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Grenzen der Naturwissenschaft. Erkennen als Handeln


Der Stier, der auf das rote Tuch zurennt, „will“ rot sehen. Wahrnehmen ist Handeln, Handeln ist intentionales, das heißt zweckhaftes Verhalten, lebensweltlich eingebettet. Möglicherweise, und dies betrifft den Widerfahrnis-Charakter, stellt sich entgegen seiner Intention das Tuch als gar nicht rot heraus.

Mit dem heute nur noch sprichwörtlichen roten Tuch, welches der Marburger Philosoph Peter Janich an anderer Stelle auch verwendet, möchte ich Sie in die philosophische Lebenswelt des Autors locken. Gerade bei der Wahrnehmung könnte sich der Ansatz mit dem zweckhaften Handeln als fruchtbar erweisen. Strebt nicht der Wahrnehmungshandelnde danach, das zu Registrierende mit einer intern schon gebildeten Erwartung in Einklang zu bringen?

Vom Wahrnehmen handelt (!) Janichs Buch nicht in der Breite, obwohl das Thema in seinem erkenntnistheoretischen Angelpunkt steht. Durchgängig ist bei seiner tour de critique durch die Wissenschaftsgebiete der Aspekt zweckhaften Handelns. In der Bindung an den menschlichen Beobachter sieht er auch eine – im Buchtitel firmierende – Beschränkung der Naturwissenschaften.

Wenn dabei ein programmatisches Schlagwort in den Vordergrund zu rücken wäre, so das vom Kulturalisten Peter Janich, der gegen den „naturalistischen Fehlschluß“ (um diesen in der Ethik anderweitig belegten Terminus zu mißbrauchen) der etablierten Wissenschaften zu Felde zieht. Der Naturalismus besteht für Janich darin, daß die Wissenschaft so tue, als sehe sie sich einer zu entdeckenden, zu entblätternden Welt von Tatsachen und Sachverhalten gegenüber. Demgegenüber zeigt Janich allenthalben die aus seiner Sicht operationalen Defizite auf – im Grundlegenden, aber auch in der weiteren Folge, nämlich in einer Mißachtung der technischen Anwendungen von Wissenschaft.

In seiner Grundkritik bezieht Janich sich auf den Mathematiker und Philosophen Hugo Dingler (1881 bis 1954; unser Buch druckt als Todesjahr 1956). „Und sollte die Hausfrau den Hasen erst braten, ihn dann spicken und ihm zu schlechter Letzt erst das Fell abziehen, so werden sie und ihre Gäste mit dem Resultat begreiflicherweise unzufrieden sein“, schreibt Dingler einmal. Gemeint ist: Die Schritte, nämlich die Handlungen (und deren Reihenfolge) zur Gewinnung der Theorien geraten aus dem Blick.

Janich vertritt, zusammen mit Paul Lorenzen, die philosophische Schule, welche Dinglers Ansatz – aber nicht kritiklos – verwendete. Sein Schwerpunkt liegt dabei in seiner „Protophysik“ – er versteht sie als methodische Theorie der Meßgeräte-Eigenschaften. Diesem „Operativismus“ geht es um eine methodische Rekonstruktion und Begründung der Wissenschaften – von einer Dingsprache hin zu einer Sprache der Handlungen. Wie umwälzend sich diese von Dingler begonnene Neubegründung auswirkt, muß sich zeigen. Nur in Ausnahmefällen begründenden Nachvollzugs wird man beim Verspeisen des Hasenbratens das Fell noch mit dabeihaben wollen.

Beispielhaft ist für Janich die Schleifplattenmethode (Dingler stieß darauf in der Aschaffenburger Richtplattenindustrie): Drei grob vorgeebnete Platten werden wechselweise aneinander so lange geschliffen, bis jedes Paar aus dem Tripel beliebig verschiebbar aufeinander passende Oberflächen hat. Auf diese Weise wird „prototypenfrei“ zum Beispiel „Ebenheit“ definiert. Das Plattenschleifen ist ein Beispiel dafür, daß dem Wissenschaftler lebensweltliche Erfahrung widerfährt, die sich zu seinem Reden vorgängig verhält: realisierungs-, aber nicht argumentationszugänglich. Ähnliche prototypenfreie „Handlungs-Apriori“ wandte Janich selbst in der Chronometrie an. Dies veranlaßte ihn zum Beispiel zu einer Korrektur an der Definition von Gleichzeitigkeit in der speziellen Relativitätstheorie Albert Einsteins.

Janich stellt seine Position in den Rahmen der weitreichenden Debatte um „das rote Tuch“ des Kantschen Synthetischen Apriori, jener berühmten „Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung“, und sich selbst in die Reihe der „Toreros“, deren „Tertium Comparationis das Wutschnauben des Stiers“ allzuleicht werden könne. Ungeliebt ist ihm besonders die Nachbarschaft der analytischen Philosophie, welche während ihrer Entwicklung von den fundamentalistischen Ursprüngen im Extrem hin zu einem anything goes mit Vorliebe gegen das Synthetische Apriori anrannte. Janich setzt hiergegen die zwar nonverbale, aber doch Bestimmtheit des Handelns – ein anderes, eigenes Synthetisches Apriori.

Das vorliegende Buch enthält Aufsätze und Reden. Dies bedeutet einen Vorteil, was Lebendigkeit und Brillanz angeht. Wiederholungen sind dabei eingeplant: Geometrie und Physik haben für die anderen Bereiche – Chemie, Biologie, Psychologie, Information – Modellcharakter.

Spätestens nach dem Ende der anregenden, im Material und in der Terminologie ergiebigen Wissenschaftstour ergriff mich doch Unruhe bei der Befürchtung, möglicherweise nie zu erfahren, wie und in welchem Umfang die Wissenschaften nach Janich nun umgeschrieben werden müssen. Die Gefahr ist, polemisch gesagt, daß die Wissenschaften auf eine kontrollsüchtige Weise eingeschüchtert werden. Die Mühsamkeit der operationalen Neufundierung der Wissenschaften ist mit dem Schleifplatten-Verfahren angedeutet. Wie andere wissenschaftsphilosophische Fundamentalismen, die von Janich kritisierten „naturalistischen“ eingeschlossen, ist auch dieser aller Ehren wert – und in Gefahr, steckenzubleiben und revidiert zu werden. Andererseits kann „weg von der Fiktion einer Tatsachenwelt, hin zu den Funktionszusammenhängen des menschlichen Handelns“ ein heilsamer relativierender Ansatz sein.

Es ist natürlich zu fragen, ob die Brüchigkeit der Tatsachenwelt nicht ohnehin vielen Forschern im Hinterkopf schon steckt. Aktuell tut mir ausgerechnet der von Janich geforderte – und aus seiner Grundhaltung verzeihliche – Verzicht auf eine „objektive“, ohne Sender und Empfänger auskommende Definierbarkeit von Information weh: Gibt es nicht doch so etwas wie Information als „Geordnetheit“?


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1993, Seite 121
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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