Zeitgeschichte I: Heisenberg, Bohr und die Atombombe
Einen Aufenthalt im besetzten Kopenhagen im September 1941 nutzte der Physiker und Leiter des deutschen Kernenergieprojekts Werner Heisenberg zu einem Gespräch mit seinem dänischen Kollegen und früheren Mentor Niels Bohr. Zwei Jahre später, nach seiner Flucht in die USA, skizzierte Bohr im Los-Alamos-Nationallaboratorium, was er für Heisenbergs Entwurf einer Kernwaffe hielt.
Als Niels Bohr am 29. September 1943 erfuhr, daß die Kopenhagener Gestapo ihn verhaften wolle, mußte er innerhalb weniger Stunden aus Dänemark fliehen. Noch am Abend desselben Tages schlichen er, seine Frau und einige andere in tiefer Dunkelheit zu einem Strand bei Carlsberg. Mit einem Boot setzten sie unbemerkt über den Sund nach Schweden über. Von Stockholm aus ließen britische Diplomaten Bohr – im Bombenschacht eines Kurierflugzeugs versteckt – am 6. Oktober nach Schottland bringen.
Noch am gleichen Tage flog er nach London weiter und traf dort abends Sir John Anderson, einen physikalischen Chemiker, der im Kabinett Winston Churchills für das gerade begonnene britische Atombombenprojekt verantwortlich war. Anderson informierte den Dänen, einen der führenden Atomphysiker dieses Jahrhunderts, über das amerikanisch-britische Forschungs- und Entwicklungsprogramm. Nach Aussagen von Bohrs Sohn Aage, der eine Woche nach seinem Vater in England eintraf und während des Krieges als dessen Assistent arbeitete, war Bohr zutiefst überrascht, wenn nicht sogar schockiert, wie weit dieses Projekt bereits fortgeschritten war.
Wahrscheinlich gab es zwei Gründe für seine Bestürzung: die Erkenntnis einer eigenen Fehleinschätzung und womöglich die Bestärkung des Verdachts, das nationalsozialistische Deutsche Reich bereite gleichfalls solch ein Massenvernichtungssystem vor. In den dreißiger Jahren, als die Grundzüge der Kernphysik erarbeitet wurden, hatte Bohr verschiedentlich geäußert, er halte jede praktische Anwendung der Kernenergie für völlig ausgeschlossen. Diese Ansicht verstärkte sich 1939, als er ein wichtiges Detail über die Uranspaltung herausfand.
Wenige Monate zuvor, im Dezember 1938, hatten der Chemiker Otto Hahn und sein Assistent Fritz Straßmann in Berlin entdeckt, daß Uran sich spalten läßt, wenn man es mit Neutronen beschießt. (Während die beiden Experimentatoren die Elementumwandlung beobachteten, erkannten Hahns frühere Mitarbeiterin Lise Meitner, eine österreichische Physikerin, die wegen der Judenverfolgung nach Dänemark und dann weiter nach Schweden emigriert war, und ihr Neffe Otto Frisch, daß die Urankerne sich in den Versuchen tatsächlich geteilt haben mußten; sie prägten für diesen Vorgang den Begriff Fission oder Spaltung.) In den Experimenten hatten Hahn und Straßmann Natururan verwendet, das zu gut 99 Prozent aus Uran-238 besteht und zu 0,7 Prozent aus Uran-235, das drei Neutronen weniger aufweist.
Chemisch sind diese beiden Isotope nicht zu unterscheiden. Bohr erkannte aber nun, daß nur das leichtere Uran-235 aufgrund seiner besonderen Nukleonenstruktur gespalten worden sein konnte. Er folgerte daraus, daß die Herstellung von Atombomben praktisch unmöglich sei, weil dazu die Trennung dieser Isotope erforderlich wäre – ein aus damaliger Sicht utopisches Unterfangen. Im Dezember 1939 sagte er in einem Vortrag: "Mit den heutigen technischen Hilfsmitteln ist es gleichwohl unmöglich, das seltene Uranisotop im Reinzustand in hinreichend großer Menge herzustellen, damit die Kettenreaktion stattfinden kann." Es ist deshalb verständlich, daß Bohr schockiert war, als er vier Jahre später erfahren mußte, daß die Alliierten genau dies zu tun beabsichtigten.
Heisenbergs Besuch
Der zweite Grund dafür, daß Bohr durch diese Information alarmiert war, kann auf ein denkwürdiges Treffen mit Werner Heisenberg im Spätsommer 1941 zurückgeführt werden. Damals hatte die deutsche Wehrmacht Dänemark bereits länger als ein Jahr besetzt. In Kopenhagen, Bohrs Wirkungsstätte, war das Deutsche Wissenschaftliche Institut eingerichtet worden, das der Kulturpropaganda diente; dazu gehörte auch die Organisation von wissenschaftlichen Veranstaltungen. Heisenberg fuhr im September 1941 gemeinsam mit anderen deutschen Forschern anläßlich einer astronomischen Tagung dorthin. Er kannte Bohr bereits seit 1922 und hatte lange Zeit in dessen Institut verbracht, wo Bohr nicht nur als väterlicher Freund, sondern gleichsam auch als Keimzelle für die Entwicklung der Quantentheorie wirkte. Nun aber, mitten im Krieg, kehrte Heisenberg als Repräsentant einer verachteten Besatzungsmacht zurück – wobei er verlauten ließ, wie sich etliche Gesprächspartner erinnern, Deutschland werde sicherlich siegen.
Er blieb eine Woche in Kopenhagen und hielt sich mehrfach in Bohrs Institut auf. Bei einem dieser Besuche führten er und Bohr ein privates Gespräch, bei dem es offensichtlich zu Mißverständnissen kam. Weil Bohr ein schlechter Zuhörer war, könnten die beiden durchaus aneinander vorbeigeredet haben; keiner von beiden scheint sich Notizen gemacht zu haben, so daß niemand genau weiß, was sie wirklich besprachen.
Jedenfalls war Bohr nach dieser Unterhaltung fest davon überzeugt, daß Heisenberg an Kernwaffen arbeitete. Wie Aage Bohr sich später erinnerte, "kam Heisenberg auf die Frage nach den militärischen Anwendungsmöglichkeiten der Atomenergie zu sprechen. Mein Vater war sehr zurückhaltend und zeigte sich skeptisch wegen der großen technischen Schwierigkeiten, die gemeistert werden müßten, doch hatte er den Eindruck, Heisenberg sei der Ansicht, die neuen Möglichkeiten könnten den Ausgang des Krieges entscheidend beeinflussen, falls er sich länger hinziehen sollte".
In London, zwei Jahre später, erfuhr Bohr erstmals von dem Kernwaffenprogramm der Alliierten. Was, so fragte er sich, hatten die Deutschen in dieser Zeit getan? Er mußte Schlimmes befürchten.
Es wäre interessant, genau zu wissen, was mit den "neuen Möglichkeiten" gemeint war; aber wir können es nur vermuten. Als Heisenberg Bohr aufsuchte, hatten Physiker auf beiden Seiten der Front bereits erkannt, daß es außer der Kettenreaktion in Uran noch eine andere Möglichkeit für Kernwaffen gab – den Einsatz jenes künstlichen Elements, das man später Plutonium nannte. Es ist etwas schwerer als Uran und hat andere chemische Eigenschaften, aber wegen seines Kernaufbaus ist es mindestens ebenso leicht spaltbar. Im Unterschied zu Uran kommt Plutonium jedoch nicht in der Natur vor, sondern muß in einem Kernreaktor durch Beschuß der Uranbrennstäbe mit Neutronen hergestellt werden. Mit chemischen Methoden läßt es sich anschließend aus den Brennelementen heraustrennen.
Mit dieser Erkenntnis wurde jeder Kernreaktor gewissermaßen zum Bestandteil einer nuklearen Waffe. Zweifellos war dies Heisenberg zum Zeitpunkt seines Kopenhagen-Aufenthalts bewußt, hatte er doch in Vorträgen, deren Manuskripte erhalten sind, hochrangige Vertreter der deutschen Führung darüber informiert.
War es das, was er Bohr andeutungsweise mitzuteilen suchte – und wenn ja, warum? Die Erinnerungen beider Männer an das Gespräch wichen freilich so stark voneinander ab, daß wir dies vermutlich nie mit Gewißheit werden beantworten können.
Zu diesem Rätsel gesellt sich ein weiteres. Es gibt nämlich Hinweise darauf, daß Heisenberg bei seinem Besuch Bohr eine Skizze überreichte. Ob er sie erst während des Treffens anfertigte oder mitbrachte, ist ungewiß. Berücksichtigt man die Art, wie theoretische Physiker zu kommunizieren pflegen, so könnte ich mir gut vorstellen, daß er seine Ideen im Verlauf einer Diskussion an Ort und Stelle zu Papier brachte.
Wie dem auch sei, diese Skizze oder eine Kopie davon gelangte im Dezember 1943 in das Nationallaboratorium Los Alamos (Neu-Mexiko), wo Wissenschaftler am Manhattan-Projekt – dem amerikanischen Programm zum Bau von Atombomben – arbeiteten. Dort sorgte sie für erhebliches Aufsehen, denn sie schien direkte Informationen über die deutschen Pläne zur Entwicklung von Kernwaffen zu enthalten. Bevor ich nun beschreibe, wie die Skizze nach Los Alamos gelangte, möchte ich erläutern, wie ich von ihr erfuhr.
Die mysteriöse Skizze
Ab November 1977 führte ich im Verlauf von zwei Jahren mehrere Interviews mit dem Physiker Hans Bethe. Aus diesen auf Tonband aufgezeichneten Gesprächen, die der Chronologie von Bethes Leben folgten, entstanden ein dreiteiliges Porträt in der Zeitschrift "New Yorker" und anschließend eine Biographie in Buchform. Bethe, der 1906 in Straßburg geboren wurde, emigrierte 1935 aus Deutschland in die Vereinigten Staaten und arbeitet seitdem an der Cornell-Universität in Ithaca (US-Bundesstaat New York). Im Jahre 1941 wurde er Staatsbürger der USA.
Zu diesem Zeitpunkt, so erinnerte er sich, "suchte ich verzweifelt nach Möglichkeiten, etwas zu unternehmen – nach irgendeinem Weg, um mich an den Kriegsanstrengungen zu beteiligen". (Am 11. Dezember 1941 erklärten die Achsenmächte Deutschland und Italien den Vereinigten Staaten formell den Krieg, welche bis dahin die alliierten Streitkräfte schon materiell unterstützt hatten; der Krieg im Pazifik war mit der Bombardierung der amerikanischen Flotte in Pearl Harbor auf der Hawaii-Insel Oahu durch die japanische Luftwaffe am 7. Dezember 1941 ausgebrochen.) Weil Bethe aber wie Bohr die zum Bau einer Kernspaltungswaffe erforderliche Trennung der Uran-Isotope für nicht realisierbar hielt, lehnte er es zunächst ab, sich dem Manhattan-Projekt anzuschließen, und beteiligte sich statt dessen an der Entwicklung des Radars am Massachussetts Institute of Technology in Cambridge (Massachusetts).
Im Sommer 1942 stellte J. Robert Oppenheimer an der Universität von Kalifornien in Berkeley eine kleine Gruppe von Theoretikern zusammen, um die Bauweise einer Atombombe zu klären. Weil Bethe zu dieser Zeit als einer der führenden theoretischen Kernphysiker galt, bat er auch ihn um seine Mitarbeit.
Auf seiner Zugreise nach Kalifornien fuhr Bethe über Chicago, um seinen Kollegen und Freund Edward Teller abzuholen. Die Besichtigung des Kernreaktors, den der aus Italien emigrierte Physiker Enrico Fermi dort aufbaute und mit dem Plutonium erzeugt werden sollte, überzeugte Bethe davon, wie er später sagte, "daß das Bombenprojekt real war und daß es wahrscheinlich funktionieren würde". Er verbrachte diesen Sommer damit, an der Theorie einer Kernspaltungswaffe zu arbeiten, und ging im April 1943 nach Los Alamos, das gerade als Labor eingerichtet worden war. Er wurde schließlich Leiter der dortigen theoretischen Abteilung.
Nun zu der Skizze. Am 29. November 1943 verließen Bohr und sein Sohn Aage mit der "Aquitania" Glasgow und kamen am 6. Dezember in New York an. Beiden wurden Sicherheitsleute als Leibwächter zugeteilt; Bohr erhielt den Decknamen Nicholas Baker, und aus Aage wurde James Baker. Am 28. Dezember, nachdem er in Washington mit vielen Regierungsvertretern – darunter auch mit General Leslie R. Groves, dem verantwortlichen militärischen Leiter des Manhattan-Projekts – gesprochen hatte, brach Niels Bohr nach Los Alamos auf. Vermutlich direkt nach seiner Ankunft traf er dort am letzten Tag des Jahres 1943 mit Oppenheimer, Bethe und einigen anderen Physikern zusammen. Bohrs wichtigstes Anliegen war dabei, den Anwesenden mitzuteilen, was er über die deutschen Anstrengungen zum Bau einer Atombombe wußte – insbesondere, was er von Heisenberg erfahren hatte.
Während eines meiner Interviews mit Bethe schilderte dieser das Treffen – wenn auch nicht in allen Einzelheiten – und erzählte mir von der Zeichnung (ich habe seine Äußerungen auf Band): "Heisenberg gab Bohr eine Skizze. Diese reichte Bohr später in Los Alamos an uns weiter. Es war ganz ersichtlich die Zeichnung eines Reaktors. Aber als wir sie sahen, folgerten wir, daß diese Deutschen völlig verrückt waren – wollten die denn einen Reaktor auf London hinunterwerfen?" Erst nach dem Kriege erfuhren die Wissenschaftler aus Los Alamos, daß die Deutschen sehr wohl – zumindest im Prinzip – gewußt hatten, wofür sich ein Kernreaktor eignet: für die Erzeugung von Plutonium. Bohr war jedoch ernstlich besorgt, man könnte diesen Reaktor tatsächlich als eine Art Waffe einsetzen.
Meines Wissens hatte bis zum Erscheinen meiner Darstellung dieses Sachverhalts im "New Yorker" niemand etwas über eine solche Skizze geschrieben. In der Folge wurde mein Artikel über Bethe mehrmals als Quelle für dieses merkwürdige Detail des vieldiskutierten Bohr-Heisenberg-Gesprächs angegeben. Ich fand mich damit sozusagen als Fußnote zu einer Fußnote der Geschichte wieder.
Meine Autorität wurde jedoch Anfang 1994 bei einem meiner regelmäßigen Aufenthalte an der Rockefeller-Universität in New York erschüttert, wo ich als außerordentlicher Professor tätig bin. Abraham Pais, ein emeritierter Professor der Physik dieser Hochschule, der Biographien über Albert Einstein und Bohr geschrieben hat, rief mich in sein Büro. Ich kannte Pais seit 40 Jahren, hatte ihn aber eine Weile nicht gesehen. Dieser Besuch bot ihm erstmals Gelegenheit, mit mir über einen Anruf einige Monate zuvor zu sprechen.
Damals hatte sich Thomas Powers, der Autor des Buches "Heisenbergs Krieg", bei ihm gemeldet. Powers hatte durch mein Buch über Bethe von der Zeichnung erfahren. Er war verwundert darüber, daß Heisenberg mitten im Krieg eine Skizze eines streng geheimen Militärprojekts der Deutschen an Bohr ausgehändigt haben sollte. Weil eine solche Handlungsweise für Heisenberg – wenn er es denn wirklich getan haben sollte – äußerst ungewöhnlich gewesen wäre, wollte Powers dies überprüfen. Deshalb nahm er mit Aage Bohr in Kopenhagen Kontakt auf (dessen Vater war 1962 gestorben). Mit einem Brief vom 16. November 1989 antwortete Aage Bohr: "Heisenberg hat während seines Besuches 1941 sicherlich keinen Reaktor skizziert. Der Betrieb eines Reaktors wurde überhaupt nicht angesprochen."
Verblüfft wandte Powers sich an Bethe, der ihm gegenüber genau das wiederholte, was er mir zehn Jahre zuvor erzählt hatte. In dieser verzwickten Lage telephonierte Powers mit Pais, und nun fragte dieser mich. Aber Pais hatte bereits eigene Nachforschungen angestellt. Er hatte mit Aage Bohr gesprochen, der noch einmal darauf bestand, daß es niemals eine solche Skizze gegeben habe. Pais hatte zudem in den Archiven in Kopenhagen nachgeforscht, in denen alle Privatpapiere und Unterlagen Bohrs aufbewahrt werden. Nirgends, so erklärte er mir, fand er diese Skizze erwähnt.
Nun war ich verblüfft – es ist eine Sache, eine Fußnote zu einer Fußnote der Geschichte zu sein, aber eine gänzlich andere, als Fußnote zu einer Fußnote falscher Geschichtsschreibung dazustehen.
Ich versprach Pais, dieser Angelegenheit selbst nachzugehen, obwohl ich offen gestanden in diesem Moment nicht die geringste Idee hatte, wie dies zu bewerkstelligen sei. Ein erneutes Gespräch mit Bethe würde mich offensichtlich nicht weiter bringen. Eine noch klarere Auskunft als die, die er mir und Powers gegeben hatte, war nicht vorstellbar. Ich mußte Zeugen finden, die unabhängig von Bethe und Aage Bohr waren. So viel war klar. Aber wen? Oppenheimer, Niels Bohr, Groves – sie alle lebten nicht mehr. Wer sonst konnte diese Skizze gesehen haben?
Die Nachforschungen
Meine Informationen waren damals dürftiger als das, was ich hier bereits beschrieben habe. Alles, was Bethe mir erzählt hatte, war, daß Bohr in Los Alamos eine Skizze "weiterreichte". Er hatte keine näheren Einzelheiten des Treffens am 31. Dezember 1943 geschildert, so daß ich nicht wußte, wer noch anwesend gewesen war. Nicht einmal das genaue Datum war mir bekannt. Dies alles erfuhr ich erst anschließend. Aber ich kannte Physiker, die zur damaligen Zeit in Los Alamos waren und vielleicht die Zeichnung gesehen oder von ihr gehört haben könnten. Zwei kamen mir in den Sinn: Victor Weisskopf, ein alter Freund, der eng mit Oppenheimer bekannt war, sowie Rudolf Peierls.
Peierls und Otto Frisch hatten im März 1940 in England erstmals die zur Zündung einer Atombombe erforderliche Menge an Uran-235 – zumindest im Prinzip – richtig berechnet. (Der Umstand, daß der Wert dieser kritischen Masse wenige Kilogramm und nicht mehrere Tonnen beträgt, trieb das Bombenprogramm der Alliierten erheblich voran.) Peierls war gemeinsam mit Frisch ab Anfang 1944 in Los Alamos. Ich kenne Peierls ebenfalls seit vielen Jahren und habe oft mit ihm über die Geschichte der Kernwaffen gesprochen. Folglich schrieb ich Anfang Februar 1994 außer Weisskopf auch ihm. Kurz darauf erhielt ich von beiden Antwort.
Peierls erklärte, er habe die "berühmte Skizze" nie gesehen, könne sich aber nicht denken, daß Bethe oder Aage Bohr bewußt gelogen hätten. Er mutmaßte, Niels Bohr könne seiner Familie das Wissen über das brisante Dokument vorenthalten haben, oder Heisenberg habe die Skizze Bohr vielleicht nur gezeigt, der sie dann möglicherweise nachzeichnete. Er schlug mir vor, Bethe wegen dieser Möglichkeit erneut anzusprechen. Weisskopf machte in seinem Schreiben ebenfalls den Vorschlag, noch einmal Kontakt mit Bethe aufzunehmen, weil auch er diese Zeichnung nie gesehen oder von ihr gehört habe.
Keiner der beiden Briefe entsprach dem, was ich als Antwort erhofft hatte. Zweifellos mußte ich Bethe schreiben, was ich erfahren hatte, und abwarten, ob er zur weiteren Klärung beitragen konnte. Doch dann fiel mir ein, daß ich Robert Serber anrufen könnte, einen alten Freund, der emeritierter Professor der Columbia-Universität in New York ist. Nachdem er 1934 an der Universität von Wisconsin in Madison promoviert hatte, gewann er eines von fünf Stipendien des Nationalen Forschungsrates in Physik und entschied sich, in Berkeley mit Oppenheimer zusammenzuarbeiten. In den nächsten Jahren wurde er ein enger Vertrauter von ihm.
Nach einem Aufenthalt an der Universität von Illinois von 1938 bis 1942 kehrte Serber nach Berkeley zurück, um mit Oppenheimer an der Atombombe zu arbeiten. Er war dort, als im Sommer 1942 Bethe und Teller eintrafen. Im März 1943 war er mit der ersten Gruppe Wissenschaftler nach Los Alamos umgezogen. Zu seinen ersten Aufgaben gehörte es, den neu eintreffenden Wissenschaftlern eine Reihe einführender Vorlesungen über die Physik der Bombe zu geben. Mitschriften dieser Vorträge – als "The Los Alamos Primer" bekannt – wurden 1965 von der Geheimhaltung freigegeben und 1992 erstmals als Gesamtwerk veröffentlicht. Wenn jemand etwas von der Skizze wußte, so würde es Serber sein, denn er hatte in jener Zeit dauernd Kontakt zu Oppenheimer.
Als ich Serber anrief, merkte ich sofort, daß ich den Richtigen gefunden hatte. Er erinnerte sich nicht nur lebhaft an die Skizze, sondern auch an die genauen Umstände, unter denen er sie gesehen hatte. Am 31. Dezember 1943 wurde er in Oppenheimers Büro gerufen, in dem bereits eine Besprechung begonnen hatte. Oppenheimer zeigte ihm ohne weitere Erklärung eine Zeichnung und bat ihn, sie zu interpretieren. Oppenheimer liebte solche intellektuellen Spiele. Serber sagte nach kurzem Betrachten, es sei eindeutig die Zeichnung eines Reaktors. Oppenheimer entgegnete, es handele sich in der Tat um eine Darstellung von Heisenbergs Reaktor, die der versammelten Gruppe von Bohr überreicht worden sei. Bohr, der – wie sich Serber erinnerte – direkt neben Oppenheimer stand, widersprach nicht.
Serber erzählte mir weiter, er habe schriftliche Unterlagen über dieses Treffen. Wenige Tage später erhielt ich Kopien von zwei Dokumenten: einen Brief, den Oppenheimer gleich nach dem Treffen am 1. Januar 1944 an General Groves geschrieben hatte, und ein zweiseitiges Memorandum, das Bethe und Teller über die Explosivfähigkeit des Reaktors verfaßt hatten.
Wenngleich diese Dokumente sehr vielsagend waren, ließ sich mit ihnen das Problem – so hatte es beim ersten Lesen den Anschein – doch noch nicht lösen. Das Bethe-Teller-Memorandum enthielt einige entscheidende Hinweise, auf die ich jedoch erst später zurückkommen werde. Oppenheimers Brief erwähnte weder die Skizze noch Heisenberg oder überhaupt die Deutschen. Aber der letzte Satz ließ eindeutig den Schluß zu, daß Bohr in Washington mit Groves über diese Fragen gesprochen hatte. Vielleicht konnten Papiere in dessen Privatarchiv Aufschluß geben.
In der Zwischenzeit hatte ich endlich auch wieder an Bethe geschrieben. Seine Antwort, die mich am 2. März letzten Jahres erreichte, beginnt mit: "Ich bin mir ganz sicher, daß es dort eine Skizze gab. Niels Bohr legte sie uns vor, und sowohl Teller als auch ich sagten sofort: 'Dies ist die Zeichnung eines Reaktors, nicht einer Bombe.' ... Ob die Skizze tatsächlich von Heisenberg war oder ob sie von Bohr nach der Erinnerung angefertigt wurde, kann ich nicht sagen. Aber das Treffen am 31. Dezember 1943 war ausdrücklich einberufen worden, um uns zu zeigen, was Niels Bohr über die Vorstellung der Deutschen von einer Bombe wußte."
Bethe bot eine mögliche Erklärung der scheinbaren Widersprüche an: "Heisenberg dachte wohl, der wichtigste Schritt zur Bombe sei es, einen Reaktor zu haben und Plutonium herzustellen. Ein Reaktor konnte zudem zur Energieerzeugung eingesetzt werden. Niels Bohr hat die ganze Sache überhaupt nicht verstanden. Heisenberg wollte Bohr wahrscheinlich zeigen, daß die Deutschen keine Bombe, sondern lediglich einen Reaktor aufbauten. Bohr verstand ihn völlig falsch, und erst am 31. Dezember 1943 wurde ihm schließlich erklärt, daß dies keine Bombe war. Diese Skizze machte einen großen Eindruck auf mich. Ich bin überrascht, daß Viki [Weisskopf] und Aage sie vergessen haben. Was sagt Serber?"
Nun, dessen Informationen konnte ich Bethe jetzt mitteilen. Teller bat ich ebenfalls schriftlich um seine Erinnerungen an das Treffen, obwohl ich mir nicht sicher war, ob ich je eine Antwort erhalten würde – und tatsächlich bekam ich keine. Aber ich hatte zusätzlich noch einmal an Weisskopf geschrieben und ihm Kopien der von Serber erhaltenen Memoranden geschickt. Am 23. Februar 1994 erhielt ich einen der wie immer sehr freundlichen Briefe von Weisskopf, in dem er bestätigte, die Zeichnung tatsächlich gesehen, dies aber später vergessen zu haben.
Nun hatte ich wohl genügend Material, das ich Pais vorlegen konnte. Ich spielte ihm das Band mit dem Bethe-Interview vor und gab ihm Kopien aller Dokumente. Er war im Begriff, nach Kopenhagen zurückzufahren, wo er etwa die Hälfte des Jahres mit seiner Frau – einer Dänin – verbringt. Er sagte mir zu, bei passender Gelegenheit mit Aage Bohr zu sprechen. Dies war Ende Juni 1994. Bereits am 30. des Monats sandte er mir Neuigkeiten. Pais und Aage Bohr hatten sich getroffen, den Inhalt der Briefe diskutiert und die Bänder abgehört. Aber noch immer war sich Aage Bohr sicher, daß Heisenberg seinem Vater niemals eine derartige Skizze gegeben hätte.
So schrieb ich direkt an Aage Bohr. Im Februar 1995 antwortete mir sein Assistent, Finn Aaserud: "Aage Bohr bleibt dabei, es sei völlig unmöglich, daß Bohr eine Zeichnung von dem Treffen 1941 mit Heisenberg mit in die USA brachte, und auch, daß die Diskussion in Los Alamos, auf die Sie sich beziehen, irgend etwas mit dem Zusammentreffen von 1941 zu tun hatte."
Der Indizienbeweis
Was soll man davon halten? Ich habe mir diese Frage viele Male gestellt, seit ich im Juni 1994 den Brief von Pais erhielt. Ich war ratlos – bis vor kurzem, als ich nochmals das Memorandum las, das Bethe und Teller für Oppenheimer und Bohr sowie letztlich auch für General Groves vorbereitet hatten. Plötzlich erkannte ich, daß im ersten Satz des zweiten Absatzes dieses Berichts gleichsam Heisenbergs Handschrift zu erkennen ist. Er lautet: "Der vorgeschlagene Meiler besteht aus in Schwerwasser eingetauchten dünnen Uranplatten." Bethe und Teller befaßten sich also nicht mit irgendeinem alten Entwurf für einen Reaktor (oder Meiler, wie man damals sagte), sondern mit einem ganz speziellen, den Bohr ihnen beschrieben hatte. Diese Anordnung entspricht tatsächlich dem erfolglosen Reaktorkonzept, das Heisenberg Ende 1939 und Anfang 1940 ersonnen und fast bis zum Ende des Krieges weiterverfolgt hatte!
Es ist nahezu undenkbar, daß Bohr in den wenigen Wochen zwischen seinem Aufenthalt in London, wo er von dem Projekt der Alliierten erfahren hatte, und seiner Ankunft in Los Alamos einen eigenen Entwurf erstellt haben sollte, der dieselben Mängel wie der Heisenbergsche aufwies. Er mußte diese Idee von Heisenberg haben, entweder in Worten oder in Form einer Zeichnung. Woher sonst hätte sie stammen können?
Lassen Sie mich meine Schlußfolgerung erklären. Jeder Reaktor braucht Brennelemente – das Uran – und einen geeigneten Moderator, also ein Material, das die Geschwindigkeit, mit der die Neutronen auf den Brennstoff treffen, reduzieren kann. Thermische Neutronen, die sich etwa mit der für ein solches Medium typischen Schallgeschwindigkeit bewegen, vermögen Urankerne weit effektiver zu spalten als die schnellen Neutronen, die bei der Spaltung selbst entstehen. Deshalb werden in einem Reaktor die Brennelemente in den Moderator eingebettet. Aber das Moderatormaterial muß sehr sorgfältig ausgewählt werden, ebenso wie die Anordnung der Brennelemente darin. Letzteres erfordert außer wissenschaftlichem Können auch viel Gespür.
Das Problem liegt darin, daß das Uran selbst Neutronen zu absorbieren vermag, ohne daß sie eine Spaltung auslösten. Diese Absorption wird um so stärker, je mehr die Neutronen abgebremst werden. Wenn die Geometrie der Brennelemente nicht gut durchdacht ist, absorbiert das Uran so viele Neutronen, daß es nie zu einer selbsterhaltenden Kettenreaktion kommen kann. Der effizienteste Aufbau besteht aus einzelnen Uranklötzen, die gitterartig in den Moderator eingebettet sind. Es verlangt einiges an Feingefühl herauszufinden, wie groß diese Klötze sein sollten und wie sie angeordnet werden müssen. Eine schichtweise Konfiguration ist dabei die schlechteste aller Möglichkeiten.
Erinnern wir uns, was Bethe und Teller schrieben: "Der vorgeschlagene Meiler besteht aus ... dünnen Uranplatten." Heisenberg wählte gerade diesen schichtförmigen Aufbau, weil er mathematisch einfacher zu beschreiben war.
Es bleibt noch die Frage des Moderators. Bethe und Teller behaupteten, die Platten müßten "in Schwerwasser eingetaucht" werden. Auch diese Besonderheit geht offensichtlich auf Heisenberg zurück. Als Moderator eignen sich die leichtesten Elemente am besten, weil ein Neutron bei der Kollision mit einem Atomkern vergleichbarer Masse am meisten Energie verliert; beim Zusammenstoß mit einem schwereren prallt es ab und wechselt die Richtung, verändert aber nicht seine Geschwindigkeit.
Wenn Masse das einzige Kriterium wäre, müßte Wasserstoff der ideale Moderator sein, denn sein Kern besteht aus einem einzigen Proton, dessen Masse praktisch der des Neutrons entspricht. Weil normaler Wasserstoff aber Neutronen absorbiert, scheidet er als Moderator aus. Hingegen absorbiert schwerer Wasserstoff (Deuterium), dessen Kern zusätzlich ein Neutron enthält, die auftreffenden Neutronen nicht. Schwerer Wasserstoff kommt in der Natur als Schwerwasser vor, das jedoch nur mit einem Anteil von 1:5000 im Meerwasser enthalten ist. Man muß es folglich von normalem Wasser trennen, um es als Moderator einsetzen zu können – ein teurer und schwieriger Prozeß.
Andererseits eignet sich auch Kohlenstoff als Moderator; er ist zwar nicht so effizient, dafür aber leicht erhältlich und preiswert. Schwerwasser und Kohlenstoff schienen Heisenberg Ende 1940 die einzig brauchbaren Moderatoren zu sein. Doch im Januar 1941 begann Walther Bothe, einer der führenden experimentellen Kernphysiker, die noch in Deutschland geblieben waren, an der Universität Heidelberg Graphit näher zu untersuchen. Seine Experimente schienen zu belegen, daß diese Modifikation des Kohlenstoffs die Neutronen zu stark absorbiere, als daß sie als effizienter Moderator dienen könnte. Bothe erkannte jedoch nicht, daß Graphit, sofern er nicht weit über industrielle Anforderungen hinaus gereinigt wird, Spuren von Bor enthält. Dieses Element saugt Neutronen sozusagen auf wie ein Schwamm: Bereits ein Teil Bor unter 500000 Teilen Graphit kann dieses als Moderator unbrauchbar machen. Jedenfalls schlossen Heisenberg und andere deutsche Physiker aufgrund der Experimente Bothes, daß nur Schwerwasser tauglich sei.
Die Physiker in den USA führten selbstverständlich dieselben Berechnungen durch. Wie Heisenberg stellten sie fest, daß ein graphitmoderierter Meiler mehr Natururan benötigen würde als ein Schwerwasser-Reaktor. Zudem hatten Fermi und sein aus Ungarn stammender Kollege Leo Szilard ebenfalls die Neutronenabsorption von Kohlenstoff experimentell untersucht. Aber Szilard war geradezu fanatisch, was die Reinheit des Graphits betraf, und so wirkte ihr Material als weit besserer Moderator. Weil Kohlenstoff im Vergleich zu Schwerwasser so billig war, fiel ihre Wahl darauf.
Fermis Reaktor ging am 2. Dezember 1942 in einem als Labor zweckentfremdeten Squash-Court der Universität von Chicago in Betrieb. Die erste einigermaßen kontrollierte nukleare Kettenreaktion wurde mit einer gitterförmigen Anordnung von Uranklötzen zwischen Graphitziegeln erzielt.
In sämtlichen deutschen Versuchsreaktoren – von denen keiner jemals kritisch wurde – diente hingegen Schwerwasser als Moderator. Wie schrieben doch Bethe und Teller: "Der vorgeschlagene Meiler besteht aus in Schwerwasser eingetauchten dünnen Uranplatten." Es ist, als stünde "Made in Germany" über diesem Entwurf.
Setzt man all diese Puzzlestücke zu einem Gesamtbild zusammen, scheint Heisenberg offenbar versucht zu haben, Bohr seine Version eines Reaktors zu beschreiben. Ob er seinem dänischen Kollegen nun tatsächlich eine Skizze gegeben hat oder nicht – jedenfalls hat dieser sich ein Bild davon in seiner Erinnerung bewahrt. Bohr verstand allerdings zu jener Zeit nicht den Unterschied zwischen einem Reaktor und einer Bombe und nahm an, Heisenberg beschreibe einen nuklearen Sprengsatz.
Aage Bohr könnte deshalb durchaus recht haben mit seiner Aussage, es habe keine Diskussion über einen Reaktor gegeben – zumindest soweit dies seinen Vater betrifft. Vielleicht trifft auch seine Ansicht zu, daß Heisenberg Bohr niemals eine Zeichnung gegeben habe. Keine der Personen, mit denen ich sprach, konnte bestätigen, daß die Skizze tatsächlich von Heisenberg stammte – nur, daß es sich um eine Zeichnung von Heisenbergs Reaktor handelte.
Damit scheint das Rätsel gelöst. Aber das Geheimnis bleibt: Was war der Hauptgrund für Heisenbergs Besuch? Einige von denen, die Heisenberg kannten, meinen, er habe Bohr zeigen wollen, daß die Deutschen nur an einem zivilen Reaktorprojekt arbeiteten.
Man darf allerdings nicht vergessen, daß Heisenberg bei seinem Kopenhagen-Besuch eindeutig wußte, daß Kernreaktoren zur Herstellung von Plutonium genutzt werden können und daß dieses als Spaltstoff in einer Waffe dienen kann. Warum also besuchte er Bohr? Welche Botschaft wollte er ihm vermitteln? Wozu wollte er Bohr veranlassen oder wovon wollte er ihn abhalten? Was versuchte er zu erfahren? Das ist das wirkliche Geheimnis, das sich vielleicht niemals aufklären lassen wird.
Literaturhinweise
– Der Teil und das Ganze. Gespräche im Umkreis der Atomphysik. Von Werner Heisenberg. München 1969.
– Hans Bethe. Prophet of Energy. Von Jeremy Bernstein. Basic Books, 1980.
– Heisenbergs Krieg. Die Geheimgeschichte der deutschen Atombombe. Von Thomas Powers. Hoffmann und Campe, Hamburg 1993.
– Niels Bohr's Times – in Physics, Philosophy and Polity. Von Abraham Pais. Oxford University Press, 1991.
– The Los Alamos Primer. The First Lectures on How to Build an Atomic Bomb. Von Robert Serber. Herausgegeben von Richard Rhodes. University of California Press, 1992.
– Werner Heisenberg als Physiker und Philosoph. Von Bodo Geyer, Helge Herwig und Helmut Rechenberg, Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1993.
– Werner Heisenberg. Leben und Werk. Von David C. Cassidy. Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1995.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1995, Seite 32
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