Direkt zum Inhalt

Hochschulen und Wissenschaft in Ungarn - zwischen Hoffnung und Ernüchterung

Leere Staatskassen bringen die ungarische Hochschullandschaft in eine ernste Krise. Die Forschung ist zwar entideologisiert, doch stehen strukturelle und inhaltliche Reformen noch aus.

"Das ungarische Volk ist arbeitsam. Dabei verdient es wesentlich weniger als die Menschen in Frankreich. Auch bei den Intellektuellen ist dies so. Sie sind dazu verurteilt, unter den schlechtesten Bedingungen und ohne ausreichende materielle Mittel zu arbeiten."

Dies schrieb der wohl beste französische Kenner Ungarns, der Sprachwissenschaftler Aurélien Sauvageot, der von 1923 bis 1933 in Budapest lebte und am dortigen Eötvös-Kollegium unterrichtete. Diese nach dem Vorbild der Pariser Ecole Normale Supérieure gegründete und nach dem Politiker und Schriftsteller Baron József Eötvös (1813 bis 1871) benannte Einrichtung feierte im September 1995 ihr hundertjähriges Bestehen und damit auch das Uberleben der ungarischen Mittelklasse (Bild 2). Stolz wird hier auf die nicht unbeträchtliche Anzahl all der Berühmtheiten verwiesen, die zu den ehemaligen Zöglingen gehörten wie etwa der Historiker Kálmán Benda und der auch in Deutschland bekannte Komponist und Musikpädagoge Zoltán Kodály (1882 bis 1967).

"Der Geist dient frei", dieser dem Eötvös-Kollegium gewidmete Wahlspruch gilt indes auch vielen anderen neugegründeten Institutionen Ungarns, die eines gemeinsam haben: ihren Anfang im Jahre 1992. Dazu zählen die bereits sehr bekannte Central European University, das von Berlin aus initiierte Collegium Budapest (Spektrum der Wissenschaft, August 1993, Seite 106) und die jüdische Freiuniversität Yahalom. Alle diese Einrichtungen tragen dazu bei, die ungarische Hauptstadt in gewisser Hinsicht zu einem internationalen Wissenschaftszentrum zu machen. Allein das Collegium Budapest, das von Frankreich, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz mitfinanziert wurde, hat seit 1992 fast 100 Stipendiaten aus 23 Ländern empfangen. Die von diesen Hochschulen veranstalteten öffentlichen und akademischen Vorträge beleben die ehemals normativ und zentralistisch gestaltete Forschung.


Umgestaltung der Hochschulen

Die ideologische Entrümpelung und die Öffnung der Universitäts- und Forschungsstrukturen setzten in Ostmitteleuropa jedoch keineswegs spontan ein. Sie basieren vielmehr auf einem Liberalisierungsprozeß, der sich bereits Anfang der siebziger Jahre langsam abzuzeichnen begann und der in die parallel zur offenen Krise des kommunistischen Regimes unter János Kádár (1912 bis 1989) aufkommenden Studentenproteste mündete. Kurz vor der Wende 1989 wurden dann die traditionellen Marxismus-Leninismus-Fächer umgestaltet und Russisch als Pflichtsprache abgeschafft. Die Studenten forderten "Freiheit in der Lehre" und begruben symbolisch die "alten" zentralistisch geregelten Lehrpläne in einem schwarzen Sarg, den sie von der Erzsébet-Brücke aus in der Donau versenkten.

Im Jahre 1990 war es dann soweit: Die Freiheit schien greifbar nahe. Das sowjetisch geprägte Qualifikationssystem wurde abgeschafft, der Fächerkombinationszwang entfiel, das Grundstipendium und die Bücherzuschläge wurden erhöht. Es durfte von nun an gelehrt und geforscht werden, was gefiel. Innerhalb der Universität konnten individuelle Forschungsergebnisse als Vorlesungen oder Seminare angeboten werden. Neue Studiengänge wurden kreiert, insbesondere für die landesweit 12000 Russischlehrer, die man zu Englisch- oder Französischlehrern umbilden mußte.

Während aber die Germanistik trotz vielseitiger Unterstützung durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und neuer österreichischer Austauschprogramme wegen des Niedergangs der DDR auf sehr wertvolle und günstige Ausbildungsmöglichkeiten verzichten mußte – alle ungarischen Studenten konnten für mindestens ein Semester in der DDR studieren –, verzeichneten einige naturwissenschaftliche Zweige eine reelle Verbesserung. Forschung und Lehre stießen hier auf großzügige Unterstützung, vor allem von seiten der Bundesrepublik, dem wohl größten Förderer der ungarischen Wissenschaft seit der Wende. Bund und Länder beteiligen sich gemeinsam an wichtigen Buch- und Sachspenden, an Förderungen und Finanzierungen von Partnerschaften der Universitäten und an der Vergabe von Stipendien. So fördert etwa das Land Baden-Württemberg für 1995/96 eine deutschsprachige Bauwesen- und Elektrotechnikausbildung an der Technischen Universität in Budapest mit je 60000 Mark pro Jahr. Allein für 1994 stellte der DAAD 1160 Stipendienmonate zur Verfügung, und die Alexander von Humboldt-Stiftung beteiligte sich zwischen 1991 und 1995 mit rund 3,5 Millionen Mark an Gerätespenden.

Der Wissenschaftsbetrieb schien zunächst allgemein einen enormen Auftrieb zu erleben, Studierende und Lehrende konnten dank europäischer Stipendien viel leichter ins Ausland fahren. Hochkarätige Forscher kamen wiederum nach Ungarn und schafften Austauschmöglichkeiten, von denen dieses Land jahrzehntelang abgeschnitten war.

Doch während sich an den internationalen Institutionen in Budapest viel bewegt und während einige Forscher wirklich von den Gerätespenden und Stipendien profitieren können, rufen die meisten lokalen Wissenschaftseinrichtungen des Landes nach Hilfe. Eine tiefe Kluft trennt jene, die das Glück haben, vom westlichen Ausland gefördert zu werden, vom restlichen Mittelbau, der zu veröden droht. Hier werden sie wieder aktuell, jene Worte des französischen Linguisten Aurélien Sauvageot, der damit vor allem die Genügsamkeit seiner ungarischen Kollegen bewunderte.

Dies kann man auch heute noch, denn nur selten sind Beschwerden über die fast unmenschlich niedrigen Gehälter zu hören. Nur dort, wo Wissenschaft und Lehre ernsthaft bedroht scheinen, wird aufbegehrt. Wo es bis jetzt – trotz enormer Spenden – an Geld mangelte, hat man sich mit Eigenbau beholfen. Oft steht so in den Laboratorien Selbstentwickeltes neben Hochmodernem (Bild 1). Doch nun scheint selbst dies nicht mehr möglich, denn auch Selbermachen kostet Geld, und das hat Finanzminister Lajos Bokros im März dieses Jahres gestrichen.


Streichung statt Reformen?

Das sogenannnte Bokros-Sparpaket sieht eine 30prozentige Reduzierung aller Hochschullehrerstellen vor, konfrontiert Universitäten wie Forschungszentren mit einem radikal gekürzten Budget und verpflichtet die Studenten, den dadurch fehlenden Betrag durch eine Sondergebühr an die Universitäten zurückzuzahlen. Selbst der Jahresetat der größten ungarischen Universität, der Eötvös-Loránd-Tudomány-Egyetem (ELTE) in Budapest, wurde um 470 Millionen Forint (etwa 5,6 Millionen Mark) gekürzt. Allein für die Germanistische Fakultät hat das einen Abbau von 180 Hochschulstellen zur Folge – gerade zu einer Zeit, in der sie von Studierenden überfüllt ist und jährlich 700 bis 800 Studierwillige zurückweisen muß.

Anderwärts ist es ähnlich. Die sogenannten Fremdsprachlektorate der Medizinischen Universität und der Universität für Rechtswissenschaften mußten geschlossen werden. Die Hochschule für Musik sieht sich genötigt, hochqualifizierte Professoren wie den Musikwissenschaftler György Kroó und den Komponisten Emil Petrovics wie Anfänger auf halbe Deputate herunterzustufen. In den Laboratorien für physikalische Chemie sorgt man sich um die Praktika, wo aus Sicherheitsgründen eigentlich drei Hochschullehrer für je 15 Studenten anwesend sein müßten; und im Historischen Institut der ELTE überlegt man, ob nicht ein Spezialist pro Bereich genügte: einer für die Geschichte Frankreichs, einer für Südosteuropa, einer für russische Geschichte...

Wild wird spekuliert, wen man am besten entläßt. Einige Wissenschaftler lassen sich lieber freiwillig kündigen, weil es ihnen ohnehin an Forschungsmaterialien fehlt und sie um ihr Renommee fürchten. Unter den Lehrbeauftragten, Dozenten und Assistenten munkelt man etwas von Leistungslisten, die über jeden erstellt würden, und die Zeitungen sind voll von Kommentaren gleichen Tenors: Wissenschaft als reines Rechenexempel, das müsse danebengehen.

Bei der generellen Beurteilung der Lage teilen sich jedoch die Meinungen: Während der Mittelbau eine wissenschaftliche und hochschulpolitische Katastrophe heraufziehen sieht, stehen höhere Verantwortliche, aber auch viele Studierende der Situation etwas distanzierter gegenüber. "Es muß gekürzt werden", meint beispielsweise der ELTE-Dekan und Leiter des Germanistischen Instituts, Károly Manherz: "Es gibt zu viele unabhängige Hochschulen und Universitäten. Das zahlt sich bezüglich der Infrastrukturen nicht aus. Diese Strukturen hat die Weltbank 1989 geprüft und ist zu dem Schluß gekommen, daß unser System wieder einheitlicher werden muß. Damals wurden Projekte zur Integration der Universitäten in Ungarn ausgeschrieben, aber es hat sich diesbezüglich nicht viel getan."

Tatsächlich haben sich manche Universitäten zusammengeschlossen wie etwa in Pécs und in Szeged, doch blieben sie weiterhin selbständig. Dies, so Manherz, werde sich jetzt ändern, denn Ungarn stehe vor einer neuen Finanzierung des Hochschulwesens, die eine völlige Umstrukturierung erfordere. Auch der ehemalige Dekan der Naturwissenschaftlichen Fakultät der ELTE und Ordinarius des Kartographischen Instituts, István Klinghammer, stimmt einem Versuch der Umstrukturierung zu. Doch vertritt er die Ansicht, daß alle übertreiben, vor allem die Regierung: "Die Idee einer Reform ist absolut richtig, doch die Regierung sucht blitzschnell das gesamte Universitätssystem umzustülpen, ganz nach der Rasenmähermethode. Dabei fehlen Strategien und Konzepte. Sie stellt irgendwelche abstrakten Hochrechnungen auf, kommt auf ein Lehrer-Studenten-Verhältnis von durchschnittlich eins zu zehn für alle Fachbereiche, und der Rest muß einfach weg. Sie glaubt, wenn sie das Geld streicht, geht alles andere schon von selbst."

Dabei wären vor allem inhaltliche Studienreformen erforderlich. Denn den alten begrabenen Lehrplänen folgten keine neuen. Statt um Einsparung geht es laut Klinghammer um einen Paradigmenwechsel im wissenschaftlichen Arbeiten. Computerisierung und Modernisierung würden andere Methoden erfordern. Außerdem fehlten seit der Wende offiziell anerkannte Qualifikationskriterien. Die völlige inhaltliche Autonomie, die den Universitäten 1990 zukam, sei deshalb sowohl für ihn als auch für Manherz zu einer sehr "holprigen Autonomie" geworden, da sie nach innen orientierungslos und von außen finanziell beschränkt und gehemmt sei.

Den 25000 Studierenden, die aus ganz Ungarn anreisten, um in der Nacht vom 4. auf den 5. Oktober 1995 vor dem Parlament eine Mahnwache abzuhalten, ging es in erster Linie darum, der Regierung ein Mitspracherecht in der Hochschulpolitik abzuringen (Bild 3). Sie wollen eine sinnvolle Studienreform, eine Verbesserung des 1993 verabschiedeten Hochschulrahmengesetzes und eine Neuorientierung des Studiengebührensystems, das seit September 1995 sowohl Grund- als auch Sondergebühren einfordert, die je nach Universität bis zu 10000 Forint pro Monat betragen können. (Das Nettogehalt eines Dozenten beläuft sich auf etwa 42000, ein Promotionsstipendium etwa auf 18000 Forint pro Monat.)

Während die Sondergebühren nur das Finanzloch der Universitäten stopfen, verschwinden die sogenannten Grundgebühren sofort in der defizitären Staatskasse. "Wir sind nicht grundsätzlich gegen Studiengebühren", erklärte der damalige stellvertretende Vorsitzende der ungarischen Studentenorganisation HÖKOSZ, László Jaczkovics: "Man will ja damit nicht einfach Geld sammeln. Ungarn ist hochverschuldet, und die Universitäten brauchen das Geld. Wir fordern lediglich ein differenzierteres Gebührensystem, und wir möchten, daß dieses Geld für die Modernisierung der Universitäten verwendet wird." Dabei kommt HÖKOSZ nicht mit leeren Händen. Es kann der Regierung ein ausgearbeitetes Konzept eines leistungs- und sozialorientierten Gebühren- und Stipendiensystems vorlegen.

Welche Schritte wann zuerst getan werden müssen weiß allerdings keiner so recht. Während die Regierung auf Kürzungen pocht, verlangt der Mittelbau mehr Subventionen und das Belassen der existierenden Strukturen. Dekane und Rektoren sprechen von Umstrukturierung und Reformen und wollen diesbezüglich auch konsultiert werden. Die Studenten und ihre Organisationen rufen nach sinnvollen und nicht zu hohen Studiengebühren. Doch insgesamt kommt es zu keinem bildungspolitischen Konsens. Eine schnelle Lösung ist hier kaum in Sicht, dafür aber trifft man auf erstaunlich viel Humor, denn Klinghammer bleibt trotz allem optimistisch: "Ungarn hat die Türken und die Mongolen überlebt. Auch diese Krise werden wir noch hinter uns bringen."


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 122
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Kennen Sie schon …

Spektrum - Die Woche – Steckt das neue Coronavirus in schwebenden Tröpfchen

Wie viele Wölfe in Deutschland noch Platz haben könnten, lesen Sie in dieser Ausgabe. Außerdem: Forschung im Schnellverfahren und Covid-19 in der Luft

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.