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Inspektion von Abwasserkanälen mit einem mobilen Roboter


Das deutsche Abwasserkanalsystem mit seiner Gesamtlänge von etwa einer Million Kilometern bilden derzeit Rohre aus sehr unterschiedlichen Materialien: Beton, Steinzeug, Mauerwerk, Asbestzement, Kunststoff und anderen. Die ersten Kanäle wurden schon in der Mitte des letzten Jahrhunderts angelegt. Einer Untersuchung der Abwassertechnischen Vereinigung von 1990 zufolge sind bis zu 25 Prozent davon inzwischen schadhaft.

Vermutlich versickern deshalb jährlich etwa 300 bis 500 Millionen Kubikmeter an ungeklärtem Abwasser. Andererseits dringt Grundwasser in tieferliegende undichte Kanäle ein, spült in ihrer Umgebung Hohlräume aus und läßt Rohre einstürzen. Die Kosten der allein schon aus ökologischen Gründen unerläßlichen Sanierung werden auf rund 100 Milliarden Mark geschätzt.

Weil in den alten Bundesländern 73 und in den neuen 64 Prozent des Trinkwassers aus dem Grundwasser gewonnen werden, verlangen mittlerweile auch Gesetze und Verordnungen den gefahrlosen Betrieb von Abwasseranlagen. So müssen deren Betreiber in Baden-Württemberg seit 1989 die Dichtigkeit durch regelmäßige Kontrollen nachweisen.

Dafür reicht die bisherige Methode der Video-Inspektion mittels fahrbarer Kameraträger auf Raupen oder Rädern nicht aus. Viele Schäden oder Defekte unter Schmutz und Wasser bleiben damit unentdeckt.

In einem Gemeinschaftsprojekt wurde deshalb ein multisensorieller Kanalroboter (KARO) entwickelt, der mit der gegenwärtig verfügbaren Steuer- und Sensortechnik unter der Kontrolle eines mobilen Leitstandes das unterirdische Terrain abfährt, untersucht und Schäden bewertet. Das Projekt wurde vom damaligen Bundesministerium für Forschung und Technologie gefördert.

Die Mechanik der schlanken zylindrischen Instrumentenkapsel und die Leitstandtechnik entwickelte überwiegend das Forschungszentrum Karlsruhe; das dortige Fraunhofer-Institut für Informations- und Datenverarbeitung (IITB) konzipierte und realisierte die Inspektionssensorik, die Steuerung und die Kommunikationseinrichtungen. Das Ettlinger Unternehmen IBP Pietzsch entwickelte das Kartographiemodul sowie den Schwenk-Neige-Kopf, sorgte für die Gesamtintegration der Komponenten und wird bei der Vermarktung für das System verantwortlich sein. Die Firma Brochier in Nürnberg war als großes Unternehmen im Bereich Kanalsanierung schon bei der Konzeption beteiligt und wird auch die Systemerprobung durchführen; die Projektkoordination liegt beim IITB.

Um das Gerät an die jeweiligen Erfordernisse anpassen zu können und es zudem entwicklungsfähig zu halten, ist es modular aufgebaut. Das betrifft sowohl die mechanischen und elektronischen Komponenten als auch die Steuer- und Auswert-Software. Es ist damit ein gutes Beispiel für eine mechatronische, also Mechanik und Elektronik als Gesamtsystem begreifende, Konzeption.


Die Antriebstechnik

In den teils Wasser führenden, teils mit Schlick überzogenen Rohren ist es nicht einfach, vorwärts zu kommen, zu manövrieren und den Kurs stabil zu halten. Um auch ansteigende und rutschige Rohre zu bewältigen, verfügt jedes der insgesamt vier Räder über einen eigenen stufenlosen elektrischen Antrieb mit Antischlupfregelung – sind die Antriebsmomente zu unterschiedlich, weil eines der Räder durchrutscht, werden die anderen angeglichen; damit läßt sich ein Abdriften vermeiden.

Fährt der Roboter zu weit aus der Horizontalen, so daß er kippen könnte, werden die Drehzahlen der Einzelräder automatisch ausgeregelt, um ihn wieder in eine waagrechte Lage zu steuern. Dazu überwacht ein Neigungssensor den Rollwinkel permanent während der Fahrt. Zudem ist das Fahrwerksgehäuse zwischen den Radachsen in gegeneinander verdrehbare Hälften geteilt; auch so lassen sich Verkippungen ausgleichen.

Bei seiner Fahrt führt der Roboter ein Schleppkabel mit sich, das über eine kraftgeregelte Seilwinde (Haspel) läuft (Bild 1). Auf diese Weise soll immer genug Zug sein, um den Roboter beim Vorwärtsfahren zu entlasten und in umgekehrter Richtung ein Überfahren des Verbindungskabels zu vermeiden. Die Mikroprozessoren der Antriebe von Rädern und Winde sowie der verschiedenen Sensoren kommunizieren über einen schnellen Aktor-Sensor-Bus miteinander. (Unter einem Bus versteht man in der Elektronik eine Datenleitung, auf die sich beliebige Prozessoren nach einem festgelegten Kommunikationsprotokoll aufschalten können.) Außer zur Stromversorgung dient das Kabel auch zur hochfrequenzmodulierten Datenübertragung zwischen Leitstand und Gerät.

Die Reichweite des Roboters soll 400 Meter betragen. Der Prototyp (Bild 2) ist für Kanalweiten von 20 bis 50 Zentimetern auslegt. In Computersimulationen zeigte sich, daß er im Durchmesser nicht größer als 16 Zentimeter sein darf, damit er auch typische Rohrschäden passieren kann, und nicht länger als 80 Zentimeter, so daß er sich durch beengte Kanalschächte von oben einführen läßt.

An verschiedene Kanaldurchmesser läßt sich der Roboter anpassen, indem man die Standardräder durch solche mit entsprechenden Radien ersetzt sowie Adapter zur Spurverbreiterung und eine zusätzliche Getriebestufe anbringt. In naher Zukunft soll ein zweiter Prototyp für größere Kanalrohre gebaut werden.


Modularer Aufbau der Sensorik

In normalen Videobildern geben Perspektive und Abschattungen allenfalls einen qualitativen räumlichen Eindruck. Der reicht aber beispielsweise nicht hin, um beim Einblick in einen Hausanschluß festzustellen, welchen genauen Durchmesser der Einlauf aufweist. Deshalb ist das Gerät mit einer neuentwickelten strukturierten Lichtquelle ausgestattet, die zentrische Ringe auf die vor dem Roboter liegende Kanalwand projiziert (Bild 3). Damit kann die Rohrgeometrie automatisch vermessen werden. Ist deren Gestalt in irgendeiner Form verändert und nicht mehr zylinderförmig, werden die Lichtkreise verzerrt, so daß sich aus dem schwarzweißen Videobild die entsprechenden Abmessungen der Anomalien berechnen lassen; zudem kann man aus dem jeweiligen Muster auf deren Art – Wurzeldurchbruch, einragende Anschlüsse, verschobene Muffen und anderes – schließen.

Zusätzlich ist der Kopf mit einer Farbkamera bestückt, die dem Operateur eine erste visuelle Inspektion ermöglicht; aus Platzgründen verlaufen die Strahlengänge von Lichtquelle und Kameras umgelenkt durch Prismen und Spiegel über ein gemeinsames Objektiv.

Um Muffen vollständig einzusehen, muß sich die Kamera seitlich schwenken und dann um 360 Grad drehen lassen, also um zwei Achsen beweglich sein. Um auch Hauskanalanschlüsse zu inspizieren, die entgegen der Fahrtrichtung einmünden, kann der Kopf gleichzeitig um 135 Grad zurückgeschwenkt werden.

Auch die Dynamik stellt hohe Anforderungen an die Mechanik: Einerseits soll der Roboter schnell von Geradeausfahrt auf Wandinspektion umschaltbar sein, sich aber dann gleichmäßig und langsam bewegen. Die maximale Geschwindigkeit in den beiden Achsen beträgt darum 40 Grad pro Sekunde, während sich Inspektionen mit nur einem halben Grad pro Sekunde durchführen lassen (Bild 2).

Weil Schäden unter Wasser oder unter Schmutzschichten optisch nicht zu erkennen sind, ist das Gerät mit drei Ultraschallsensoren bestückt. Zwei, die nach vorn messen, befinden sich zu beiden Seiten des Kopfes und sind auf Luft als schallübertragendes Medium ausgelegt, der senkrecht messende im Bauch auf Wasser.

Ebenfalls Teil der Grundausstattung ist ein Mikrowellen-Meßsystem am Heck, das kontinuierlich bis etwa zehn Zentimeter hinter die Rohrwand schaut und somit Hohlräume, Risse und sogenannte Versickerungszwiebeln (Aushöhlungen, in die Abwasser eingetreten ist) auffinden hilft. Die verschiedenen Anomalien lassen sich im Signalverlauf anhand von charakteristischen Peaks und deren Parametern unterscheiden. Wenn nötig, kann auch ein Radar-Modul mitgeführt werden, das mit gepulsten Mikrowellen bis zu zwei Meter in die Rohrumgebung hinein messen kann; dieser Sensor ist noch in der Entwicklung.

Ebenfalls optional ist ein Kartographie-Modul, das die Lage der Rohre in den drei Raumkoordinaten mit einer Genauigkeit von wenigen Millimetern vermessen und aufzeichnen soll. Dazu wird das Fahrzeug, weil Satelliten-Navigation unter Tage nicht möglich ist, mit einem zweiachsigen Kreiselsystem ausgerüstet.

Die beiden Kreisel sind so angeordnet, daß sie die Roboterbewegung um die Nick- und Gierachse messen. Außerdem greift das Modul auf die Daten der Fahrzeugelektronik zu, um den zurückgelegten Weg zu bestimmen.

Weil das Navigationssystem nur Relativkoordinaten ermitteln kann, muß ihm der Startpunkt einer Kanalbefahrung eingegeben werden. Dafür kann man Katasterpläne verwenden; es würde sich aber auch ein spezielles GPS-Gerät (Global Positioning System) im Leitstandfahrzeug eignen, das Positionen aus Satellitensignalen sehr präzise ermittelt.


Signalverarbeitung

Die verschiedenen Daten werden auf drei hierarchischen Ebenen ausgewertet. Schon die Verarbeitung jedes einzelnen Sensorsignals kann diesem einen Alarmzustand zuordnen.

Des weiteren werden Signale verschiedener Sensoren mit Fuzzy-Logic-Algorithmen verknüpft (diese erlauben die Klassifizierung der Werte nach unscharf formulierten Kriterien anstelle exakt angegebener Intervalle und Schwellenwerte; siehe auch Spektrum der Wissenschaft, März 1992, Seite 31, sowie März 1993, Seite 90). So lassen sich die Verbindungsmuffen zweier Rohrstücke von Rissen oder ein im Grundwasser verlaufendes Rohr von einer Feuchtigkeitszwiebel unterscheiden, indem man dreidimensionale Video- und Luftultraschalldaten kombiniert.

Auf der obersten Stufe der Auswertung fassen die Algorithmen schließlich die Einzelaussagen zusammen. Das Ergebnis einer solchen Klassifizierung könnte etwa lauten: Schadensort bei 12,30 Meter Entfernung vom Ausgangspunkt; Schadensart ist ein drei Millimeter breiter und vier Zentimeter langer Riß mit dahinter befindlicher Feuchtigkeitsblase.

Diese Informationen werden dem Bediener im Leitstand auf einem Bildschirm dargestellt (Bild 4), so daß er nicht nur anhand des Videobildes jederzeit in den Ablauf eingreifen kann. Andererseits verfügt der Leitstandrechner – ein Personal Computer – ebenso wie die Mikroprozessoren im Roboter selbst über genügend Kompetenz, um elementare Funktionen wie Rollen des Fahrzeugs um die Längsachse oder Kamerabewegungen entweder gänzlich selbständig oder nach Aktivierung durch den Bediener zu steuern.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1995, Seite 100
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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