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Home Care – Die Gesundheitsversorgung kommt nach Hause

Daß der Anteil älterer Menschen an der Bevölkerung der Industrienationen stetig zunimmt, stellt die Gesundheitssysteme vor große Probleme. Im Hinblick darauf gewinnt Home Care, die heimische Gesundheitsversorgung mit Hilfe moderner Informationstechnologie, zunehmend an Bedeutung. Home Care soll nicht nur die Lebensqualität der Patienten verbessern, sondern auch die Kosten im Gesundheitswesen begrenzen.


In Deutschland ist derzeit etwa jeder Fünfte über 60 Jahre alt. Dieser Anteil wird im Jahre 2030 auf rund 36 Prozent angestiegen sein. Dann wird es fast doppelt so viele ältere Menschen geben wie heute. Viele von ihnen werden chronisch krank oder gar Pflegefälle sein. Kaum einer wird jedoch seinen Lebensabend in einem Heim verbringen wollen, sondern lieber zu Hause in vertrauter Umgebung. Doch auch daheim muß der Patient kompetent betreut und sein Gesundheitszustand überwacht werden. Zwar bieten ambulante Pflegedienste vielerorts Unterstützung bei der häuslichen Pflege, Hausbesuche von Ärzten aber sind teuer und deshalb selten. Ganz zu schweigen von spezialisierten Fachärzten, die in der Regel überhaupt keine Zeit für Hausbesuche haben. Home Care soll es dem Patienten in Zukunft ermöglichen, zu Hause zu bleiben und dennoch unter ärztlicher Aufsicht zu stehen. Dann wird der Patient seinen Arzt virtuell besuchen und vice versa.

Home Care wird definiert als gesundheitliche Fernbetreuung zwischen einer medizinischen Einrichtung, beispielsweise einem niedergelassenen Arzt, einer Pflegeeinrichtung oder auch einem Krankenhaus, und einem im häuslichen Umfeld lebenden Patienten. Dabei werden multimediale Informationen – Bilder, Sprache, Vitaldaten wie Blutdruck, Puls, Blutzucker und Augeninnendruck – in regelmäßigen Abständen via ISDN an den betreuenden Arzt übertragen.

Besonderes Ziel von Home Care ist es, die Versorgung von – beispielsweise chronisch kranken – Patienten zu Hause sicherzustellen. Damit ließen sich die kostenintensiven Krankenhaustage reduzieren, und es könnten Transport- und Personalkosten eingespart werden. Doch Home Care umfaßt nicht nur die Nachsorge und Langzeitbehandlung, sondern kann auch in Form von elektronischen medizinischen Ratgebern für jung und alt zur Prävention beitragen. In Deutschland werden derzeit Pilotprojekte durchgeführt, deren erste Ergebnisse optimistisch stimmen.


Patienten übermitteln Meßwertean Augenärzte



Seit Mai 1998 läuft in Erlangen das Projekt "Telematische Selbsttonometrie" im Rahmen des Programms "EyeDoctorNetwork", an dem Prof. Georg Michelson von der Augenklinik der Universität Erlangen-Nürnberg und der Siemens-Bereich Medizinische Technik beteiligt sind. Die am Projekt teilnehmenden Patienten sind chronisch an Glaukom (grüner Star) erkrankt. Mit Hilfe eines tragbaren Meßgerätes bestimmen sie zu Hause mehrmals am Tag den Augeninnendruck, um die Entwicklung ihrer Krankheit zu verfolgen. Die Resultate geben sie in den "digitalen Assistenten" PalmPilot ein und übertragen sie via Modem und Telefonleitung an die zentrale Gesundheitsplattform "MedStage".

Georg Michelson kann über eine ISDN-Leitung auf diese Daten zugreifen. Benötigt er beispielsweise den Verlauf der Augeninnendruckwerte eines Patienten, so gibt er den gewünsch-ten Zeitraum in seinen PC ein und erhält die Werte in graphischer Darstellung. Eine Meßkurve über mehrere Tage, die für die Behandlung sehr wichtig ist, konnte bislang nur während stationärer Aufenthalte in einer Klinik erstellt werden. Dies ist jetzt von zu Hause aus unter ständiger ärztlicher Kontrolle und ohne großen Aufwand für den Patienten so-gar über Monate hinweg möglich.

Im Notfall alarmiert "MedStage" den Arzt von "Eye-Doctor-Network". Falls die Werte einen festgelegten Schwellenwert übersteigen, sendet der Server eine E-Mail an den Augenarzt. "Einmal stiegen die Werte eines Patienten rapide an", berichtet Werner Striebel, der bei der Firma Siemens an der Anwendung von Informations- und Kommunikationssystemen im Gesundheitswesen arbeitet. "Der Arzt erhielt sofort eine Nachricht, und dreieinhalb Tage später wurde der Patient operiert. Das wäre sonst nie so schnell gegangen", so Striebel. Der Zeitfaktor spielt eine entscheidende Rolle, denn wenn ein sehr hoher Augeninnendruck – den der Patient nicht bemerkt – nicht rechtzeitig erkannt wird, droht verminderte Sehfähigkeit oder sogar die Erblindung.

Das Bundesgesundheitsministerium betont es immer wieder: "Eigenverantwortung und Selbstbeteiligung der Patienten müssen zunehmen". Dazu benötigt der Laie jedoch eigene medizinische Kompetenz oder zumindest einen Zugang dazu. Woran kann aber ein Patient erkennen, daß er ernsthaft erkrankt ist? Wie kann er bestimmten Krankheiten vorbeugen? Wie kann er eine Therapie alleine zu Hause fortsetzen, nachdem er aus der Rehabilitation entlassen wurde?

Der sogenannte HealthMan soll hier künftig beraten und dem Patienten als persönlicher Gesundheitsassistent zur Seite stehen. Beim HealthMan handelt es sich um eine Softwarelösung, die zur Zeit als Prototyp in den Forschungslabors von Siemens existiert. Er ist ein modulares System, das zum einem Module für Diagnostik und Therapie sowie persönliche Gesundheitsdatenbanken enthält und zum anderen den Patienten in seiner häuslichen Umgebung mit medizinischen Einrichtungen vernetzt. Außerdem lassen sich Meßgeräte – beispielsweise für Blutdruck oder Blutzucker – anschließen. Für jede Benutzergruppe, beispielsweise Senioren oder junge Familien, gibt es bedarfsgerechte Versionen, die auf einem Notebook, PC oder einem künftigen Web-TV-Gerät laufen.

Die Softwaremodule für Diagnostik und Therapie basieren auf intelligenten Dialogsystemen, die Siemens in Zusammenarbeit mit dem Bayerischen Forschungszentrum für Wissensbasierte Systeme, dem Institut für Psychologie der Universität München und niedergelassenen Ärzten entwickelt. Doch wie werden diese Dialogsysteme generiert? Medizinische Entscheidungen beruhen meist auf Daten, die während der Untersuchung gewonnen werden. Dabei befragt und beobachtet der Arzt seinen Patienten – "Wo tut es denn weh?", "Der Kranke hustet, die Haut weist Ekzeme auf".

Wie der Arzt stellt auch HealthMan typische Fragen und hangelt sich je nach Antwort immer weiter in Richtung der Eingrenzung von Verdachtsdiagnosen vor. Die Abfragung verläuft dabei nicht starr, indem ein fest vorgegebener Fragebogen abgearbeitet wird, sondern vielmehr interaktiv und dynamisch. Je nach Antwort wählt das System diejenige nächste Frage aus, die im Kontext den höchsten Informationsgewinn verspricht. HealthMan arbeitet dabei auf Basis kausaler Netze, die eine wahrscheinlichkeitsbasierte Modellierung und Auswertung von Ursache und Wirkung ermöglichen. "Wer beispielsweise erkältet ist, der hat nicht immer Husten. Die Mediziner wissen aber aus Erfahrung, daß etwa 80 Prozent der erkälteten Patienten auch Husten haben. Diese Wahrscheinlichkeit – bei Erkältung haben 80 Prozent Husten – integrieren wir in das System", erläutert Thomas Birkhölzer, Forscher im Siemens-Bereich Medizinische Technik.

Nach etwa 20 Fragen kann HealthMan die Verdachtsdiagnosen meist recht gut eingrenzen, wobei der Benutzer nicht alle Fragen beantworten muß. Auch Aussagen wie "Ich weiß nicht" können verarbeitet werden. "Unsere These ist, daß das HealthMan-System tolerant ist gegenüber kleinen Abweichungen der Wahrscheinlichkeiten. Ob nun 70 oder 85 Prozent aller erkälteten Patienten Hustensymptome zeigen, beeinflußt die Arbeitsweise des Systems nur wenig", sagt Birkhölzer.

Der Forscher ist sich sicher, daß derartige intelligente Dialogsysteme eine Schlüsselkomponente für die Medizin der Zukunft sein werden: "Ziel des HealthMan ist es dabei nicht, die Eigenverantwortung des Patienten oder den Arztbesuch zu ersetzen, sondern vielmehr ihn zu beraten und zu unterstützen, vergleichbar zur Benutzung eines medizinischen Buchs. Der entscheidende Mehrwert des Systems ist seine Fähigkeit, Rückfragen zu stellen und so dem Benutzer bei seiner Selbstbeobachtung zu helfen."

Als Prototypen gibt es inzwischen das Kinderkrankheiten- und das Seniorenmodul, die beide bereits erfolgreich getestet wurden. Das erste beantwortet die Frage, ob Eltern ihr erkranktes Kind zum Arzt bringen sollten oder nicht. Außerdem liefert es eine Erstdiagnose. Beim Seniorenmodul steht das Koordinationstraining im Vordergrund. Anhand eines elektronischen Fragebogens wird die Fitneß des Benutzers bestimmt. Dann berechnet das Modul aus einem Pool von Übungen einen individuellen Trainingsplan. Die Übungen werden anschließend auf dem Bildschirm präsentiert. Die Reaktionsfähigkeit wird beispielsweise trainiert, indem der Benutzer eine Reihe von vorbeihuschenden Elementen verfolgt und sobald ein abweichendes Element auftaucht, schnell eine Taste drückt. "Die Senioren, die das Modul bislang testeten, zeigten sehr großes Interesse. Obwohl viele von ihnen noch nie am PC saßen, kann von einer Technikscheu keine Rede sein", sagt Birkhölzer.


Der elektronische Bewegungstherapeut



Rund ein Drittel aller Bundesbürger klagt über chronische Rückenschmerzen. Während es inzwischen gang und gäbe ist, Kraft in Fitneßstudios und Ausdauer auf dem Sportplatz zu trainieren, kommt das Erlernen der richtigen Bewegungsabläufe oft zu kurz. Der Physiotherapeut wird häufig erst dann aufgesucht, wenn der Bewegungsapparat bereits geschädigt ist. Doch die Behandlungseinheiten beim Therapeuten sind begrenzt. Danach ist der Rückenkranke auf sich allein gestellt und soll die Übungen zu Hause ausführen. Ebenso ergeht es beispielsweise Schlaganfallpatienten – sobald sie die stationäre Institution verlassen, endet die medizinische Rehabilitation.

Langfristige Weiterbetreuung und Nachsorge sind im derzeitigen Gesundheitssystem noch nicht etabliert. Im Rahmen des HealthMan-Konzeptes liegt inzwischen ein Prototyp zur Messung von Körperhaltung und Bewegung vor, der es dem Patienten ermöglicht, die Bewegungstherapie zu Hause fortzuführen. Dazu trägt der Patient einen mit Sensoren ausgestatteten enganliegenden Anzug, der mit Hilfe von integrierten Beschleunigungssensoren erlaubt, die Haltung des Patienten zu errechnen. Ein Therapeut bringt den Patienten zunächst in eine aufrechte und gerade Position und speichert die korrekten Haltungswerte und sogar komplette Bewegungsabläufe ab.

Der PC wertet dann die jeweiligen Meßdaten aus und gibt ein akustisches oder visuelles Feedback über die Abweichung von Ist- und Sollwerten. "Damit bekommt der Patient eine Rückmeldung, ob seine Haltung oder Bewegungsabläufe korrekt sind", sagt Thomas Birkhölzer. Das System wurde bereits erfolgreich in der Rheumaklinik Bad Füssing getestet. Über 90 Prozent der Probanden urteilten, daß der elektronische Bewegungstherapeut die rehabilitativen Maßnahmen verbessere.

Die neuen Technologien werden die Wartezimmer von Ärzten sicherlich nicht von heute auf morgen leeren. Home Care bietet aber in Zukunft große Chancen, das Gesundheitssystem zu optimieren: Home Care kann die Anzahl der kostenintensiven stationären Krankenhausaufenthalte verringern und zu einer gesteigerten Lebensqualität von Risikopatienten beitragen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1999, Seite 118
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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