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Wissenschaft allgemein: Humboldts Erben

Expeditionen zu den Grenzen des Wissens Lübbe, Bergisch Gladbach 2000. 256 Seiten, DM 49,80


In diesem Jahr verteilt die Deutsche Forschungsgemeinschaft wieder mehr als zwei Milliarden Mark, und in ganz Deutschland wird es vielleicht 20000 Forschern gelingen, sich ein Stück vom größten aller deutschen Drittmittelkuchen zu sichern. Zwei Milliarden Mark, das sind für jeden Steuerzahler kaum 60 Mark im Jahr. Aber auch diese Ausgabe will gerechtfertigt werden. Wieso erforscht da jemand die Gesundbeter und Scharlatane in Ecuador, wem nützen Neutrinos im fernen Baikalsee und wem seltsame Bakterien im Hochland von Chile?

Dass die Wissenschaft ihre Erkenntnisse von sich aus der Öffentlichkeit nahe bringen muss – die Sache mit der Bringschuld –, ist eine Erkenntnis, die sich, spät, aber immerhin, auch in Deutschland durchsetzt. Die DFG will zeigen, wen sie mit ihrem Geld fördert und was dabei herauskommt.

Da ihr die geeigneten Vermittlungskanäle fehlen, tat sie sich mit dem ZDF zusammen – und produzierte eine der besten Fernsehdokumentationen der vergangenen Jahre: "Humboldts Erben". Hier berichteten nicht Journalisten über die Arbeit von Forschern, sondern die Forscher selbst. Hier war zu sehen, wie sehr sich die Erfolgreichen unter den Forschern den Spieltrieb ihrer Kindheit bewahrt haben. Was dieser Spieltrieb gepaart mit Wissensdurst und Abenteuerlust hervorbringt, ist spannender und unterhaltsamer anzusehen als jede sorgfältig arrangierte Sendung.

Auch das vorliegende Begleitbuch zur Fernsehserie vermittelt etwas von dem überraschenden, abenteuerlichen Charakter der Forschung, kompetent aufbereitet von erfahrenen Schreibern und Forschern. Aus augenscheinlich Unspektakulärem werden unversehens aufregende Geschichten, zum Beispiel, wie Biologen im "Tal der Hundertjährigen" – einer unzugänglichen Urwaldregion in Ecuador – nach dem Geheimnis traditioneller Medizin suchen und wie ihnen dabei ein steinreicher Amerikaner hilft. Vielleicht sind in den zigtausenden bisher noch völlig unbekannten Tier- und Pflanzenarten ja die Wirkstoffe für die Medizin von morgen verborgen. Sie könnten nicht nur dem Menschen dienlich sein, sondern auch das Überleben der tropischen Regenwälder sichern.

Wie im August 1957 Archäologen der Universität von Peking eine spektakuläre Entdeckung machten – das klingt nach einem schlechten Roman, ist aber eine wahre Geschichte: Anhand einer über 800 Jahre alten Schrift stießen die Forscher in jenem Sommer auf die Bibliothek von Yunjusi. Tausende von buddhistischen Mönchen hatten in über 500 Jahren rund 30 Millionen Schriftzeichen in mehr als 10000 steinerne Schriftplatten gemeißelt und damit das damalige Wissen der Welt für die Ewigkeit aufbewahrt. Im Taxi durch das Pekinger Stadtchaos erklärt der Heidelberger Professor Lothar Ledderose, dass diese Bibliothek so lange erhalten blieb, weil sie keinem Feuer zum Opfer fallen konnte und schlichtweg zu schwer war, um geraubt und verschleppt zu werden.

Einige tausend Kilometer nordwestlich von Yunjusi taucht ein Photomultiplier in den ältesten und tiefsten See der Erde: den Baikal-See. Ausgerechnet hier will die bunt gewürfelte Forschertruppe aus deutschen und russischen Physikern die Geheimnisse des Kosmos ergründen, indem sie nach Neutrinos fahndet, den kaum zu findenden Boten aus dem All. Eingefrorene Maschinen, eine groteske Bürokratie und zahlreiche andere Hindernisse sind zu überwinden; viel Wodka und noch mehr Geduld sind die Grundlage des Erfolgs, der sich nach jahrelangem Warten mit der zweifelsfreien Identifikation des ersten durch einen Unterwasser-Detektor nachgewiesenen Neutrinos einstellte.

Natürlich ist das Buch eine einseitige Darstellung des Forscheralltags. Nur wenige werden darin ihr Tagwerk wiederfinden: Mühsames Datenauswerten, das Schreiben von Publikationen in Nachtschichten und vor allem das nervtötende Verfassen von Drittmittelanträgen sind hier nicht Thema. Aber das war nie und ist auch heute nicht das Wesen der Forschung. Sie lebt vielmehr von den Ideen, Fantasien sowie dem festen Glauben an den Erfolg. Wie eh und je erkunden auch heute die Forscher mit Gummistiefeln, Probenfläschchen und einer ordentlichen Portion Glück die Wurzeln des Lebens, das Wissen unserer Vorfahren oder die Anfänge des Universums. Mitreißend beschreibt das Buch die Vielfalt der Disziplinen und ihrer Protagonisten. Es ist ein Plädoyer für die Forschung, die den Leser kaum mehr kostet als dieses Buch.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 2001, Seite 107
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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