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Hirschhausens Hirnschmalz: Nicht anquatschen ist Quatsch!

Eckart von Hirschhausen

Wo lesen Sie diese Kolumne gerade? Unterwegs oder zu Hause? Mal angenommen, es sitzt jemand Unbekanntes neben Ihnen (was unterwegs wahrscheinlicher ist als daheim): Was hielten Sie davon, die Lektüre zu unterbrechen und einen Smalltalk zu beginnen? Ich fürchte, nach neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen muss ich Ihnen in jedem Fall dazu raten. Dabei stütze ich mich auf eine Studie der Psychologen Nicholas Epley und Juliana Schroeder.

Ach, Sie lesen doch weiter? Anscheinend versprechen Sie sich davon mehr als von einem kleinen Plausch! Das geht vielen so. Warum sollten wir sonst in der Öffentlichkeit systematisch verhindern, mit anderen in Kontakt zu kommen? Wir verschanzen uns hinter Büchern, Zeitschriften oder Smartphones. Ist das wirklich smart? Menschen sind soziale Wesen, erkannte bereits Aristoteles. Was er nicht vorhersah: Wenn wir heute unterwegs sind, sitzen wir meist stumm nebeneinander. Und tun virtuell das, was uns in der Realität offenbar schwerfällt: einen Dialog anzustupsen.

Wenn es stimmt, dass Menschen im Miteinander am glücklichsten sind, warum tun wir dann alles dafür, dass im Zug, im Flugzeug oder im Bus ja kein Gespräch mit anderen zu Stande kommt? Ist das Sicheinlassen auf eine Unterhaltung mit Fremden wirklich so viel unbefriedigender, als zu lesen oder zu surfen – oder denken wir das bloß?

Psychotest

Was war der ungewöhnlichste Ort, an dem Sie mal angesprochen wurden?

  1. A) Seilbahn
  2. B) Sauna
  3. C) Sahara
  4. D) Sofa

Die Psychologen von der University of Chicago baten Hunderte von Menschen, die gerade einen Zug, einen Bus oder ein Taxi bestiegen, auf der Fahrt einen der Mitreisenden anzusprechen. Die Kontrollgruppen sollten dagegen Distanz wahren oder sich "wie üblich" verhalten. Nach den Fahrten wurde mittels eines Fragebogens die Befindlichkeit und die Persönlichkeit der Teilnehmer vermessen. Die große Überraschung: Wir können offenbar schlecht vorhersagen, was uns glücklich macht. Denn fragte man die Probanden vorher, ob sie sich nach stiller Lektüre oder nach einem kleinen Plausch wohler fühlen würden, wollten die meisten lieber ihre Ruhe haben. Tatsächlich empfanden aber jene, die reden "mussten", ihre Fahrt als am angenehmsten – und zwar sowohl intro- als auch extravertierte Zeitgenossen. Viele waren überrascht, wie viel Spaß ihnen die Unterhaltung mit einem Fremden gemacht hatte!

Warum tun wir dann das Offensichtliche so selten? Auch das erfragten die Forscher. Viele Teilnehmer hatten Angst, der Angesprochene könnte sich belästigt fühlen. Die Autoren sehen darin den Denkfehler der "pluralistischen Ignoranz": Wir glauben gerne, andere wären anders als wir, obwohl die gar nicht so anders sind. Wenn es uns Spaß macht, zu plaudern, denken wir, andere wollen das nicht, und bleiben lieber still.

Komisch, dass Menschen sich wissentlich hinter einer Fassade verstecken, ohne dieselbe Fassade bei anderen zu durchschauen. Das ist natürlich kein Freifahrtschein für aufdringliche Flirts! Aber doch ein Beleg dafür, dass sich die soziale Kultur, die uns zum Menschen macht, auch unter großen Kopfhörern, hinter Sonnenbrillen und im fahlen Licht der Displays erhalten hat. Einen guten Gesprächseinstieg liefere ich Ihnen gleich dazu: "Haben Sie das auch schon gelesen: Fremde anzusprechen macht glücklich. Kann ich mir nicht vorstellen – glauben Sie das?" Probieren Sie es aus!

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  • Quelle
Epley, N., Schroeder, J.: Mistakenly Seeking Solitude. In: Journal of Experimental Psychology: General 10.1037/a0037323, 2014
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