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In den Palästen der Erinnerung. Wie die Welt im Kopf entsteht


Titel und Untertitel des Buches sind gleichermaßen irreführend: Es wird weder erklärt, wie die „Paläste der Erinnerung“ gebaut werden, das heißt, wie das Gedächtnis funktioniert, noch wie unsere Erlebnis- und Erinnerungswelt – die „Welt im Kopf“ – entsteht. Das hätte George Johnson, Wissenschaftsredakteur der „New York Times“, auch gar nicht leisten können, denn beides ist nach wie vor unbekannt. Dennoch hat der Leser keinen Grund zur Enttäuschung, denn immerhin wird er in unterhaltsamer und informativer Weise über die vielfältigen und weltweit mit großem Aufwand betriebenen Bemühungen unterrichtet, diese Rätsel zu lösen.

Johnson liefert ein lebendiges und zugleich realistisches Bild der gegenwärtigen Neurowissenschaften, soweit diese sich mit den zellulären und molekularen Mechanismen des Gedächtnisses, der mathematisch-theoretischen Modellierung kognitiver Prozesse und dem Gehirn-Geist-Problem beschäftigen. Er tut dies anhand dreier Leitfiguren: des Neurobiologen Gary Lynch, des Physikers und Netzwerktheoretikers Leon Cooper und der Neuro-Philosophin Patricia Smith Churchland. Johnson hat alle drei über mehrere Jahre bei ihrer Arbeit mit gelegentlichen Interviews begleitet, auch bevor sie berühmt wurden; und der Reiz dieses Buches liegt sicherlich zum Teil darin, daß der Leser (sofern er nicht über Insider-Kenntnisse verfügt) gespannt auf den endgültigen Erfolg seiner Helden wartet. Um die drei Leitfiguren herum wird dann von einem Gutteil der auf dem jeweiligen Gebiet tätigen Wissenschaftler berichtet.

Der erste Teil ist der längste und schildert den mehr als zwanzigjährigen Kampf Lynchs und seiner Kollegen um die Aufklärung der neuronalen Grundlagen des Gedächtnisses. Dabei vermittelt Johnson in meist anschaulicher und zugleich wissenschaftlich korrekter Weise viel Detailwissen über die mutmaßlich relevanten zellulären und molekularen Prozesse. Lynch selbst, lange Zeit Professor am Center for the Neurobiology of Learning an der Universität von Kalifornien in Irvine, seine Mitarbeiter, Mitstreiter und Konkurrenten werden mit ihren persönlichen Ambitionen, Hoffnungen und Zweifeln geschildert. Die Psychostruktur dieser eigenartigen Gesellschaft von Menschen in der Nähe eines Nobelpreises und des Weltruhms und das Nebeneinander von großem Erfolg und kläglichem Scheitern werden packend dargestellt, wenn auch manchmal aus der Schlüsselloch-Perspektive.

Einige Hauptpersonen dieses Dramas kommen dabei schlecht weg, so Lynchs renommierter Kollege und wissenschaftlicher Gegner Eric Kandel, und auch über den Helden selbst wird manch Allzumenschliches berichtet. Sehr gut ist der auftrumpfende Reduktionismus dieser Personen dargestellt: die Hoffnung, man könne das Gedächtnis auf der Ebene von Synapsen oder gar Ionenkanälen erklären. Der erste Teil des Buches endet melancholisch und zugleich realistisch-kritisch mit der Erkenntnis, daß bis heute nicht einmal bekannt ist, ob Mechanismen wie Langzeitpotenzierung oder spezielle Moleküle, die sogenannten NMDA-Rezeptoren, spezifisch etwas mit Gedächtnis zu tun haben.

Der zweite, kürzere Teil behandelt gar nicht die Frage nach den Mechanismen des Gedächtnisses, sondern die – ebenso interessante und aktuelle – Theorie der neuronalen Netzwerke, ihre Bedeutung und ihr Verhältnis zur klassischen Künstliche-Intelligenz-Forschung. Sehr lebendig schildert Johnson die Urgeschichte der Netzwerktheorie in den dreißiger und vierziger Jahren, in der Alan Turing, Warren McCulloch und Walter Pitts die Hauptrollen spielten, das Perceptron-Modell Frank Rosenblatts von 1958, dem Marvin Minsky und Seymour Papert 1969 den Todesstoß versetzten, und die plötzliche, ungestüme und bis heute anhaltende Wiederbelebung der Netzwerktheorie nach langer Durststrecke durch Theoretiker wie John Hopfield, Teuvo Kohonen, David Rumelhart und James McClelland (vergleiche „Kollektives Rechnen mit neuronenähnlichen Schaltkreisen“ von John Hopfield und „Wie neuronale Netze aus Erfahrung lernen“ von Geoffrey Hinton, Spektrum der Wissenschaft, Februar 1988, Seite 46, beziehungsweise November 1992, Seite 134). Leon Cooper, der 1972 zusammen mit Robert Schrieffer und John Bardeen den Physik-Nobelpreis für seine Arbeiten auf dem Gebiet der Supraleitung erhielt und erst danach zu einem führenden Theoretiker der Nervennetzwerke wurde, fungiert hierbei – ebenso wie zuvor Lynch – eher als Mittelpunkt für immer weiter ausgreifende Kreise der Darstellung denn als Zentralfigur.

Die schwierige Theorie neuronaler Netzwerke stellt Johnson souverän dar, ebenso ihr ambivalentes bis ignorantes Verhältnis zu den tatsächlichen Geschehnissen im Gehirn und ihre bisher begrenzte Leistungsfähigkeit. Anschaulich behandelt er den Unterschied zwischen dem Symbolverarbeitungsansatz der Gruppe um Jerry Fodor und der Theorie assoziativer (subsymbolisch-verteilt arbeitender) neuronaler Netzwerke. Auch hier muß das Ende offen bleiben, denn inwieweit sich auf der Basis der Netzwerkmodellierung die kühnen Träume einer wirklichen „künstlichen Intelligenz“ einerseits und einer angemessenen Modellierung natürlicher Netzwerke im menschlichen und tierischen Gehirn andererseits erfüllen, ist bis heute unentschieden.

Der dritte und kürzeste Teil ist zugleich der schwächste. Die an der Universität von Kalifornien in La Jolla tä-tige Neuro-Philosophin Patricia Smith Churchland wird vorgestellt in ihrem Bemühen, Philosophie und Neurobiologie zu einer naturwissenschaftlich konzipierten „Philosophie des Geistes“ zusammenzufassen (Spektrum der Wissenschaft, März 1990, Seite 47). Leider geht Johnson diesmal zu wenig auf den geisteswissenschaftlichen Hintergrund und das Besondere dieses Ansatzes ein.

Patricia Churchland vertritt einen eliminativen Materialismus, der Begriffe wie Geist und Bewußtsein als ein neurobiologisches Phlogiston aus der Gehirn- und Erkenntnistheorie zu verbannen sucht, während andere Theoretiker und Experimentatoren mit vereinten Kräften zur Zeit gerade die funktionale Notwendigkeit von Geist und Bewußtsein bei kognitiven Prozessen nachzuweisen versuchen. Dies zu schildern wäre sehr spannend gewesen und hätte die Fähigkeit des Autors zur lebendigen Darstellung komplizierter Zusammenhänge nicht überbeansprucht, wie sich punktuell bei seinen Ausführungen zu den Philosophen Immanuel Kant oder Willard van Orman Quine zeigt. Es scheint, als habe ihn nach 330 Seiten die Lust am Weiterschreiben verlassen.

Was das Buch über Gedächtnisforschung, neuronale Netzwerke und Philosophie des Geistes hinaus am Beispiel der Neurowissenschaften (im weiten Sinne) eigentlich zeigen will, ist die Tatsache, daß Wissenschaft kein von Geistesriesen sorgfältig geplantes und vom Schicksal geleitetes Tun ist, das sich Stück für Stück zum großen Gebäude der Wahrheit zusammenfügt. Anstelle dieser Fiktion schildert der Autor das ernüchternde und zum Teil abstoßende Bild der alltäglichen Wissenschaft, wie zum Teil sehr intelligente Menschen mit ihren Vorzügen und Schwächen sie praktizieren. Wissenschaft ähnelt darin den Olympischen Spielen, bei denen viele sich mit mehr oder weniger lauteren Mitteln um den Preis schlagen und der Zufall ebenso entscheidet wie das persönliche Können.

Wo so viel Sachwissen in virtuoser Weise verständlich gemacht wird, da muß unvermeidlich einiges wenige danebengehen, und zwar sowohl beim Autor wie bei der (ansonsten vorzüglichen) Übersetzung. Das kann aber an dem sehr positiven Gesamteindruck des Buches nichts mindern. Ein besonders schöner Mißgriff soll jedoch nicht verschwiegen werden. Im Zusammenhang mit der Leistungsfähigkeit früher Modelle neuronaler Netzwerke von McCulloch und Pitts heißt es: „Das war nichts Geringeres als die Fähigkeit zur Abstraktion. a-Moll ist a-Moll, ganz gleich, ob es in der Tonart C oder G gespielt wird.“


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1993, Seite 127
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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