Kernfusion: Interview: 'In hundert Jahren benötigt Europa 200 Fusionskraftwerke'
Warum die Verschmelzung von Atomkernen nicht längst die Kernspaltung abgelöst hat, fragte "Spektrum der Wissenschaft" den renommierten Fusionsforscher Karl Lackner.
Spektrum der Wissenschaft: Was ist das für ein Gefühl, an einer Sache zu forschen, die man selbst wohl nicht mehr in Betrieb sehen wird?
Prof. Dr. Karl Lackner: Nicht anders als bei den Entwicklern, deren Raketen Jahrzehnte später zum Mond geflogen sind: Die Forschung an sich ist spannend, dauernd tauchen neue Fragen auf – Fusionsforschung macht einfach Spaß.
Spektrum: Es heißt schon seit Jahrzehnten, dass es noch fünfzig Jahre dauern wird, bis der erste Fusionsreaktor in Betrieb geht. Warum haben sich die Wissenschaftler so verschätzt?
Lackner: Am Anfang, in den 1960er Jahren, waren die Beteiligten furchtbar naiv. Sie glaubten, das heiße Plasma ließe sich relativ leicht in Magnetfeldern einschließen und von den Wänden fern halten. Aber man wusste fast nichts darüber und konnte mit den damaligen Computern nur wenig berechnen.
Spektrum: Was ist eigentlich ein Plasma?
Lackner: Ein Plasma besteht weitgehend aus ionisierten Atomen oder Molekülen und deren freien Elektronen, die wie in einem Gas umherfliegen. Die Fusionsforschung beschäftigt sich mit ionisiertem Wasserstoff. Gelingt es, dieses Plasma so weit aufzuheizen, dass die Kerne einander nahe genug kommen, um zu verschmelzen, läuft der Prozess mehr oder weniger von allein ab wie in der Sonne. Weil die Teilchen elektrisch geladen sind, lassen sie sich durch Magnetfelder auf bestimmte Bahnen bringen. Aber die ersten Aufbauten waren so kompliziert, dass erst heutige Computer in der Lage wären, ihr Verhalten zu berechnen. Dementsprechend gab es viele Rückschläge. Doch seit einigen Jahren wächst der kritische Parameter, das Produkt aus Dichte des Plasmas, Temperatur und Einschlusszeit, der für das Zustandekommen der Zündung ausschlaggebend ist. Er wächst sogar steiler als die Leistungsfähigkeit von Computern, die uns alljährlich schnellere Rechner beschert.
Spektrum: Die ersten Kraftwerke, die Strom ins Netz liefern können, soll es nun in 35 Jahren geben. Was gibt Ihnen die Sicherheit, dass diese Schätzung stimmt?
Lackner: Wir kennen die Physik nun sehr gut und wissen ziemlich genau, was noch getan werden muss. Sowohl von der Seite der Materialien her als auch von den technischen Aufbauten. Drei, vier Jahre brauchen wir für das Design eines Reaktors, fünf bis acht Jahre zum Bau und etwa acht Jahre, um die nötigen Ergebnisse zu liefern. Bis zum Energie liefernden Reaktor brauchen wir noch zwei derartige Generationen, die Abschätzung von 35 Jahren kommt also hin. Aber der Zeitrahmen hängt stark von der Politik ab. Zur Erinnerung: Allein drei, vier Jahre gingen schon bei der Standortsuche und ähnlichen Fragen für den derzeit größten Forschungsreaktor Jet verloren (Joint European Torus, Red.), der uns seit 1983 viele wichtige Ergebnisse gebracht hat.
Spektrum: Bleiben wir bei der Technik. Was macht sie so kompliziert?
Lackner: Wir haben ein heißes Plasma aus den schweren Wasserstoffisotopen Deuterium und Tritium, das bei Temperaturen von einigen hundert Millionen Grad – zehnmal mehr als im Sonneninneren – von Magneten eingeschlossen ist. Und das bei Wänden, die nur einige hundert Grad aushalten. Von den vielen technischen Ansätzen hat sich nun einer durchgesetzt, ein Plasma in einem toroidalen Ring. Die heute favorisierten Reaktortypen, Tokamak und Stellarator, nutzen beide dieses Prinzip. Nur dass der Tokamak einen elektrischen Strom im Plasma benötigt und der Stellarator nicht. Dieser braucht dafür aber einen wesentlich komplizierteren Aufbau der Magneten, um das Plasma in Form zu halten. Der Tokamak ist am weitesten fortgeschritten, und die Planungen der nächsten Reaktorgeneration basieren darauf.
Spektrum: Wie würde die Energieversorgung mit Fusionskraftwerken aussehen?
Lackner: Fusionskraftwerke eignen sich ideal für die Grundlast, auch in einem Verbund mit dezentralen Anlagen. Die Abwärme könnte zum Beispiel zur Produktion von Wasserstoff oder zum Heizen verwendet werden. Wir rechnen in unseren Szenarien damit, dass Europa im Jahr 2100 etwa 200 Fusionskraftwerke benötigt, mit je ein bis eineinhalb Gigawatt elektrischer Leistung. Sie würden etwa zwanzig Prozent des Stromverbrauchs abdecken.
Spektrum: Würde denn die Fusionstechnik die Probleme der Kernspaltung in Bezug auf Radioaktivität und Endlagerung lösen oder nicht eher neue erzeugen?
Lackner: Die Kernspaltung hat das Problem mit langlebigen radioaktiven Isotopen. Bei uns werden die stählernen Wände durch den Aufprall der Neutronen radioaktiv. Ein Endlager brauchen wir aber nicht, denn schon mit den heutigen Materialien könnte man hundert Jahre nach dem Abschalten einen neuen Reaktor bauen, denn dann ist die Radioaktivität weit genug abgeklungen. Darüber hinaus entwickeln wir keramische Werkstoffe aus Siliziumkarbid, die noch höhere Temperaturen aushalten. Die klingen sogar innerhalb von Stunden ab.
Spektrum: Wie ist der Stand bei Iter, dem internationalen Forschungsprojekt, das als Vorstufe für ein Demonstrationskraftwerk dient?
Lackner: Wir haben Standortvorschläge von Kanada, Japan, Spanien und Frankreich. Die USA haben sich Ende Januar bereit erklärt, nach vier Jahren wieder der internationalen Partnerschaft beizutreten. Auch China bietet eine Beteiligung von etwa zehn Prozent an, und Südkorea denkt darüber nach. Wir gehen davon aus, dass die technischen Verhandlungen einschließlich der Standortfrage, der Kostenverteilung und der organisatorischen Fragen bis Ende dieses Jahres abgeschlossen sind. Dann sind die nationalen Parlamente gefragt. Der Bau wird etwa 4,5 Milliarden Euro kosten.
Spektrum: Wie viel Geld ist bereits in die Fusionsforschung geflossen?
Lackner: Seit 1974 waren es weltweit 28,3 Milliarden Dollar, rund 1,1 Milliarden pro Jahr. Ob das viel ist, hängt davon ab, womit Sie es vergleichen.
Spektrum: Der deutsche Bergbau wird jährlich mit immerhin 3,5 Milliarden Euro subventioniert.
Lackner: Auch wenn Sie es mit anderen Ausgaben vergleichen, ist es eher wenig. Etwas zynisch: Der US-Verteidigungshaushalt dient ja zum Teil auch der Sicherung der Energieversorgung Amerikas, und der verschlingt jährlich mehr als 400 Milliarden Dollar.
Spektrum: Wenn einst ein Fusionsreaktor stehen sollte, was wird sein Strom kosten?
Lackner: Es gibt dazu zwar Studien, aber die Ergebnisse sind nur bedingt aussagefähig, weil die Rahmenbedingungen mit den heutigen schlecht zu vergleichen sind. Mit Vorsicht betrachtet, kommen die Kosten bei Fusionsreaktoren auf sechs bis sieben Cent pro Kilowattstunde. Möglich wären auch vier Cent. Auch das scheint hoch, eine Kilowattstunde aus Erdgas kostet heute weniger als zwei Cent. Aber wenn man die Kosten für die Entfernung von Kohlendioxid aus dem Abgas oder die Endlagerung von Spaltungsabfällen mit berücksichtigt, dann sind wir konkurrenzfähig oder sogar günstiger.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2003, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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