Direkt zum Inhalt

Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst.Wissenschaft und Menschenbild.

Rowohlt. Reinbek 1998. 319 Seiten, DM 39,80.

Alfred Gierer, Physiker und langjähriger Direktor am Tübinger Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie, verknüpft in seinem neuen Buch naturwissenschaftliche Darstellungen mit einer erkenntnistheoretischen Idee und einer Konzeption von Ethik zu einer umfassenden Naturphilosophie.

Die naturwissenschaftlichen Teile des Buches handeln unter anderem von Quantenmechanik, Molekularbiologie, Evolutionstheorie, Paläoanthropologie und Hirnforschung. Sie sind sehr solide gearbeitet und unterscheiden sich damit wohltuend von mancher populärwissenschaftlichen Publikation.

Mit gutem Grund hält Gierer am Realitätsbezug und an der kulturübergreifenden Geltung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse fest. Aber er vertritt eine finitistische Erkenntnistheorie: Es gibt prinzipielle (und nicht nur pragmatische) Grenzen der Erkenntnis, aufzuweisen in den Paradoxien der Logik, den Grenzen mathematischer Entscheidbarkeit, der Unbestimmtheit der Quantenmechanik sowie der Gehirn-Geist-Problematik. Zudem setzt die Endlichkeit der Welt solche Grenzen, wie Gierer an dem Gedankenexperiment eines „innerkosmischen Supercomputers“ darlegt.

All diese Grenzen hängen mit der Selbstbezüglichkeit der untersuchten Phänomene zusammen; sie begründen ihrerseits Grenzen der Erkenntnis auf einer höheren, metatheoretischen Ebene: „In allen … Zusammenhängen, die mit Selbstbezug verbunden sind, führt wissenschaftliches Erkennen von Grenzen der Erkenntnis zu Deutungsfragen, die sich nicht mehr wissenschaftlich eindeutig entscheiden lassen.“ Auf der metatheoretischen Ebene ist daher für Gierer ein skeptischer Agnostizismus ebenso vertretbar wie eine religiöse Deutung.

In diesem Zusammenhang setzt er sich mit der sogenannten anthropischen These auseinander. Ausgangspunkt ist die Erkenntnis, daß es uns nicht geben könnte, wenn einige fundamentale Naturkonstanten auch nur sehr geringfügig abweichende Werte hätten: „Die Kohlenstoffchemie, auf der alles Leben beruht, würde in dieser Form nicht existieren, wären die Naturkonstanten anders beschaffen.“ Ist unsere eigene Existenz also ein äußerst unwahrscheinlicher Zufall? Die anthropische These läßt sich in einer schwachen und einer starken Variante vertreten. Die schwache Variante ist nahezu tautologisch und besagt, daß das Universum so beschaffen ist, daß dessen zweifellos existierende Beobachter möglich sind. Dies ist auf der metatheoretischen Ebene mit einem Agnostizismus vereinbar, der die Werte der Naturkonstanten als zufallsbestimmt betrachtet. Die starke Variante läuft auf eine „Design“-Sicht des Universums hinaus, die Vorstellungen von einem Schöpfergott nahesteht. Diese Deutung hält Gierer persönlich für die „erkenntnistheoretisch stimmigste“. Denn für die Zufallsthese müsse man ebenfalls anspruchsvolle Voraussetzungen akzeptieren, zum Beispiel die Existenz vieler Universen. Unter Gierers Prämissen ist eine definitive Entscheidung natürlich ausgeschlossen, aber eine „Aufgeschlossenheit gegenüber transzendenten Weltdeutungen“ mit wissenschaftlicher Rationalität vereinbar. Gierer bringt diese elaborierte Position auf die zugespitzte Kurzformel: „Immanenz ist gut, Transzendenz ist besser.“ An diesem Punkt könnte ein Gespräch zwischen Wissenschaft und Theologie einsetzen, das mehr wäre als nur ein Austausch von Höflichkeiten.

In dem Buchteil zur Ethik beginnt Gierer mit einer evolutionsbiologischen Erklärung von Altruismus und Empathie. Diese Zugangsweise ist in der Soziobiologie üblich; Solidarität unter Verwandten, gegenseitige Vertrauensvorschüsse zwecks Kooperation zum beiderseitigen Nutzen und ein Interesse an „moralischer Reputation“ lassen sich auf diese Weise unschwer mit einem Selektionsvorteil erklären. Erklärungsbedürftig bleibt der „originäre“ Altruismus einer uneigennützigen Hilfe- und Beistandsleistung gegenüber Nichtverwandten.

Dazu entwickelt Gierer die These, Mitfreude und Mitleid (Empathie) seien ein „Nebenprodukt der Evolution strategischen Denkens“. Im Rahmen strategischer Handlungspläne ist es wichtig, eine rationale Erwartungscollage vom möglichen Verhalten eines Alter Ego anfertigen zu können. Hierzu muß man sich möglichst gut in die Situation des anderen hineinversetzen beziehungsweise einfühlen. Für Gierer kann diese Einfühlung in wirkliche Empathie umschlagen, aber sie muß es nicht. „Eine altruistische Wirkung wird dabei aber von der Evolution mitgeliefert: Fremdes Leid erzeugt bei uns selbst Unlust, die wir vermeiden können, indem wir es lindern.“ Wie und warum „die Evolution“ diese Wirkung „liefert“, wird nicht recht deutlich.

Empathie ist nicht zwangsläufige Folge strategischen Denkens. Sie hat Vor- und Nachteile: Als strategisches Kalkül erhöht sie die Fitness, während sie diese durch uneigennützige Handlungen zugleich verringert. Das erklärt, warum sie unterschiedlich ausgeprägt ist. Warum sich im Laufe der Evolution nicht die kühl-berechnende Seite durchgesetzt hat, bleibt erklärungsbedürftig. Gierer vermutet, daß beide Aspekte der Empathie nicht gerade zwangsläufig, aber doch eng verbunden sind. Wenn man darüber hinaus kulturelle Faktoren der Stabilisierung unterstellt, gelangt man zu einer Erklärung, weshalb Formen wirklicher Empathie evolutionär Bestand haben und sogar in Grenzen steigerungsfähig sind.

Diese Position transformiert Gierer in eine systematische Konzeption von Ethik, unter Berufung auf Philosophen, welche die Ethik stärker auf Annahmen über die Natur des Menschen gegründet haben als Immanuel Kant und andere Vertreter der rationalistischen Ethiktradition: Individuelle Glückseligkeit und Streben nach Lust (Epikur, 341 – 271 vor Christus), Solidarität unter Verwandten und Vertrauten, vertrauensbasierte Kooperation, begrenzte Orientierung an der knappen Ressource Gemeinsinn (der Araber Ibn Chaldun, 1332 – 1406) sowie Mitleid als zentrale Motivationsquelle der Moral (Arthur Schopenhauer (1788 – 1860) sind zentrale Komponenten die ser Konzeption. Hinzu treten ein Interesse an friedlicher Konfliktlösung und, unter Hinweis auf den Politikphilosophen John Rawls, ein Sinn für Fairness und distributive Gerechtigkeit. Das wirkt auf den ersten Blick recht eklektisch, gründet aber in den Kategorien der Evolutionären Ethik, einer biologisch ansetzenden Moraltheorie, die ihre Ursprünge in der Soziobiologie Edward O. Wilsons inzwischen weit hinter sich gelassen hat. Eine Begründung für die Menschenrechte, die diese Theorie nicht hergibt, entnimmt Gierer der „Theorie der Gerechtigkeit“ von Rawls.

Die Evolutionäre Ethik pflegt vor „moralischer Überforderung“ des Menschen zu warnen. Dem setzt Gierer entgegen, ein gewisses Ausmaß an moralischer Anforderung sei mit der „Natur des Menschen“ durchaus vereinbar. Demokratische, friedliche und humane Lebensverhältnisse, die sich „erwiesenermaßen“ verwirklichen und auch stabilisieren ließen, seien vielerorts möglich, nicht nur in entwickelten Industriegesellschaften.

Unter Gierers Prämissen ist die Ebene der Ethik gegenüber der biologischen Erklärung von Altruismus und Empathie eine Metaebene und seine eigene Konzeption daher nur eine von mehreren zulässigen Deutungen des Ethischen.

Wenn nun für die Erklärung der Welt wie für die Ethik die wissenschaftliche Erkenntnis keine Deutung auf der Metaebene erzwingt – nach welchen Kriterien wählt man sie dann? Vornehmlich nach pragmatischen, „intuitiv“, sagt Gierer und führt vortheoretische Begriffe wie Weisheit, Lebensgefühl, mentale Disposition und Lebenskunst an. Wir treffen die Wahl zwischen Weltdeutungen nicht aus der Perspektive von Beobachtern auf einer theoretischen Meta-Meta-Ebene, sondern aus einer lebenspraktisch interessierten Einstellung heraus. Es ist daher der „Sinn der Naturphilosophie …, zur Lebenskunst beizutragen. Diese Prämisse macht es leichter, sich zwischen verschiedenen logisch vertretbaren Denkmöglichkeiten zu entscheiden.“ Der Begriff Lebenskunst wiederum erschließt sich nur im Kontext der Ethik. Insofern vertritt Gierer ein Primat der praktischen Vernunft.

Der Weg über die wissenschaftliche Erkenntnis, deren Grenzen, die metatheoretische Mehrdeutigkeit der Welt und die Wahl zwischen Deutungen führt zu einem Punkt, an dem wir zurückgeworfen werden auf etwas, was uns selbst „ausmacht“ oder „angeht“. Insofern trägt das Buch seinen Titel zu Recht. Viele sollten es lesen.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 11 / 1999, Seite 117
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

Schreiben Sie uns!

Beitrag schreiben

Wir freuen uns über Ihre Beiträge zu unseren Artikeln und wünschen Ihnen viel Spaß beim Gedankenaustausch auf unseren Seiten! Bitte beachten Sie dabei unsere Kommentarrichtlinien.

Tragen Sie bitte nur Relevantes zum Thema des jeweiligen Artikels vor, und wahren Sie einen respektvollen Umgangston. Die Redaktion behält sich vor, Zuschriften nicht zu veröffentlichen und Ihre Kommentare redaktionell zu bearbeiten. Die Zuschriften können daher leider nicht immer sofort veröffentlicht werden. Bitte geben Sie einen Namen an und Ihren Zuschriften stets eine aussagekräftige Überschrift, damit bei Onlinediskussionen andere Teilnehmende sich leichter auf Ihre Beiträge beziehen können. Ausgewählte Zuschriften können ohne separate Rücksprache auch in unseren gedruckten und digitalen Magazinen veröffentlicht werden. Vielen Dank!

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.