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Hoechst-Forscher auf der Suche nach Therapeutika gegen Morbus Alzheimer

Mit Velnacrin hat die Hoechst AG ein erstes Präparat in der klinischen Prüfung, das zur symptomatischen Behandlung der Alzheimer-Demenz im frühen Stadium geeignet scheint. Um Medikamente zu entwickeln, die ursächlich ansetzen, bedarf es hingegen erst noch aufwendiger Grundlagenforschung.

Hirnleistungsstörungen vom Alzheimer-Typ sind zu einer weit verbreiteten Krankheit geworden. Je älter die Menschen, desto anfälliger werden sie dafür. Das Leiden beginnt meist schleichend im sechsten Lebensjahrzehnt und beraubt sie allmählich ihrer kognitiven Fähigkeiten, ihres Gedächtnisses und ihrer Identität. Allein in Deutschland sind inzwischen fast schon eine Million alte Menschen betroffen.

Über die Ursachen der Alzheimerschen Krankheit, die erhebliche funktionelle Einbußen im Gehirn bedeutet (Bild 1), wird von Wissenschaftlern in aller Welt lebhaft diskutiert. Die Mehrzahl der Forscher ist sich jedoch darin einig, daß die Bildung unlöslicher Amyloid-Ablagerungen und neurofibrillärer Knäuel im Gehirn der Patienten die beiden entscheidenden Faktoren beim Entstehen und Fortschreiten dieser degenerativen Erkrankung sind (siehe Spektum der Wissenschaft, Januar 1992, Seite 56).

Da die molekularen Mechanismen erst allmählich aufgeklärt werden, ist ein kausaler Ansatz zur Bekämpfung der Krankheit noch nicht abzusehen. Dagegen zeichnen sich inzwischen Möglichkeiten der symptomatischen Behandlung ab. Sie sind das erste Ergebnis der Alz-heimer-Forschung, die wir bei Hoechst schon Anfang der achtziger Jahre aufgenommen haben.

Ein cholinerges Defizit

Damals gab es indes nur vage Vermutungen über die Ursache der Alzheimerschen Krankheit. Die einzige Grundlage, auf der ein rationaler Forschungsansatz, der an die pathophysiologischen Befunde dieser Erkrankung anknüpfte, aufbauen konnte, war die Hypothese, daß ein Mangel an dem Nervenbotenstoff Acetylcholin mitspielte.

Ende der siebziger Jahre hatten Untersuchungen an verstorbenen Alzheimer-Kranken ergeben, daß ihre Großhirnrinde im Vergleich zu der altersentsprechender Kontrollgruppen bis zu 90 Prozent reduzierte Konzentrationen an Cholin-Acetyltransferase (CAT) aufwiesen. Dieses Enzym katalysiert in der jeweiligen Nervenfaser-Endigung die Synthese von Acetylcholin, das Signale über den synaptischen Spalt an die nachgeschaltete Nervenzelle übermittelt (Bild 2).

Dieses cholinerge Defizit tritt auffälligerweise in Hirnregionen auf, die besonders stark von der Alzheimerschen Krankheit betroffen sind. Es korreliert sowohl mit der jeweiligen Anzahl der senilen Plaques (den Amyloid-Ablagerungen) als auch mit den neurofibrillären Veränderungen.

Beide anatomischen Auffälligkeiten – Plaques wie Fibrillen – hatte bereits Alois Alzheimer (1864 bis 1915) vor fast 90 Jahren entdeckt und als typisch für die später nach ihm benannte Krankheit bezeichnet.

Die Hypothese eines cholinergen Defizits wird durch eine weitere Beobachtung gestützt. So lassen sich bei gesunden Versuchspersonen durch die Gabe von Scopolamin reversible Aufmerksamkeits- und Gedächtnisstörungen hervorrufen, die in einigen Symptomen den Hirnleistungsstörungen vom Alzheimer-Typ ähneln. Die Substanz, die in Nachtschattengewächsen wie Bilsenkraut und Stechapfel vorkommt, blockiert die cholinerge Übertragung von Nervenimpulsen.

Diese künstlich induzierte Scopolamin-Demenz läßt sich durch Physostigmin aufheben, ein Alkaloid der giftigen westafrikanischen Kalabarbohne. Durch die Verabreichung dieses stickstoffhaltigen Pflanzenwirkstoffes läßt sich auch die kognitive Leistungsfähigkeit von Alzheimer-Patienten kurzfristig verbessern; die Wirkung ist aber nur vorübergehend.

Das erste Ziel der Alzheimer-Forschung von Hoechst war es deshalb, eine Substanz mit einem ähnlichen Wirkmechanismus wie Physostigmin zu finden. Sie sollte jedoch stabiler und vor allem länger wirksam sein.

Erste Erfolge

Im Jahr 1982 gelang uns die Synthese von Velnacrin. Dieser Wirkstoff ist ein Aminoacridin, das den Abbau von Acetylcholin durch das hochaktive Enzym Acetylcholinesterase hemmt. Nur ein Teil des Neurotransmitters wird bekanntlich im synaptischen Spalt enzymatisch gespalten, der andere gelangt in die ausschüttende Zelle zurück, wo er dann erneut zur Informationsübertragung bereitsteht. Da bei der Alzheimer-Demenz schon ein Defizit von Acetylcholin vorliegt, ist ein solcher Abbau natürlich unerwünscht. Und genau an diesem Punkt setzt nun Velnacrin an.

Wir haben das Mittel inzwischen in klinischen Studien an mehr als 1000 Patienten mit einer Hirnleistungsstörung vom Alzheimer-Typ geprüft. Etwa 40 Prozent der Patienten mit einer frühen oder leicht fortgeschrittenen Demenz sprechen gut darauf an.

Bei derzeit laufenden Langzeituntersuchungen geht es nun darum, verläßliche Daten für eine Dauertherapie zu gewinnen und vor allem das Nutzen-Risiko-Profil des Präparates zu ermitteln. Wie alle wirksamen Medikamente zeigt auch Velnacrin außer den erwünschten unerwünschte Wirkungen – Nebenwirkungen. So ließen sich bei etwa einem Drittel der Behandelten vorübergehend stark erhöhte Leberwerte (ein erhöhter Gehalt an Transaminasen im Blut) nachweisen, die auf eine mögliche Schädigung des Organs hinweisen.

Velnacrin erfüllt jedenfalls das Kriterium, das wir für die erste Stufe unseres dreistufigen Alzheimer-Forschungsprogramms definiert hatten: Es ist ein Präparat zur symptomatischen Behandlung der frühen Formen der Alzheimerschen Krankheit. Und es richtet sich erstmals gegen ein krankheitsspezifisches Charakteristikum.

Im Gegensatz dazu wirken alle bisher eingesetzten Mittel – sowohl die durchblutungsfördernden als auch die das Zentralnervensystem stimulierenden – nur auf unspezifische Sekundärfolgen der Krankheit. Freilich treffen wir auch mit Velnacrin nicht den Kern des Leidens. Wir nehmen vielmehr an, daß das cholinerge Defizit nur eine bestimmte Teil- oder Endstrecke in der Pathogenese der Hirnleistungsstörungen vom Alzheimer-Typ darstellt.

Auf der zweiten Stufe unseres Forschungsprogramms wollen wir ein Medikament für die Behandlung fortgeschrittener Stadien entwickeln. Ausgangspunkt ist dabei die Tatsache, daß nur 40 Prozent der Patienten gut auf Velnacrin ansprechen – vermutlich die mit einem vornehmlich cholinergen Defizit. In fortgeschrittenen Stadien liegt jedoch ein komplexes Defizit an Neurotransmittern vor. Neben dem cholinergen scheint besonders das noradrenerge System davon betroffen zu sein, in dem das Noradrenalin – ein Hormon des Nebennierenmarks – die Rolle des Neurotransmitters spielt.

Wir entwickelten deshalb als Antidementikum der zweiten Generation die Substanz Besipirdin. Sie moduliert nicht nur das cholinerge, sondern nimmt auch auf das noradrenerge System Einfluß. Genauso wie Velnacrin wirkt aber auch Besipirdin nur symptomatisch. Mithin vermögen beide Substanzen die Alzheimersche Krankheit nicht zum Stillstand zu bringen.

Auf der dritten Stufe unserer Alzheimer-Forschung, deren Zentrale übrigens in New Jersey in den Vereinigten Staaten angesiedelt ist, beschäftigen wir uns deshalb mit bestimmten molekularbiologischen Befunden. Dabei konzentrieren wir uns auf die beiden schon von Alzheimer beschriebenen neuropathologischen Veränderungen im Gehirn – die senilen Plaques und die neurofibrillären Knäuel. Die beiden zentralen Bereiche unserer Ursachenforschung sind dabei das Beta-Amyloid-Projekt und das Tau-Protein-Programm.

Das Beta-Amyloid-Projekt

Die senilen Plaques, die sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten zwischen den Nervenzellen ablagern, bestehen hauptsächlich aus Beta-Amyloid. Es entsteht durch enzymatische Spaltung aus einem wesentlich größeren Vorläuferprotein und ist etwa 38 bis 42 Aminosäuren lang (Aminosäuren sind die verketteten Bausteine der Proteine). Damit bieten sich zwei therapeutische Angriffspunkte an: zum einen die Bildung des Vorläuferproteins und zum anderen die des Amyloid-Fragments selbst.

Ein dritter Ansatz schließlich ergibt sich aus der Beobachtung, daß die neurale Degeneration bei Alzheimer-Patienten in direktem Zusammenhang mit der Bildung der Amyloid-Plaques steht. Wir schließen daraus auf eine neurotoxische Wirkung dieser Plaques. Deshalb suchen wir mit verschiedenen Screening-Verfahren nach schützenden Substanzen, die der Amyloid-Toxizität entgegenwirken.

Um die Bildung des Vorläuferproteins der senilen Plaques unterbinden zu können, brauchen wir Substanzen, die entweder das Abschreiben (die Transkription) des zugehörigen Gens in eine Bo-ten-RNA verhindern oder das Übersetzen (die Translation) dieser Botschaft in das Protein.

Die Transkription hängt von Promotoren – speziellen Basenfolgen auf der Erbsubstanz DNA – ab, die dem abschreibenden Enzym anzeigen, wo es beginnen soll. Wir meinen, daß diese Promotoren sich mit spezifischen Substanzen blockieren lassen müßten. In einem breit angelegten Screening-Programm suchen wir deshalb gemeinsam mit der amerikanischen Firma Oncogene Research danach.

Mit der sogenannten Antisense-Technologie versuchen wir in einem zweiten Ansatz die Translation, also die Herstellung des Proteins nach der verschlüsselten Bauanweisung auf der RNA, zu verhindern (siehe Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 70). Dabei experimentieren wir mit kleinen komplementären DNA-Stücken – Antisense-Oligonucleotiden –, die wie ein Spiegelbild zur Boten-RNA passen und Teile davon regelrecht abdecken. Eine erfolgreiche Blockade mit solchen Molekülen würde das Ablesen der Bauanleitung und mithin die Herstellung des Vorläuferproteins vereiteln.

Gelingt dies nicht oder erweist sich dieser Weg als zu kompliziert beziehungsweise mit untragbaren Nebenwirkungen verbunden, bleibt der dritte Ansatz: die enzymatische Abspaltung der Beta-Amyloid-Fragmente von dem Vorläuferprotein zu unterbinden. Wahrscheinlich befinden sich die Enzyme hierfür in speziellen Kompartimenten innerhalb der Nervenzellen, in den sogenannten Lysosomen.

Bevor wir jedoch nach Hemmstoffen gegen lysosomale Enzyme suchen, bemühen wir uns gegenwärtig erst einmal um ein genaueres Verständnis, wie und unter welchen Bedingungen das Amyloid-Fragment überhaupt von dem Vorläuferprotein abgespalten wird.

Voraussetzung, um die drei genannten Ansätze experimentell verfolgen zu können, war ein Tiermodell der Alzheimer-Demenz. Wir fanden es in der sogenannten Trisomie-16-Maus. Bei ihr kommt das Chromosom 16, auf dem das Gen für das Amyloid-Vorläuferprotein liegt, dreimal statt zweimal vor (Mäuse haben wie Menschen einen zweifachen Chromosomensatz). Die Folge ist eine Überproduktion des Proteins. Solche Tiere zeigen viele histopathologische Veränderungen, die auch für die Alzheimersche Krankheit typisch sind.

In Zusammenarbeit mit Maria Caserta von der Northwestern Universität in Evanston (Illinois) haben wir Kulturen von Zellen der Trisomie-16-Maus angelegt. Sie bilden die materielle Grundlage für die experimentellen Ansätze des Beta-Amyloid-Projekts.

Das Tau-Protein-Programm

Neurofibrilläre Knäuel aus fadenförmigen Proteinmolekülen sind die anderen charakteristischen Ablagerungen im Gehirn von Alzheimer-Patienten. Ihr Hauptbestandteil ist das Tau-Protein. Es gehört zur Familie der an Mikrotubuli gebundenen Proteine. Mikrotubuli wiederum sind Teile des Zellskeletts: hohle zylindrische Fasern, über die – in Nervenzellen besonders ausgeprägt – Stoffwechselprodukte transportiert werden.

Das Tau-Protein stabilisiert die Mikrotubuli, indem es sich an sie heftet. Die Stärke dieser Bindung wird wahrscheinlich über das An- beziehungsweise Abhängen von Phosphatresten reguliert. Solche Phosphorylierungen und Dephosphorylierungen sind ein grundlegender Steuermechanismus für viele biologische Vorgänge. Seine Entdecker, die Biochemiker Edmond H. Fischer und Edwin G. Krebs von der Universität von Washington in Seattle erhielten dafür 1992 den Nobelpreis für Medizin und Physiologie (siehe Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1992, Seite 18).

In der Tat sind die aus den Gehirnen verstorbener Alzheimer-Patienten gewonnenen Tau-Proteine ungewöhnlich stark phosphoryliert. Wir verfolgen daher die Hypothese, daß eine abnorm hohe Phosphorylierung die Tau-Proteine sich derart aggregieren und verklumpen läßt, daß die Mikrotubuli ihre Stabilität verlieren und die betroffenen Nervenzellen absterben.

Die Ursache der abnormen Phosphorylierung kann entweder eine überschießende Aktivität der Kinasen (der phosphorylierenden Enzyme) oder eine gestörte Funktion ihrer Gegenspieler sein; zu jeder Kinase, die jeweils eine Phosphatgruppe an eine bestimmte Stelle eines Proteins heftet, gehört eine Phosphatase, die im Bedarfsfall die Gruppe wieder entfernt.

Entscheidende Erkenntnisse über die Steuerung des Tau-Proteins und seine Funktion bei den Mikrotubuli hat Eckard Mandelkow mit seinem Team am Heidelberger Max-Planck-Institut für medizinische Forschung gewonnen. Dazu hat er in seinem Labor Tau-Proteine gentechnisch hergestellt und ein leistungsfähiges Reagenzglas-System zu ihrer Phosphorylierung aufgebaut.

In Zusammenarbeit mit Mandelkow untersuchen wir gegenwärtig die pathologischen Mechanismen der neurofibrillären Verknäuelung. Dabei hoffen wir einen Weg zu finden, der es uns eines Tages gestattet, die schon von Alzheimer beschriebenen Fibrillen zu verhindern beziehungsweise entstandene eventuell sogar rückgängig zu machen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1993, Seite 102
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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