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Homo heidelbergensis von Mauer. Das Auftreten des Menschen in Europa.

Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg 1997. 316 Seiten, DM 42,–.

Manche Fossilien kommen noch Jahrzehnte nach ihrer Entdeckung zu neuen Ehren. So geriet der immerhin schon 1856 ausgegrabene Neandertaler erst im letzten Jahr wieder in die Schlagzeilen, weil molekulargenetische Analysen und DNA-Vergleiche mit dem heutigen Menschen an ihm durchgeführt wurden.

Nun ist eben auch der berühmte Menschenfund aus den pleistozänen Neckarsanden von Mauer südöstlich von Heidelberg wissenschaftlich gleichsam wiederbelebt worden: Die vorliegende umfangreiche Anthologie aus 19 informativ illustrierten Fachbeiträgen widmet sich dem im Oktober 1907 aufgefundenen Unterkiefer, dem bisher ältesten Direktnachweis für das erste Auftreten des Menschen in (Mittel-)Europa vor etwa einer halben Million Jahren. Ältere Beobachtungen und neuere Befunde werden zu einem detailreichen Gesamtbild zusammengeführt.

Als der Sandgräber Daniel Hartmann das Fossil fand und der Heidelberger Privatgelehrte Otto Schoetensack (1850– 1912) es in einer 1908 erschienenen Monographie ausführlich beschrieb, war die Zeit für Überlegungen zur Fossilgeschichte des Menschen ungleich reifer als im August 1856 bei der unsachgemäßen Bergung des Neandertalers im Tal der Düssel zwischen Mettmann und Erkrath. In der Zwischenzeit waren nur wenige Hominiden-Reste bekannt geworden, und man hatte sich gescheut, sie als Menschen einzuordnen; die ältesten, 1891 bei Trinil auf Java ausgegrabenen, beschrieb der Entdecker, der niederländische Anatom und Anthropologe Eugène Dubois (1858–1940), in Anlehnung an Charles Darwin (1809–1882) vorsichtshalber noch als Pithecanthropus („Affenmensch“) erectus. Dagegen wies Schoetensack den Fund von Mauer schon in seiner Erstbeschreibung der Gattung Homo zu und unterstrich damit in einer Zeit heftiger Widerstände gegen die Darwinschen Ideen seine Überzeugung, daß die Fossilgeschichte des Menschen im Tierreich wurzelt.

Der von Schoetensack mit dem wissenschaftlichen Artnamen Homo heidelbergensis belegte Fund wird heute oft der Spezies Homo erectus oder deren eigens eingeführter Unterart Homo erectus heidelbergensis zugerechnet. Wer dagegen die ursprüngliche Benennung weiterverwendet, grenzt ihn – aus heutiger Sicht gut begründet – gegen die afrikanischen und asiatischen Homo-erectus-Funde ab und betont damit die Eigenständigkeit der frühesten europäischen Homo-Spezies, die seit 1993 mit einem ungefähr altersgleichen Fundstück auch von dem Fundplatz Boxgrove in Süd-England dokumentiert ist. Titel und Texte des vorliegenden Buches schließen sich konsistent dieser Deutung an.

Nach dem einstimmenden Prolog der Herausgeber Günther A. Wagner von der Forschungsstelle Archäometrie der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Karl W. Beinhauer vom Reiss-Museum Mannheim beleuchten die Beiträge im Themenblock II die Forschungsgeschichte. Auf einen Rückblick des Paläontologen Karl Dietrich Adam (ehemals Staatliches Museum für Naturkunde in Stuttgart) folgen vier authentische Darstellungen von Leben und Werk des Finders und der ersten Auswerter. Kapitelfolge III handelt unter den Leitbegriffen Archäometrie und Stratigraphie von den geologischen Eigenschaften von Fundplatz und Fundschicht. Obwohl diese innerhalb des Mittelpleistozäns zuverlässig dem jüngeren Cromer-Komplex mit der Mauerer Waldzeit zugeordnet werden kann, ist das Schichtalter derzeit nur auf etwa 100000 Jahre genau einzugrenzen.

Teil IV bringt Beiträge zu Anthropologie, Paläontologie und Klimageschichte. Friedemann Schrenk vom Hessischen Landesmuseum in Darmstadt beschreibt die Entstehung der Gattung Homo in Afrika, Jens Lorenz Franzen vom Forschungsinstitut Senckenberg in Frankfurt am Main die Anteile Europas an der Stammesgeschichte des Menschen, Wighart von Koenigswald vom Paläontologischen Institut der Universität Bonn die fossile Begleitfauna aus den Sanden von Mauer und Brigitte Urban von der Fachhochschule Nordostniedersachsen die klimagesteuerte Vegetationsentwicklung Mitteleuropas im Pleistozän. Damit beleuchten sie in zahlreichen Aspekten das Umfeld des Menschen von Mauer, seiner Zeitgenossen und Nachfahren. Schließlich widmen sich vier Aufsätze im Buchteil V der Kultur der frühen Menschen, unter anderem der Nutzung des Feuers durch den Frühmenschen und den unlängst aufgefundenen, altsteinzeitlichen Holzspeeren aus dem Harzvorland.

Der besondere Reiz dieses Buches liegt in seinem interdisziplinären Ansatz und der Vielfalt der Themen, die sich alle um das eine Fundstück gruppieren. Allein eine Gesamtschau des derzeitigen Kenntnisstandes zum Fundplatz Mauer hätte ohne weiteres ein Buch gefüllt. Mit seiner Ausweitung auf den allgemeineren Kontext der vergleichsweise späten Einwanderung des Menschen nach Mitteleuropa bietet dieses Werk jedoch zusätzlich eine Fülle hervorragend aufbereiteten Umfeldwissens. Die Autorinnen und Autoren haben für dessen Vermittlung eine fesselnde Sprache gefunden, die auch für Nichtfachleute verständlich ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1999, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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