden Auseinandersetzung mit dem Computermodell des Geistes – fehlen. Vermutlich kann Edelman sie aus seiner Sicht gar nicht bieten, weil er seine Theorie für einzigartig hält: "Andere Forscher haben ähnliche Ansichten vertreten, sie jedoch nicht in einer einzigen auf der Evolution gründenden Theorie vereinigt, einer Theorie also, die Embryologie, Morphologie, Physiologie und Psychologie verknüpft" (Seite 212).

Ganz unrecht hat er damit nicht; es macht ihn aber nicht über jede Kritik erhaben. So ist er bei der Übernahme des Darwinismus bemerkenswert unkritisch; vielmehr könnten Weiterentwicklungen und Differenzierungen dieser Theorie Edelmans eigenes Projekt wahrscheinlich wesentlich vorantreiben. Dies ist auch nötig – er bestreitet das nicht –, da sein Modell in vieler Hinsicht zu allgemein bleibt, als daß es empirisch überprüft werden könnte.

Am Ende dürfte Edelman seine Leser überzeugt haben, daß die Biologie (und er selbst) Wesentliches zum Verständnis des Geistes beitragen. Unter den Büchern zu diesem Thema – "on the matter of the mind", wie der Untertitel seines Buches einmal lautete – rangiert es an oberster Stelle.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1996, Seite 120
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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