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Gutenberg, die neuen Medien und die Zukunft der Informationsgesellschaft

Der Buchdruck ist eine Kommunikationstechnologie, die unsere Kultur tiefgreifend verändert und ihre Strukturen über Jahrhunderte geprägt hat. An seinem Beispiel zeigt der Autor, daß man Kulturgeschichte durchaus mit Gewinn als eine Geschichte mehr oder weniger technisierter sozialer Informationsverarbeitung betrachten kann.


Vor 600 Jahren, zwischen 1397 und 1400, wurde Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, in Mainz geboren. Sein Vervielfältigungsprinzip, sein Handgießinstrument und seine Druckerpresse setzten eine tiefgreifende soziale Umwälzung in Gang. Wie kaum eine andere Erfindung wurde die Druckkunst über die Jahrhunderte hinweg als ein Heilsbringer bewundert. Überall in Europa äußerte man die Hoffnung, daß die ars nova imprimendi libros zur Volksaufklärung beitragen, die menschliche Erkenntnis heben und magnum lumen, die große Erleuchtung, bringen möge. "Nach der Geburt der Typographie wurden Bücher zum Gemeingut, von nun an warf sich überall in Europa alles auf das Studium der Literatur, nun wurden so viele Universitäten gegründet, entstanden plötzlich so viele Gelehrte, daß bald diejenigen, die die Barbarei beibehalten wollten, alles Ansehen verloren", formulierte der Astronom Johannes Kepler (1571 bis 1630) die Grundüberzeugung seiner Zeitgenossen 150 Jahre nach der Einführung des Buchdrucks.

Wie sah nun die Technik aus, die so gelobt wurde und so wenig Widerrede erfahren hat?


Leistungen des Typographeums



Concordia et proporcione, Schönheit durch das rechte Verhältnis zwischen den Dingen, wollte Gutenberg zeitlebens erreichen. Ein Buch von bis dahin nie gesehener Harmonie wollte er schaffen, um damit göttliche Gnade und das Lob der Kirche zu gewinnen. Aus diesem Grund richtete sich sein Trachten auch auf die Heilige Schrift. Sollten die Buchstaben in jedem Wort, die Worte in jeder Zeile und auf allen Seiten des Werkes gleichmäßig gestaltet und die Abstände zwischen ihnen einem durchgehenden Prinzip und nicht dem unterschiedlichen Geschmack der vielen Schreiber unterworfen sein, so wie das in den mittelalterlichen Skriptorien üblich war, so mußte ein völlig neues Herstellungsverfahren her: maschinelle Serienproduktion.

Keineswegs hatte Gutenberg eine tausendfache Vervielfältigung von Büchern für einen anonymen Markt im Sinn – ansonsten hätte er schwerlich den bis heute kaum wiederholten künstlerischen Aufwand betrieben, knapp 300 separate Lettern für seinen Bibeldruck zu gießen, wo er doch mit einem guten Zehntel davon ausgekommen wäre. Viel eher brachte seine Leidenschaft für Präzision und vollendete Formen diese gewaltige kulturelle Innovation in Gang – und ruinierten ihn wirtschaftlich. Nur bei der industriellen Massenproduktion rentierte sich seine Technologie.

Aufbauen konnte er, freilich in sehr begrenztem Umfang, auf den verschiedenen Stempeldruckverfahren. Sie alle laufen nach ähnlichem Muster ab: Aufwendiges Schneiden beziehungsweise Stechen einer Form, ihr Einfärben, schließlich Abdruck in Ton, auf Stoff, Pergament oder Papier. Die Leistung dieser herkömmlichen Verfahren liegt in der reinen Vervielfältigung. Die von Gutenberg beabsichtigte Standardisierung des Schriftbildes ließ sich freilich so nicht erreichen, denn jeder einzelne Buchstabe hing weiterhin von der Handfertigkeit des Formschneiders ab, und jeder Abdruck zeigte folglich die gleichen Unregelmäßigkeiten wie handgeschriebene Texte. Um diesen Nachteil zu umgehen, mußte der Kopiervorgang sozusagen mehrfach auf sein eigenes Ergebnis angewendet werden: Zunächst entwirft ein Schreibkünstler ein vollständiges Alphabet mit allen Zusatzzeichen. Dieser Entwurf – praktischerweise auf Pergament oder Fettpapier ausgeführt – wird dann auf den Rohling einer Patrize gelegt und abgepaust. Ein Graveur hebt die Formen aus dem Metall heraus. Durch Einschlagen des Stempels in weicheres Metall erhält man eine Gießform, die Matrize, zum Herstellen beliebig vieler identischer Lettern. Aus ihnen vermag nun der Setzer die gewünschte Druckform zu fertigen, indem er sie zu Schriftzeilen und diese zu Seiten zusammenfügt.

Die technische Grundidee Gutenbergs ist die mehrfache Spiegelung informativer Muster, ein ziemlich umwegiges Verfahren. Dessen Erfolg hängt von der Minimierung der Rückkopplungseffekte ab. Durch Auswahl geeigneter Übertragungsverfahren und Materialien gilt es zu vermeiden, daß das Werkzeug durch das hergestellte Werkstück beeinträchtigt wird: also das Graviermesser durch die Patrize, die Patrize durch die Matrize, die Matrize durch die Letter, die Letter durch das bedruckte Papier – und das Papier durch den Leser. Würde dieses Prinzip nur an einer Station unterbrochen, etwa die Patrize beim Einschlagen in die Matrize verformt, so stürzte die gesamte Vervielfältigungspyramide zusammen. Im ökonomischen Sinn lohnt sich dieses Prinzip nur dann, wenn mit einem Schriftmuster gleich mehrere Patrizen, mit einer Patrize viele Matrizen, mit einer Matrize wiederum viele Lettern und mit einer Letter wiederum viele Drucke hergestellt werden. Dies bedeutet, daß ein Schriftkünstler viele Stempelschneider, ein Stempelschneider zahlreiche Gießereien, eine Gießerei viele Druckereien und jede Druckerei eben viele Leser beliefern kann.

Gutenbergs Genie liegt hier gewissermaßen in seiner Sturheit: Viermal wiederholt er einen im Prinzip gleichen Vorgang, um sein Ziel zu erreichen. Und mit der gleichen Sturheit vollzieht sich die Industrialisierung in Europa seit der frühen Neuzeit. Es werden Formen (unter Nutzung anderer Formen) gefertigt und geeignete Pressen bereitgestellt, um massenhaft Produkte mit völlig gleichen Proportionen herzustellen. Anfangs eignete sich nur Metall für diese mehrfachen Umformungsprozesse, und deshalb beginnt mit dem Buchdruck auch die Verdrängung des Holzes, des bis dahin wichtigsten Baustoffes für Maschinen.

Im Laufe der Zeit paßte sich unser europäisches Denken, beileibe nicht nur jenes der Techniker, diesem Produktionsprozeß an. Ziel sowohl des mechanischen Handelns als auch des linearen und kausalen Denkens muß die Verringerung beziehungsweise die Ausblendung von Rückkopplungseffekten sein. Denken, das diesem mechanischen Prinzip entspricht, verläuft monokausal. Es vernachlässigt die Tatsache, daß natürlich auch das Werkstück auf die Form zurückwirkt – und diese überhaupt nur geschaffen werden kann, wenn die Eigenschaften des Werkstücks berücksichtigt werden.

Nicht nur unser Denken, sondern auch unser Verständnis von Kommunikation wird von den Funktionsprinzipien des Buchdrucks als dem Urtyp der mechanischen Industriekultur bestimmt: Der Mythos, man könne Wissen weitergeben wie gedruckte Bücher, hält sich noch immer. Rhetorisches Ideal ist nicht das wechselseitige Geben und Nehmen, sondern die einseitige Beeinflussung des Werkstücks Hörer durch den Sprecher.


Die Technisierung der sozialen Informationsverarbeitung



In diesem Sinne typisch monokausal ist auch die Vorstellung, die Produktionstechnologie und die Erfindungen Gutenbergs – Handgießinstrument, verschiebungsfreie Druckerpresse und Setzkasten – seien allein schon das Unterpfand für den kulturellen Wandel. Vielmehr mußten eine Reihe weiterer Bedingungen hinzutreten, damit der Siegeszug der neuen Technologie möglich war:

- neue Wahrnehmungs- und Darstellungstheorien,

- neue Informationen, die sich für die Verbreitung im Druck eigneten, sowie

- neue Verteilungsnetze und ein neues Verständnis von Kommunikation.

Um diese Elemente zu verstehen, sollte man die Erfindungen Gutenbergs als Teil eines komplexen Systems sozialer Informationsverarbeitung auffassen. Bild 1 gibt einen Überblick über die wichtigsten Stationen des Informationskreislaufs, über den Aufbau des typographischen Informationssystems und über seine Wechselwirkung mit der Umwelt.

Wie bei psychischen, technischen oder elektronischen Informationssystemen können wir auch bei der sozialen Informationsverarbeitung zwischen Sensoren, Speichern, verschiedenen Prozessoren und den dazwischen ablaufenden Transformationsprozessen unterscheiden. Mensch und Technik wirken sozusagen Hand in Hand, um den Informationskreislauf in Gang zu halten, bilden soziotechnische Systeme. Man wird im übrigen kein technisches Informationsmedium verstehen können, wenn man nicht seine Beziehungen zu den natürlichen Möglichkeiten unseres menschlichen Organismus reflektiert. Alle technischen Kapazitäten müssen auf unsere psychophysiologischen Möglichkeiten – etwa den Leistungsbereich und die Grenzen unserer Sinne – abgestimmt sein.

Ein Blick auf Bild 1 zeigt, daß die Autoren eine Schnittstelle des Systems mit ihrer Umwelt bilden. Sie wirken als Sensoren, als Sinnesorgane, indem sie Informationen aus der Umwelt aufnehmen. Um den neuen Medien im alltäglichen Leben zum Durchbruch zu verhelfen, war es erforderlich, gänzlich neue Formen von Informationen, die zuvor noch nicht handschriftlich oder mündlich tradiert wurden, für die Verbreitung im Druck zu gewinnen. Dazu mußten die Autoren alternative Formen der Wahrnehmung und Informationsdarstellung erproben. Im nächsten Schritt transformieren sie dann ihre Wahrnehmungen in handschriftliche Texte, in Verlagsmanuskripte. Schon hier zeigt sich, daß die typographische Kultur auf die älteren skriptographischen Techniken und Medien angewiesen ist und diese in ihren Aufbau integriert. In keiner älteren handschriftlichen Kultur wurde mehr mit der Hand geschrieben als in der Buchkultur der Neuzeit. Die Manuskriptform ist eine notwendige Bedingung für die weitere typographische Verarbeitung: Die Druckereien und Verlage können im Gegensatz zu den Skriptorien, in denen oftmals viele Schreiber nach Diktat arbeiteten, mit mündlich dargebotenen Informationen nichts anfangen.

In der Druckwerkstatt transformiert man die Informationen erneut: Seite für Seite setzt man den Text mit Bleilettern, schließt ihn in Formen und bringt ihn dann gemeinsam mit den Papierbögen unter die Presse. Bei jedem Preßvorgang entstehen identische Exemplare. Diese Form von Klonung hat die damaligen Zeitgenossen nicht weniger fasziniert als die modernen gentechnischen Experimente uns. Überliefert ist etwa, daß kirchliche Würdenträger die verschiedenen Druckexemplare eines Titels noch einmal auf ihre Identität überprüfen ließen. Und mehr Bewunderung als die Schrift selbst rief bei den Kulturen, denen Missionare im 16. und 17. Jahrhundert die Bibel nahezubringen suchten, die Tatsache hervor, daß die Texte in verschiedenen Exemplaren alle völlig gleich waren. Dies konnte doch keinen natürlichen Ursprung haben!

Informationstheoretisch gesehen ermöglicht der Buchdruck die massenhafte Parallelverarbeitung von Informationen: Ein und derselbe Text kann aufgrund der Vervielfältigung von vielen Personen gleichzeitig gelesen werden. Die Zeitgenossen Gutenbergs haben dieses Phänomen als Beschleunigung des Informationsaustauschs erlebt und ebenso sehr begrüßt wie die gestiegene Wahrscheinlichkeit, daß sich irgendeiner der vielen Texte durch alle Wirren der Zeiten hindurch schon erhalten werde, so daß sie auch noch von ferneren Nachkommen gelesen werden konnten.


Neue Verteilungsnetze



Voraussetzung für die Steigerung der Parallelverarbeitung waren freilich neue Vernetzungsformen. Wenn man die gedruckten Bücher ebenso verbreitet hätte wie die Handschriften im Mittelalter, dann wären die kulturellen Folgen der Gutenberg-Erfindung weit bescheidener ausgefallen. Man bediente sich jedoch in den Kernlanden Europas einer völlig neuen Vernetzungsform, nämlich des freien Marktes. Schon Gutenberg betrieb seine Druckerei als kommerzielles Gewerbe. Die gedruckten Bücher wurden somit zu einer Ware wie jede andere auch; für sie mußte entsprechend geworben werden. "Freundlicher lieber Leser", heißt es zum Beispiel in einer Ausgabe der "Wundarzenei" des Paracelsus (1493 bis 1541), "wende das Blatt herum, so erfährst du, was dieses Büchlein beinhaltet. Es wird dich gewiß nicht gereuen, diesen großen Schatz mit so wenig Geld zu kaufen". Nicht in erster Linie Stand oder Profession, sondern das Geld sollte fürderhin der Mechanismus sein, nach dem Informationen verteilt wurden. Wer Geld besaß, konnte drucken lassen und Druckerzeugnisse kaufen. Folgerichtig wenden sich Bücher denn auch nicht vorrangig an den Leser, sondern – wie es etwa auf dem Titelblatt der "Dialectica" des Ortolf Fuchsperger heißt (Bild 2) – an den Käufer. Erst durch die freie marktwirtschaftliche Verbreitung erhalten gedruckte Informationen ihren öffentlichen Charakter, der sie so deutlich von jenen Erfahrungen abgrenzt, die nur handschriftlich tradiert wurden.

Im Gegensatz zu den Manuskripten, die meist der Vorbereitung, Durchstrukturierung und Nachbereitung des mündlichen Vortrages dienten, ist das Gros der typographischen Gattungen für ein stilles Selbstlesen und Selbstlernen gedacht. Ihr Ziel ist es gerade, unmittelbare Interaktion – beispielsweise einen Experten aufsuchen, einem Vortrag lauschen oder einer unterhaltsamen Aufführung beiwohnen – zu ersetzen.

Zumeist hatten solche handschriftlichen Aufzeichnungen gar keine kommunikative Funktion, sondern fungierten als Hilfsmittel für psychische Systeme, die individuelle Informationsverarbeitung also. Bis ins 16. Jahrhundert hinein blieb die Handschrift die Magd der Rede, sie war keineswegs ein selbständiges Medium der Interaktion mit anderen. Die monomediale, interaktionsfreie Kommunikation ist erst eine von Gutenberg angestoßene, von ihm keinesfalls beabsichtigte Wirkung des Buchdrucks.

Eine gewisse Autonomie gegenüber dem Gespräch erlangten die handschriftlichen Medien bestenfalls auf klar vorgezeichneten Dienstwegen in den mittelalterlichen Institutionen: den städtischen und überregionalen Verwaltungen, den Orden und Glaubensgemeinschaften. Diese Netze hatten aber eine ganz andere Struktur als der Markt. Sie waren strikt hierarchisch organisiert. Sowohl von oben nach unten als auch von unten nach oben quälten sich die Informationen – wie Bullen, Petitionen und Kommentare – durch den Instanzenweg. Die Schriften eines Mönches etwa mußte der Abt lesen und billigen, bis sie einen Ordensoberen erreichen konnten. Und erst wenn dieser zugestimmt hatte, gelangten sie vielleicht in die Hände des Bischofs. Erst was den Segen der oberen Etagen in diesen Institutionen erhalten hatte, konnte anschließend durch die verschiedenen Verästelungen der Pyramide wieder nach unten verteilt werden. Nur das, was die jeweilige Spitze in speziell dafür eingerichteten Situationen verkündete, galt für alle Mitglieder der betreffenden Gemeinschaft als "offenbar". Dieses Prinzip gilt für die Politik ebenso wie für die schöne Literatur an den Höfen oder für die Evangelienharmonien der Mönche.

Wer die neuen marktwirtschaftlichen Netze nutzen wollte, war auf Approbationen – die Zustimmung zur Veröffentlichung – der Vorgesetzten ebensowenig angewiesen wie auf den Instanzenweg. Im Prinzip lag es von nun an in der Hand der Autoren – und der Drucker – zu bestimmen, welche Informationen öffentlich werden sollten. Auch der Kreis derjenigen, der Zugang zu den Druckerzeugnissen bekam, ließ sich, nachdem einmal die Verbreitung auf dem Markt eingesetzt hatte, kaum mehr kontrollieren. Der Mönch Martin Luther etwa konnte mit dem Papst über seine Flugschriften in Kontakt treten, ohne daß er die langwierigen Wege der kirchlichen Hierarchie beschreiten mußte. Der Papst andererseits wendete sich mit seinen gedruckten Mahnungen ebenfalls sehr viel unmittelbarer an die Prediger in seinem Reich, als dies zuvor mit den Mitteln des handschriftlichen Mediums möglich war. Es ist diese Abkürzung der Kommunikationsbahnen, die sowohl als Beschleunigung als auch als Vergesellschaftung von Informationen verstanden wird.

Eine ähnliche Neubestimmung der kommunikativen Vernetzungswege und der Konzepte von öffentlicher und privater Information erleben wir im Augenblick mit dem Übergang zu den elektronischen Verbreitungsformen im Internet. Der Blick zurück in die Mediengeschichte mag eine Ahnung von dem Ausmaß der zu erwartenden Umstellungen geben: Glaubwürdigkeit und Funktionsweise von etablierten Institutionen stehen ebenso auf dem Prüfstand wie die Vorstellung von Demokratie.

Zumindest aber sollten wir jetzt, wo andere Technologien zu Wunschmaschinen geworden sind, zu einer nüchternen Betrachtung der positiven und negativen Auswirkungen des Buchdrucks in der Lage sein. Dabei wird sich zuerst zeigen, daß seine wichtigsten Errungenschaften – normierte und technisierte visuelle Wahrnehmung, Verschriftlichung der Umwelt, interaktionsfreie Parallelverarbeitung von Informationen – zugleich seine Schwächen sind: Vernachlässigung anderer Sinne und von nicht-sprachlichen Formen von Informationsverarbeitung sowie des Gesprächs mit einem direkten Gegenüber. Der Umstand, daß jede Spezialisierung der Informationsverarbeitung in anderen Bereichen Sensibilität, Bearbeitungs- und Speicherungskapazitäten abzieht, wird noch zu häufig übersehen.


Die Zwischenzeit der neuen Medien



Bislang erweisen sich die neuen elektronischen Medien noch vor allem als konsequente technische Fortentwicklungen von Programmen und Modellen, die bereits im Buchdruckzeitalter entstanden sind. Dies gilt zum Beispiel für die Umsetzung perspektivischen Sehens und entsprechender Bilder in Film, Fernsehen und Computeranimationen, aber auch für die Rechenmaschinen, die logische Operationen mit denjenigen Symbolen ausführen, die wir aus der Buchkultur bestens kennen: Schrift- und Zahlzeichen. Und es gilt weiterhin für die elektronischen Versionen von Büchern und Katalogen auf CD-ROMs. Als Näherungsregel kann gelten: Alle Software, die sich problemlos durch typographische Produkte umsetzen läßt oder aus ihnen durch einfache Übersetzungsprozesse hervorging, gehört noch der typographischen Ära an.

Die Bedingung tiefgreifender kultureller Änderungen durch technische Medien ist aber gerade, daß sie an andere Sinne und psychische Instanzen des Menschen anknüpfen als die etablierten. Wirkliche Umwälzungen sind in der Gegenwart deshalb von Programmen und Technologien zu erwarten, die nicht an die Augen, an den Verstand, an das sprachlich-begriffliche, logische, lineare Denken anknüpfen, sondern die Phantasie, das Gefühl und unterschwellige Empfindungen ansprechen. Die Geschwindigkeit und vieles andere mehr machen die neuen Medien nachgerade zu einem Instrument für das Unbewußte und Affektive: Der Verstand ist viel zu träge, um die dargebotenen Informationen wahrzunehmen und zu verarbeiten. Videoclips wirken weniger über das Anschauen der gegliederten Filmsequenzen als vielmehr über rhythmische Vibrationen. Technomusik kann man schwerlich genießen, wenn man sie in traditionellem Sinne hört: Wer sie mag, geht mit, läßt sich und seinen Körper im Takt bewegen.

Sofern die elektronischen Medien nonverbale und unbewußte Formen der Informationsverarbeitung verstärken, schlagen sie wirklich neue Wege ein und werden vielleicht gerade deshalb von den Kritikern, die noch fest in der Buchkultur verwurzelt sind, abgelehnt. Das, was etwa Neil Postman an der Fernsehkultur stört, daß sie so wenig diskursiv, so irrational sei, das eben macht ihre eigentliche Qualität aus. Sie entlastet das Bewußtsein, das in der Buchkultur sowieso überstrapaziert wurde.

Die neuen elektronischen Medien bieten also die Chance, die einseitige Orientierung auf bestimmte Formen der visuellen und akustischen Informationsgewinnung und -darstellung aufzubrechen. Zudem fördern sie sprachunabhängige Formen des Umgangs mit Informationen. Im Gegensatz zur noch oft geäußerten Meinung liegt ihre Stärke keineswegs in der Automatisierung der bislang mechanisch betriebenen Rechenoperationen und der Textverarbeitung. Die Entwicklung der Robotronik und der vielfältigen elektronischen Sensoren zeigt unter anderem, daß die Computertechnologien nicht notwendigerweise am Sehen und/oder an standardsprachlichen Inputs anzuknüpfen brauchen.


Die zunehmende Bedeutungdes Gesprächs



Unsere Kultur, die in den vergangenen Jahrhunderten auf die sprachlich und visuell erfahrbare Wirklichkeit, den Verstand und die ebenfalls mit den Augen zu lesenden Bücher wie das Kaninchen auf die Schlange gestarrt hat, kann sich langsam wieder anderen Sinnen und Formen der Erfahrungsverarbeitung zuwenden. Sie wird dabei erkennen, daß die Medienvielfalt für unsere Kultur ebenso wichtig ist wie die Erhaltung der biologischen Vielfalt der Natur. Und sie wird aus der historischen Betrachtung lernen, daß bislang noch alle Technisierung der Informationsverarbeitung und Kommunikation zu einer einseitigen Entwicklung der Sinne geführt und deren Trennung verstärkt hat. Auch das, was unter dem Schlagwort Multimedia zusammengefaßt ist, beansprucht unsere Sinne im Vergleich zu einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht höchst einseitig.

Wenn die Zukunft tatsächlich eine Wende zur multimedialen Informationsverarbeitung bringen soll, so wird es notwendig, die Ressourcen des Gesprächs als Integrationsinstanz zu entwickeln. Diese Kommunikation verläuft immer multisensoriell, multimedial, und sie bedient sich auch vieler unterschiedlicher Darstellungsweisen. Sie ist darum bislang die einzige Instanz, die komplex genug ist, um die unterschiedlichen Informationen, die für die menschliche Kultur wichtig sind, wieder zusammenführen zu können. Und diese Bedeutung als Integrationsinstanz wächst in dem Maße, in dem durch die Technisierung monomediale Informations- und Kommunikationssysteme entstanden sind. Es verhält sich auf dem Felde der Informationsverarbeitung genauso wie mit jeglicher anderer Arbeitsteilung: Je mehr sie vorangetrieben wird, desto stärker wird der Aufwand und das Erfordernis, sie wieder zusammenzuführen. Ab einem bestimmten Punkt zahlt sich die Differenzierung überhaupt nicht mehr aus, weil der Planungs- und Integrationsaufwand zu groß wird; und dieser Punkt scheint auf dem Felde der Informationsverarbeitung schon vielfach erreicht.

Ein Indiz dafür mag sein, daß Kommunikationstrainings und selbstreflexive Gesprächsformen wie Coaching und Supervision in nahezu allen Bereichen unserer Gesellschaft vermehrt nachgefragt werden. Diese Form der Weiterbildung hat sich nachgerade zu einem zweiten Bildungssystem neben unseren Schulen und Universitäten entwickelt. Es wird eine dringliche Aufgabe der Politik sein, das staatliche Bildungssystem an die Standards anzupassen, die viele privatwirtschaftlichen Qualifizierungsprogramme schon seit Jahren bestimmen. Training professioneller Kommunikation, Verbesserung der Selbst- und Fremdwahrnehmung, Selbstmanagement, Moderation und Visualisierung, kreatives Schreiben und Gestalten, Teamarbeit und Möglichkeiten der Konfliktbewältigung, so oder ähnlich lauten Titel von Weiterbildungsveranstaltungen, die in großen Industrieunternehmen oft mehr als ein Drittel des Kursprogramms ausmachen. An den Schulen und Universitäten lehrt und lernt man demgegenüber die vielfältigen Fähigkeiten und Einstellungen, die erforderlich sind, um in Gruppen zu arbeiten und die Ressourcen des Einzelnen zur Geltung zu bringen, bestenfalls nebenbei. Es ist aber überhaupt nicht einzusehen, warum die unmittelbare soziale Informationsverarbeitung unkomplizierter und einfacher zu lernen sein sollte als die technische. Auf diesen Aspekt die gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu lenken ist die Hauptaufgabe einer zeitgemäßen Kulturpolitik.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1998, Seite 148
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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