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IKARUS - Klimagas-Reduktionsstrategien und ihre Beurteilung


Mit der Klimarahmenkonvention, die 1992 in Rio de Janeiro auf der Konferenz der Vereinten Nationen über Umwelt und Entwicklung zur Unterzeichnung ausgelegt wurde und seit dem vergangenen Jahr in Kraft ist, verpflichteten sich zahlreiche Staaten, ihre Emissionen an Treibhausgasen zu verringern, um einer folgenschweren Erwärmung der Atmosphäre vorzubeugen. Schon zwei Jahre zuvor erklärte die Bundesrepublik, eine Reduktion des Ausstoßes an Kohlendioxid (CO2) um 25 bis 30 Prozent bis zum Jahr 2005 anzustreben.

Dies sollte laut der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages zum Schutz der Erdatmosphäre möglich sein. Doch Gespräche mit Verbänden und Institutionen im ersten Halbjahr 1990 zeigten, daß die akademische Welt zwar große CO2-Reduktionspotentiale und kaum Probleme für ihre Umsetzung sah, die Vertreter von Wirtschaft und Verwaltung das Vorhaben aber für unrealistisch hielten. Eine Ursache mancher Kontroverse waren wohl unterschiedliche Ausgangsdaten oder Analysemethoden; mitunter blieben in den Studien auch Rückkopplungseffekte auf die Energiewirtschaft unberücksichtigt.

Um die Diskussion sachgerecht weiterzuführen, mußte zunächst ein geeignetes Instrumentarium bereitgestellt werden, insbesondere

- eine einheitliche, breit angelegte, transparente und wissenschaftlich gut abgesicherte Datenbasis mit entsprechender Datenbank sowie

- Computerwerkzeuge für Analysen, die der Komplexität des deutschen Energiesystems angemessen sein und volkswirtschaftliche Konsequenzen von Reduktionsstrategien aufzeigen sollten (also Simulations- und Optimierungsmodelle, die bestimmte Bereiche der Energiewirtschaft oder auch den ganzen Energiefluß in Deutschland mathematisch nachbilden).

Deshalb initiierte das damalige Bundesministerium für Forschung und Technologie (BMFT) im Dezember 1990 das in vier Entwicklungsschwerpunkte untergliederte IKARUS-Projekt (Instrumente für Klimagas-Reduktionsstrate-gien). Es ist Ende 1994 abgeschlossen worden und wird in diesem Monat der Öffentlichkeit und potentiellen Nutzern vorgestellt (Bild 1).


Bereitstellung von Daten

Die Datenbank, die auch als unabhängiges Informationssystem genutzt werden kann, enthält die Eingaben für die mathematischen Modelle. Sie umfaßt mehrere hunderttausend Einzeldaten wie Beschreibungen von Techniken, Bestandsaufnahmen sowie Angaben zur Gesamtwirtschaft und zur Bedarfsentwicklung für die Jahre 1989, 2005 und 2020. Die Datenbank ist auf einem Personal Computer einsetzbar. Für Konzeption und Funktion ist das Fachinformationszentrum in Karlsruhe zuständig.

Verschiedene Partner liefern Technikinformationen und wirtschaftliche Rahmendaten; die Arbeitsteilung entspricht dabei der Gliederung des Energieflusses in Deutschland nach Primärenergie, Umwandlung und Nutzenergie beziehungsweise Energiedienstleistung mit den Aspekten Privathaushalte, Kleinverbraucher, Industrie, Verkehr sowie übergreifende Technologien.

So liefert das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin Informationen zu nuklearen, fossilen und erneuerbaren Energien. Im Bereich Umwandlung untersucht das Institut für Energiewirtschaft und Rationelle Energieanwendung in Stuttgart die Strom- und Wärmeerzeugung in Kraftwerken, den nuklearen Brennstoffkreislauf, die Kohle- und Erdölveredelung, die energetische Abfallnutzung, die Erzeugung neuer Sekundärenergieträger wie insbesondere Methanol und Wasserstoff, die Verteilung und Speicherung leitungsgebundener Energieträger sowie Entsorgungsmöglichkeiten für Treibhausgase. Im Endenergiebereich bearbeitet die Technische Universität München die Sektoren Haushalte und Kleinverbraucher, das Fraunhofer-Institut für Systemtechnik und Innovationsforschung in Karlsruhe den Industriesektor, der TÜV Köln den Verkehr sowie die Forschungsstelle für Energiewirtschaft der Gesellschaft für Praktische Energiekunde in München die Querschnittstechnologien.


Modellierung im nationalen und internationalen Umfeld

Als weiteren Schwerpunkt entwickelte die Gruppe Systemforschung und Technologische Entwicklung des Forschungszentrums Jülich (KFA) Modelle, um Strategien zur Minderung von Klimagas-Emissionen aus Energieproduktion und -verbrauch anhand der Energiebilanz der Bundesrepublik zu erarbeiten, zu erproben und miteinander zu vergleichen. Dazu dienen:

- ein gesamtenergiewirtschaftliches Optimierungsmodell; bei vorgegebenen Emissionsgrenzen läßt sich damit die Lösung mit dem geringsten Kostenaufwand und damit den größten Realisierungschancen berechnen;

- spezielle Simulationsmodelle für Bereiche wie Raumwärme, Strom- und Fernwärme, Industrie und Verkehr, deren Anteile an der Emission von Klimagasen besonders hoch sind;

- Technikketten, um den Energiefluß und damit verbundene Emissionen zu verfolgen oder unterschiedliche Flüsse für dieselbe Energiedienstleistung zu vergleichen.

Die Modelle können unabhängig voneinander betrieben werden.

Als Bindeglied zwischen nationalem und internationalem energiepolitischem Umfeld ist die Programmgruppe Technologiefolgenforschung der KFA im Teilprojekt Verifikation mit der weltweiten Treibhausgas-Kontrolle befaßt. Wichtig zu klären ist insbesondere, inwieweit nationale Reduktionsstrategien umgesetzt und überprüft werden können. Voraussetzungen dafür sind jeweils eine detaillierte, transparente und nachvollziehbare Datenbasis sowie Modellinstrumentarien, wie IKARUS sie beinhaltet. Zudem wurden vorhandene Meßketten für Luftschadstoffe sowie Satellitenbeobachtung und ähnliche Techniken auf ihre Eignung zur internationalen Kontrolle untersucht (allerdings für wenig praktikabel befunden) und die Organisation einer internationalen Kontrollbehörde für Treibhausgase entworfen.


Der Energiefluß in der Bundesrepublik

In der gesamtenergiewirtschaftlichen Modellierung wird der gesamte Energiefluß für 1989, 2005 und 2020 mathematisch nachgebildet (für die ersten beiden Stützjahre werden alte und neue Bundesländer unterschieden). Für diese Jahre lassen sich Reduktionsstrategien prüfen, wobei Ressourcen (wie Energieträger), Kapazitäten (wie der Kraftwerksbestand) und verfügbare Techniken als Randbedingungen vorzugeben sind.

Neun Hauptbereiche werden dabei unterschieden: primäre Energieträger, Raffinerie, Strom, Wärme, Gasveredelung, Industrie, Verkehr, Haushalte und Kleinverbraucher. Alle diese Sektoren beinhalten auch Techniken und Maßnahmen zur Energieeinsparung und sind den wirklichen Energieflüssen entsprechend miteinander verbunden.

Kraft- und Heizwerke sowie Veredelungsanlagen wandeln Primär- und Sekundärenergieträger um, das Verteilungsnetz befriedigt dann den Bedarf an Endenergie. In dem Modell werden 90 Energieträger unterschieden, die zu folgenden Gruppen zusammengefaßt sind: Steinkohle und deren Produkte, Braunkohle und deren Produkte, Kernbrennstoffe, sonstige feste Produkte, Gase, Öle und Ölprodukte, regenerative Energien, Wasserstoff, Strom, Wärme, Alkohol, Müll und Biomasse.

Um die benötigten Mengen an Primärenergieträgern zu berechnen, arbeitet das Modell bedarfsorientiert, berücksichtigt also die Nachfrage beispielsweise nach erforderlichen Personen- und Güterkilometern, Raum- und Prozeßwärme, Strom und Industriegütern.

Charakterisiert man Techniken, Massen- und Energieflüsse auch über ihre Kosten, so lassen sich gleichzeitig Kosten- und Emissionströme darstellen. Berücksichtigt werden alle klimarelevanten Emissionen, die während des Energieflusses von der Primär- bis zur End- beziehungsweise Nutzenergieseite in den jeweiligen Stufen anfallen. Zusätzlich sind auch vorgelagerte Klimagas-Freisetzungen beim Energieträgerimport erfaßt. Außer CO2 können Kohlenmonoxid (CO), Stickoxide (NOx), Schwefeldioxid (SO2), Methan (CH4), Distickoxid (N2O), nichtmethanhaltige Kohlenwasserstoffe, Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKWs) und stratosphärischer Wasserdampf bilanziert werden. Allerdings lassen sich lediglich CO2-Emissionen technikunabhängig und energieträgerspezifisch angeben. Eine entsprechende Energieträgerliste führt beispielsweise heizwertspezifische Faktoren oder Kohlenstoffgehalte auf; sie ist mit den Projektpartnern, mit Industrieverbänden und dem Umweltbundesamt abgestimmt. Investitionskosten sowie fixe und variable Betriebskosten werden über Kostenströme eingerechnet.

Das schließlich den gesamten Fluß beschreibende Gleichungssystem hat mehr als eine Lösung. Dies entspricht dem Spielraum, den eine Kombination aller verfügbaren Techniken zuläßt. Somit ist eine Minimierung der Kosten des Gesamtsystems bei gegebenen Randbedingungen für eine Klimagas-Reduktion durchführbar.


Beispielrechnung

Hätten sich 1989 mit den gegebenen Möglichkeiten schon CO2-Reduktionen erreichen lassen? Um diese Frage als Anwendungsbeispiel zu klären, wurden mit dem Modell vier Rechnungen durchgeführt (auf der Basis der Datensätze der alten Bundesländer für das Jahr 1989).

Die erste zeigt den Ist-Zustand entsprechend dem damaligen Energiebedarf, ohne Vorgaben bei den Emissionen, aber mit Beschränkungen zur Regulation des Energiemarktes, darunter eine Mengenbegrenzung für den Import von Steinkohle sowie Vorgaben für den minimalen Einsatz deutscher Steinkohle und den maximalen für Erdgas in der Stromwirtschaft (Bild 2 a).

Lockert man die energiepolitischen Restriktionen ein wenig und läßt mehr Erdgas in Kraftwerken zu (allerdings mit einer Mengenbegrenzung auf die Im-porte), halbiert zudem den Mindesteinsatz deutscher Steinkohle für die Verstromung und erlaubt knapp 25 Prozent mehr Kernenergie (weil Kernenergie- mit Braunkohlestrom konkurriert, wurde aber gefordert, daß mindestens die Hälfte der Braunkohlegewinnung erhalten bleibt), entwickelt sich die Verteilung in Bild 2 b. In den zwei weiteren Rechenläufen wurden diese Restriktionen beibehalten, jedoch zusätzlich eine Verringerung der Emissionen gefordert (bei c um fünf, bei d um zehn Prozent).

Der Primärenergieverbrauch bleibt dabei fast gleich; allerdings veränderten sich die jeweiligen Anteile der Energieträger. So ersetzt offensichtlich Erdgas Kohle im zweiten Rechenbeispiel. Bei Einführung von CO2-Restriktionen werden dann Gas und Kernenergie geringfügig erhöht. Das gilt zunächst (Bild 2 c) auch für die Steinkohle, dafür wird aber die Braunkohle als Energieträger mit dem höchsten Emissionsfaktor zurückgedrängt. Schließlich weicht auch Steinkohle weiter zurück, während der Anteil der Kernenergie wächst.

Die dabei resultierenden Emissionen nach Bereichen aufgeteilt zeigen (Bild 3 links), daß schon eine Lockerung energiepolitischer Vorgaben niedrigere Werte zur Folge hat, obgleich für den CO2-Ausstoß keine Restriktionen vorgegeben waren. Eine detailliertere Betrachtung findet die Ursache dafür im Umwandlungsbereich (Bild 3 rechts), zum einen infolge veränderter Kraftwerksauslastung (b), zum anderen durch Kapazitätserhöhung der Kernkraftwerke (d).

Die Gesamtkosten, die in den verschiedenen Bereichen und für die unterschiedlichen Energieträger anfallen, liegen bei der ersten Variante (Lockerung der Energiepolitik) sogar leicht unter der des Basisfalls und steigen mit zusätzlichen Restriktionen auf dessen Niveau an. Dagegen wachsen die Mehrkosten, die erforderlich sind, um die letzte Tonne CO2 bezogen auf die gesetzte Marge zu reduzieren (der sogenannte Schattenpreis) – und zwar um so deutlicher, je stärker reduziert werden soll.

Eine zehnprozentige Verringerung der Emissionen wäre nach diesem Beispiel allein durch Änderungen im Umwandlungsbereich, allerdings mit höheren Kosten, erreichbar. Auf eine solche einmalige Optimierung allein dürften sich aber keine politischen Entscheidungen stützen. Vielmehr müßte sich eine detaillierte Analyse anschließen, die neue Randbedingungen für einen weiteren Rechenlauf ergäbe. Am Ende eines solchen iterativen Vorgehens könnte man ein integriertes Energiekonzept formulieren, das sich im volkswirtschaftlichen Gesamtzusammenhang überprüfen ließe.


Makroökonomische Einbettung

Denn eine Modellierung von energiewirtschaftlichen Zusammenhängen muß auch die volkswirtschaftliche Entwicklung einbeziehen. Dazu werden im Rahmen des IKARUS-Instrumentariums für jeden der zu betrachtenden Zeitpunkte 1989, 2005 und 2020 Bedarfsinformationen, Importenergiepreise und andere volkswirtschaftliche Eckdaten ermittelt. Für diese makroökonomische Einbettung (die Makroökomomie versucht, gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge aus dem Miteinander großer wirtschaftlicher Einheiten zu erklären) hat die Arbeitsgemeinschaft Energie- und Systemplanung der Universität Oldenburg gemeinsam mit der KFA ein entsprechendes Informationssystem entwickelt. Es simuliert die Wirtschaftsentwicklung und generiert dabei Nachfragevektoren, die für das Energiemodell in Bedarfsanforderungen umgerechnet werden (beide Modelle sind zur besseren Handhabbarkeit und Überschaubarkeit nicht direkt gekoppelt).

Die Rechnungen benötigen dafür ein Referenzszenario, das sich bei IKARUS an die gesamtdeutsche Energieprognose des Schweizer Marktforschungsunternehmens Prognos für das Jahr 1991 anlehnt; ein Nutzer kann aber auch eigene Wirtschaftsszenarien eingeben.

Ein Input-Output-Modell bildet die wohl zu erwartende Wirtschaftsentwicklung in den energierelevanten Sektoren unter Status-quo-Bedingungen wie alternativen CO2-Strategien ab, kann aber auch andere Überlegungen miteinbeziehen, etwa um internationale Zusammenhänge zu betrachten.

IKARUS wurde Ende 1994 größtenteils abgeschlossen; derzeit wird unter anderem eine PC-Version des Instrumentariums realisiert. Bis 1998 soll die Datenbasis im Zwei-Jahre-Turnus aktualisiert und eine Nutzerschulung für interessierte Anwender durchgeführt werden.

Das Projekt hat seine richtungsgebende Funktion für die Energie- und Treibhausgas-Diskussion in weiten Bereichen erfüllt: So wurden spezifische Emissionsfaktoren abgeglichen, Anregungen für die künftige Gestaltung von Energiestatistiken gegeben und dabei mögliche Inkonsistenzen aufgezeigt. In vielen Diskussionen ist deutlich geworden, daß IKARUS auch für andere Nationen im Rahmen der Treibhausgas-Diskussion Vorbild bei der Analyse komplexer Zusammenhänge von Ökologie, Energie und Ökonomie geworden ist.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1995, Seite 108
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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