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Heilsame Unvollkommenheit


Im Laufe ihrer Evolution haben die Pflanzen die Fähigkeit erworben, immer neue chemische Verbindungen zu synthetisieren. Wie kommt es, daß einige als Medikamente dienen können?

Möglicherweise haben sich die Pflanzen derselben Angriffsweisen von Bakterien, Viren und Parasiten zu erwehren wie der Mensch, und ihr Stoffwechsel ist nicht so grundlegend verschieden vom tierischen, daß ihre Produkte nicht auch in fremder Umgebung ihre Wirkungen entfalten könnten. Die in der Medizin verwendeten Substanzen sind zu 80 Prozent natürlichen Ursprungs. Indem die Pharmakologen ihre Wirkungen auf den Menschen erforschen, nutzen sie den Anpassungsvorteil, den die Pflanzen sich in der Evolution erworben haben. Nur die restlichen 20 Prozent sind vom Menschen neu synthetisierte Wirkstoffe.

Über Jahrtausende war die Medizin – abgesehen von den psychosomatisch effektiven magischen Praktiken – eine reine Erfahrungs- und Traditionswissenschaft: Einzig aufgrund von Beobachtungen stellten die Heilkundigen eine Verbindung zwischen der Einnahme eines pflanzlichen Mittels und seiner heilsamen Wirkung her. Man kann sich leicht ausmalen, daß mit der Entdeckung einer neuen Arzneipflanze oftmals schmerzhafte, gefährliche und zuweilen tödliche Fehlversuche einhergingen. Unser pharmakologisches Wissen beruht großenteils auf unzähligen dramatischen Experimenten dieser Art. Noch heute hindert uns die – bei allem Bemühen – beschränkte Kenntnis der Physiologie, aus solchen Ergebnissen den vollen Nutzen zu ziehen.

Erst im 19. Jahrhundert, als man begriff, daß die Wirkung einer Pflanze auf einer identifizierbaren chemischen Substanz beruht, mußte das überkommene magische Wissenschaftsverständnis der modernen Chemie weichen. Zum Beispiel kannten zwar schon im Altertum die Ägypter und die Chinesen die schmerzlindernde Wirkung des aus dem Schlafmohn gewonnenen Opiums; das aktive Molekül, das Morphin, wurde jedoch erst 1805 isoliert und identifiziert. Noch ein Jahrhundert später wurde seine chemische Struktur aufgeklärt, und selbst danach dauerte es noch 50 Jahre bis zur erfolgreichen Synthese im Labor.

Nach diesem exemplarischen Fall könnte es scheinen, als wäre heute ein Weg vom Wahrnehmen eines Effekts bis zur Synthese eines Wirkstoffs abgesteckt: eine klare Handlungsanweisung, der man nur systematisch folgen müßte, um neue Präparate für alle möglichen Leiden zu gewinnen. Dem ist jedoch keineswegs so. Nahezu alle wirklich wichtigen Entdeckungen beruhen auf eher zufälligen Beobachtungen. Zudem kommt es vor, daß eine – von Natur aus unreine – Zubereitung wirksamer ist als der reine, künstlich synthetisierte Wirkstoff; nicht selten ist Unvollkommenheit also nützlich.

Ein Beispiel sind die Medikamente gegen die Malaria. Diese auch Sumpf- oder Wechselfieber genannte Krankheit wird von Stechmücken der Gattung Anopheles übertragen und durch einen im Blut lebenden einzelligen Parasiten der Gattung Plasmodium verursacht. Die infizierten Menschen erleiden Fieberanfälle, die im Mittelalter nach der Häufigkeit ihrer Wiederkehr Viertagefieber (Malaria quartana) oder Dreitagefieber (Malaria tertiana) genannt wurden; der Abstand zwischen den Anfällen entspricht dem Entwicklungszyklus des Parasiten.

Schon den Inkas war die heilsame Wirkung der gemahlenen und getrockneten Chinarinde bekannt (der Name für die Rinde des tropischen Baumes Cinchona officinalis ist ein Pleonasmus; er leitet sich von dem altperuanischen Wort kina für Rinde ab): Wie man heute weiß, werden die Parasiten in den roten Blutkörperchen durch ein Alkaloid an Wachstum und Vermehrung gehindert. Erst Wochen später, wenn Plasmodien aus anderen Körperzellen in das Blut gelangen, drohen erneut Fieberanfälle, die abermals mit den Wirkstoffen der Chinarinde bekämpft werden müssen.

Im 17. Jahrhundert brachten Jesuiten diese Arznei nach Europa. Im Jahre 1820 isolierten die französischen Apotheker Pierre-Joseph Pelletier (1788 bis 1842) und Joseph-Bienaimé Caventou (1795 bis 1877) erstmals den wesentlichen Wirkstoff, das Chinin, und entwickelten ein Verfahren zur Herstellung von Chininsulfat. Zur Vorbeugung gegen Versorgungsengpässe – während des Zweiten Weltkrieges drohten die Japaner mit der Blockade des Seeweges zwischen Java, einem Hauptanbaugebiet von Cinchona-Bäumen, und der westlichen Welt – begann man in den USA mit der aufwendigen Synthetisierung der komplexen Alkaloide und verwandter Verbindungen, von denen man sich die völlige Vernichtung der Plasmodien und damit die Heilung von Malaria versprach.

Die Pharma-Industrie produziert solche Derivate mit einem Reinheitsgrad von 99 Prozent. Weil die Synthese von Chinin selbst nicht wirtschaftlich war, wurde es bald fast völlig verdrängt. Zudem ergingen Vorschriften, die den Vertrieb weniger reiner natürlicher Extrakte verboten. Zum Besten des Patienten? Nicht unbedingt.

Den Regeln der Evolution folgend, vermehrten sich diejenigen Parasiten am besten, die eine schützende Mutation durchgemacht hatten: Es entwickelten sich Stämme, die gegen die synthetischen Wirkstoffe – insbesondere gegen das anfangs vielgelobte Chloroquin – resistent sind: sie blieben aber empfindlich gegen Chinin. In vielen Regionen der Welt mußte man wieder auf das Naturprodukt als Mittel der Wahl zurückgreifen. Als optimale Therapie gilt mittlerweile das Verabfolgen von Kombinationspräparaten. Unter anderem stellt man also hochgereinigtes Chinin her und vermischt es dann mit anderen hochreinen Substanzen.

Unter Umständen muß man also die mühsam eliminierte Unreinheit des Pflanzenprodukts in gewissem Grade wiederherstellen: Um die Wirkung des Chinins zu verstärken, das seiner Nebenwirkungen wegen nicht beliebig hoch dosiert werden darf, vermengt man es mitunter mit seinem rechtsdrehenden Stereoisomer, dem Chinidin, das ebenfalls aus der Rinde von Cinchona-Arten gewonnen wird.

Krankheitskeime oder auch Tumorzellen, die der Attacke mit nur einem Medikament widerstehen, werden kaum gleichzeitig eine Abwehr gegen ein anderes entwickeln. Entsprechend findet das Prinzip, an mehreren Fronten zugleich anzugreifen, in der Medizin viele weitere Anwendungen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1994, Seite 99
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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