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Hirntemperatur: Heißer Kopf

Die Temperatur unseres Gehirns schwankt im Tagesverlauf stark und steigt infolge bestimmter Aufgaben und Reize massiv an. Warum?
Ein heißluftballonförmiger Kopf hebt vom Körper ab, im schwebenden Korb sitzt ein Mensch und guckt durch ein Fernrohr.

Wer eine Ahnung davon bekommen möchte, wie warm es momentan unter seiner Schädeldecke sein mag, der sollte einmal auf die Internetseite von John O’Neill schauen. Der Wissenschaftler leitet eine Arbeitsgruppe am Labor für Molekularbiologie in Cambridge, die im Juni 2022 mit einer Studie in der Zeitschrift »Brain« eine Menge Aufsehen erregte. Sein Team hatte von 40 gesunden Erwachsenen je drei Hirnscans angefertigt, jeweils morgens, nachmittags und spätabends. Das Besondere an den Messungen war ein neues Verfahren, das die Temperatur des Gehirns auf ein gutes zehntel Grad genau bestimmt – auch in der Tiefe, ohne dass man dazu den Schädel öffnen muss.

Das Ergebnis lässt sich auf der Webseite in Form ­eines kurzen Videos bewundern. Es zeigt, wie sich das neuronale Gewebe im Lauf des Tages aufheizt, um dann abends und nachts wieder abzukühlen. Dieser Rhythmus findet sich in allen Teilen des Gehirns. Insgesamt ist unser Denkorgan erstaunlich warm – im Schnitt 38,5 Grad Celsius, wie die Forscherinnen und Forscher in ihrer Publikation schreiben.

Allerdings herrscht in verschiedenen Regionen ein ganz unterschiedliches Klima: Die Hirnrinde ist deutlich kälter als tiefer liegende Gebiete. Am höchsten ist die Temperatur im Thalamus. Dieses Areal im Zwischenhirn, das sich im Zentrum des Schädels etwa auf Höhe der Augenbrauen befindet, kann bei Frauen über 40 Grad erreichen.

An den Daten lassen sich noch weitere interessante Zusammenhänge ablesen. Etwa, dass das weibliche Gehirn in den Tagen nach dem Eisprung durchschnittlich 0,4 Grad wärmer ist als davor. Oder, dass insbesondere im Hirnkern die Temperatur mit steigendem Alter zunimmt. »Lange Zeit nahm man an, die Hirntemperatur des Menschen sei ziemlich konstant«, erklärt Nina Rzechorzek, die die Studie geleitet hat. »Dies beruhte weitgehend auf der Erkenntnis, dass Neurone sehr ­empfindlich auf Temperaturänderungen reagieren. Wie unsere Ergebnisse nahelegen, liegt ihre Komfortzone wahrscheinlich in einem wärmeren Bereich und ist breiter als bisher gedacht.«

Tatsächlich ist die Datenlage zur Temperatur des menschlichen Denkorgans relativ dünn. Das ist einer der Gründe, warum die Publikation in der Fachwelt auf große Resonanz stieß. Denn vertrauenswürdige Messmethoden, für die man nicht den Schädel öffnen muss, gibt es noch nicht allzu lange. Die von Rzechorzek und ihren Kollegen genutzte Magnetresonanzspektroskopie gilt hierbei als besonders zuverlässig. Sie ist jedoch aufwändig und teuer.

Aus der Tierwelt gibt es deutlich mehr Erkenntnisse. Ein Pionier auf dem Gebiet war Moritz Schiff. Der deutsche Physiologe wagte Ende der 1860er Jahre ein außergewöhnliches Experiment: Er betäubte einen Hund mit Äther, bohrte ihm zwei kleine Löcher in den Schädel und implantierte temperaturempfindliche Nadeln in dessen Nervengewebe. Einige Tage nach der Operation führte Schiff verschiedene Versuche durch. Er hielt dem Hund beispielsweise eine leere Papiertüte vor die Nase ...

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  • Quellen

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