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Häufung winterlicher Sturmtiefs - Zufall oder Zeichen eines beginnenden Klima-Umschwungs?

Eine Statistik der Häufigkeit von Tiefdruckgebieten mit extrem niedrigen Kerndrücken im Winter zeigt für dieses Jahrhundert beträchtliche Schwankungen; besonders auffällig sind ungewöhnlich hohe Werte in den letzten Wintern.


Eine Serie von Wintern mit schweren Stürmen im atlantisch-europäischen Raum hat Befürchtungen in der Öffentlichkeit geweckt, daß es sich um Begleiterscheinungen einer sich anbahnenden Klimaveränderung handeln könne. Andererseits gab es ungewöhnlich viele Sturmtiefs auch schon in früheren Wintern – beispielsweise 1948/49, 1951/52 und 1956/57. Verläßliche Aussagen über mögliche Trends kann somit nur eine möglichst vollständige längerfristige Statistik liefern.

Aus diesem Grund haben meine Kollegen und ich in der Arbeitsgruppe Klimaforschung am Meteorologischen Institut der Humboldt-Universität zu Berlin für das Gebiet zwischen 60 Grad westlicher und 60 Grad östlicher Länge sowie 30 Grad nördlicher Breite und dem Nordpol, zu dem Europa und große Teile des Nordatlantiks gehören, von 1899 bis heute die Häufigkeit von Zyklonen ermittelt. Kriterium war dabei ein Kerndruck von weniger als 990 Hektopascal. Unser besonderes Interesse galt extremen Tiefs mit Kerndrücken unter 950 Hektopascal.

Tiefdrucktätigkeit hängt generell mit einer ausgeprägten Frontalzone zusammen: einem Übergangsgebiet mit sehr großen horizontalen Temperaturunterschieden an der Grenze zwischen den wärmeren tropischen und den kälteren polaren Luftmassen. Durch die starken Temperatur- und Luftdruckgegensätze, die innerhalb dieser Zone herrschen, können wellenförmige Störungen entstehen und sich rasch zu ausgedehnten Tiefdruckgebieten entwickeln. Im Januar letzten Jahres war die Luft über dem zentralen Nordatlantik zum Beispiel kälter als normal. Wegen der resultierenden ungewöhnlich starken Temperaturgegensätze bildeten sich folglich besonders viele und intensive Tiefdruckgebiete.

Anders als andere Wissenschaftler, welche die Winterhalbjahre seit 1956/57 betrachteten, haben wir nicht bestimmte Tiefs in ihrem zeitlichen Verlauf analysiert, sondern im Abstand von 24 Stunden alle Zyklonen aus den Wetterkarten ausgezählt. Deshalb beziehen sich unsere Daten nicht auf einzelne wandernde Tiefdruckgebiete, sondern sind praktisch Maßzahlen zur Charakterisierung der Zyklonenhäufigkeit.

Bei der Betrachtung der Extremtiefs ist es im allgemeinen gerechtfertigt, sich auf den Winter zu beschränken. Nach unserer Untersuchung entfallen ungefähr 83 Prozent der Zyklonen auf die drei Monate von Dezember bis Februar, und die meisten treten im Januar auf. Vereinzelt werden Extremtiefs auch noch in den Monaten März, Oktober und November registriert, während sie im April und September die Ausnahme bleiben (zusammen 1 Prozent) und von Mai bis August vollständig fehlen. Betrachtet man hingegen Tiefs mit Kerndruck-Obergrenzen von 970 oder 990 Hektopascal, so fallen lediglich 62 beziehungsweise 39 Prozent in die drei Wintermonate.

Bei der Beurteilung unserer Statistik ist zu berücksichtigen, daß die ausgewerteten Wetterkarten gerade im Bereich der stärksten Tiefdruckaktivität – nämlich im grönländisch-isländischen Raum – bis Mitte der vierziger Jahre vermutlich stark fehlerbehaftet sind; denn zum einen war das Beobachtungsnetz vor allem über den Meeren damals noch zu dünn, und zum anderen wurde die freie Atmosphäre fast gar nicht sondiert. Nur so ist wohl zu erklären, daß die Zahl aller in den Wetterkarten eingezeichneten Tiefdruckgebiete zu dieser Zeit um 25 bis 50 Prozent geringer war als in den nachfolgenden Jahren.

Doch selbst mit diesem Vorbehalt zeigt unsere Statistik eine Zunahme der mittleren Häufigkeiten. So waren Tiefs mit Kerndrücken unter 950 Hektopascal bis Ende der sechziger Jahre mit durchschnittlich nur zweien pro Jahr sehr viel seltener als in den letzten beiden Jahrzehnten. Und selbst wenn man wegen der Unsicherheit der Daten in der ersten Jahrhunderthälfte erst von 1946/47 an rechnet, liegt die mittlere Häufigkeit von Extremtiefs bis 1969/70 mit ungefähr 3,0 pro Jahr immer noch ziemlich niedrig. Insbesondere in den sechziger Jahren waren Orkantiefs ausgesprochen selten.

Seit Anfang der siebziger Jahre aber traten fast in jedem Winter mehr als drei auf, und der Mittelwert stieg bis 1987/88 auf ungefähr 4,4. Auch Zyklonen mit höheren Kerndrücken nahmen in dieser Zeit zu. Die beiden Winter mit den weitaus meisten Extremtiefs überhaupt (20 beziehungsweise 15) liegen lediglich vier beziehungsweise drei Jahre zurück.

So eindeutig dieser Trend scheint, wird er in der Fachwelt allerdings teilweise angezweifelt. Einige Klimaforscher argumentieren, die beobachtete zunehmende Häufigkeit von Extremtiefs sei durch Verbesserungen in den Wetterkarten vorgetäuscht. Bisher konnte dies aber nicht bewiesen werden.

Unbestritten sind jedenfalls die starken Schwankungen, die sich allerdings noch nicht überzeugend erklären ließen. Eine auffällige Besonderheit ist zum Beispiel, daß in den siebziger und achtziger Jahren bei allen Tiefs – also bei solchen mit Kerndrücken unter 950, unter 970 und unter 990 Hektopascal gleichermaßen – zwei Häufigkeitsmaxima in der ersten Hälfte des Jahrzehnts zu erkennen sind. Auch um 1950 erreichte die mittlere Extremtiefhäufigkeit mit einem Wert von fast fünf schon einmal ein ausgeprägtes kurzfristiges Maximum.

Die Entwicklung in den letzten sechs Jahren sprengt freilich den Rahmen alles bisher Dagewesenen. In dieser Zeit ist die mittlere Extremtiefhäufigkeit schlagartig auf elf emporgeschnellt. Gleichwohl gibt es auch hier Differenzierungen. So blieb der letzte Winter mit nur vier Extremtiefs im Rahmen des Normalen. Außerdem traten im vorletzten Winter die weitaus meisten Orkane im Januar auf, während sie sich in den Jahren davor ziemlich gleichmäßig auf die drei Wintermonate verteilten oder im Dezember am häufigsten waren.

Weil der mittlere Kerndruck eine weitere bedeutsame Größe zur Charakterisierung der Tiefdruck-Intensität ist, haben wir ihn gleichfalls aus sämtlichen Tiefs im Zeitraum von Dezember bis Februar berechnet (Bild 2). Wie sich zeigt, schwankt auch dieser Wert stark und hat in den letzten Jahrzehnten deutlich abgenommen. Wiederum gab es Anfang der siebziger und der achtziger Jahre zwei Minima – letzteres allerdings nur gering ausgeprägt – sowie Ende der achtziger Jahre einen tiefen Einbruch.

Das dabei erreichte niedrige Niveau blieb praktisch bis zum Winter 1992/93 bestehen. So lag der mittlere Kerndruck im Januar 1993 mit 968,7 nur minimal über dem niedrigsten je ermittelten Wert von 968,2 Hektopascal, der zunächst im Februar 1989 und dann im gleichen Monat des nächsten Jahres noch einmal erreicht wurde. Im gesamten Jahrhundert ist der mittlere Kerndruck insgesamt nur dreimal – im Januar 1957, Februar 1959 und Januar 1974 – unter 970,0 Hektopascal gefallen. Am 10. Januar 1993 wurde mit einem Wert unter 915 Hektopascal (nach der Wetterkarte) der zweitniedrigste Kerndruck in diesem Jahrhundert festgestellt; der niedrigste (unter 910 Hektopascal) trat am 15. Dezember 1986 auf – kurioserweise in einem Winter mit eher wenigen Extremtiefs.

Noch läßt sich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, daß es sich bei der Häufung von Zyklonen mit extrem niedrigen Kerndrücken in jüngster Zeit lediglich um normale Wetterkapriolen handelt. Sollten Orkantiefs und außergewöhnlich niedrige mittlere Kerndrücke allerdings weiterhin gehäuft auftreten, müßte man dies, nachdem auch die mittleren Jahrestemperaturen seit Beginn der siebziger Jahre deutlich gestiegen sind, als weiteres Zeichen einer sich anbahnenden Klimaänderung werten. Immerhin steht jetzt schon fest, daß die Entwicklung der letzten Jahre einmalig für den untersuchten Zeitraum ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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