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Irrfahrt zum Mittelwert

Statistische Abweichungen mitteln sich aus – aber nicht so, wie man meistens denkt.


Angenommen, ich werfe wiederholt eine faire Münze – also eine, bei der Kopf und Zahl mit jeweils gleicher Wahrscheinlichkeit nach oben zu liegen kommen – und zähle mit, wie oft Kopf und wie oft Zahl erscheint. Wenn ich dann irgendwann vielleicht hundertmal öfter Kopf als Zahl geworfen habe: Besteht dann bei weiteren Würfen die Tendenz, daß die Anzahl der "Zahl"-Würfe den Rückstand wieder aufholt? Manche Leute sind davon überzeugt und sprechen von einem "Gesetz der großen Zahl". Bei Würfen mit einer fairen Münze müßten nach diesem Gesetz Kopf und Zahl letztlich gleich oft erscheinen. Andere halten dagegen, daß Münzen kein Gedächtnis haben – die Wahrscheinlichkeit für Kopf oder Zahl bleibt stets 1/2, einerlei, was vorher geschehen ist – und schließen daraus, daß es eben keinerlei Tendenz für einen Ausgleich gebe.

Ähnliche Fragen tauchen auch in anderen Bereichen auf. Wenn es im Mittel alle vier Monate zu einem Flugzeugabsturz kommt und schon drei Monate lang nichts passiert ist, sollte man dann vorerst auf Flugreisen verzichten?

In all diesen Fällen lautet die Antwort "nein". Die Zufallsprozesse, die hier in Frage kommen, genauer gesagt, die üblichen mathematischen Modelle dieser Prozesse, haben in der Tat kein Gedächtnis.

Dennoch hängt viel davon ab, was genau unter "ausgleichen" oder "aufholen" zu verstehen ist. Viele Kopf-Würfe hintereinander machen es nicht wahrscheinlicher, daß später Zahl kommt. Trotzdem: Auch wenn hundertmal öfter Kopf als Zahl gefallen ist, die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die beiden Anzahlen zu irgendeinem Zeitpunkt gleich sein werden, ist gleich 1.

Das bedeutet normalerweise Sicherheit, und eine Wahrscheinlichkeit von 0 bedeutet Unmöglichkeit. Hier haben wir es allerdings mit unbegrenzt vielen Würfen und deshalb unendlich vielen denkbaren Wurfserien zu tun; und unter diesen Umständen ist das mit der Sicherheit nicht mehr ganz so sicher. Endlich viele unter unendlich vielen Möglichkeiten fallen für die Wahrscheinlichkeitsberechnung nicht ins Gewicht, trotzdem gibt es sie. Ein Ereignis, das durchaus vorkommen kann, hat unter Umständen die Wahrscheinlichkeit 0. Die Mathematiker nennen ein solches Ereignis "fast unmöglich" und ein Ereignis mit der Wahrscheinlichkeit 1 "fast sicher".

Es gibt also eine Tendenz zum Ausgleich in dem Sinne, daß in einer (unbegrenzt langen) Wurfserie fast sicher irgendwann Gleichstand auftritt. Aber in einem gewissen anderen Sinne gibt es eben keine Tendenz zum Ausgleich auf lange Sicht. Zum Beispiel besteht die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Gesamtzahl der Kopf-Würfe irgendwann um eine Million größer wird als die Gesamtzahl der Zahl-Würfe, ebenfalls 1.

Wie kann das sein? Schauen wir uns den Münzwurf näher an. Ich habe 20mal geworfen und folgendes Ergebnis erhalten: ZZZZKZKKKKKKZZZKZZZK, also elfmal Z und neunmal K. Gemäß dem Gesetz der großen Zahlen sollten die Häufigkeiten, mit denen die Ereignisse eintreten, sich auf lange Sicht deren Wahrscheinlichkeiten annähern. Die relativen Häufigkeiten betragen hier 11/20 =0,55 und 9/20=0,45 – ungefähr gleich 1/2, aber nicht genau. Vielleicht gefällt Ihnen diese Folge besser: KZKKZZKZ-ZKZKKZKZKKZZ, mit den Häufigkeiten 10/20=0,50 für Z und K. Nicht nur haben diesmal die Häufigkeiten genau die "richtigen" Werte, die Folge sieht auch irgendwie zufälliger aus. Ist sie aber nicht.

Die erste Folge macht einen etwas geordneteren Eindruck, weil sie im Gegensatz zur zweiten lange Teilfolgen gleicher Ereignisse enthält, wie ZZZZ und KKKKKK. Aber der Eindruck trügt: Zufallsfolgen zeigen oft Muster und auffällige Häufungen. Lassen Sie sich davon nicht ins Bockshorn jagen. (Es sei denn, es kommt eine sehr lange Serie der Form KKKKKKKKKKKKKKK...Dann wäre doch zu vermuten, daß die Münze auf beiden Seiten Kopf trägt.)

Angenommen, Sie werfen die Münze viermal hintereinander. Im Bild rechts sind die möglichen Ergebnisse zusammengefaßt. Der erste Wurf zeigt entweder Kopf oder Zahl, jeweils mit Wahrscheinlichkeit 1/2. Der nächste Wurf zeigt unabhängig vom ersten wieder Kopf oder Zahl, und so fort. Bei vier Würfen bekommen wir so einen "Baum", durch den 16 mögliche Wege führen. Nach der Wahrscheinlichkeitstheorie hat jeder Weg die Wahrscheinlichkeit 1/2×1/2×1/2×1/2=1/16. Das leuchtet ein, denn jeder der 16 Wege sollte gleich wahrscheinlich sein. Insbesondere hat ZZZZ die Wahrscheinlichkeit 1/16, ebenso wie KZKK, obgleich letztere viel zufälliger aussieht.

Bei 4 Münzwürfen erhält man im Mittel genau zweimal Kopf und zweimal Zahl. Richtig. Also ist zweimal Kopf und zweimal Zahl das wahrscheinlichste Ergebnis? Falsch. Es kommt nur sechsmal unter den 16 Würfen vor, das macht eine Wahrscheinlichkeit von 6/16=0,375. Es ist wahrscheinlicher (nämlich mit Wahrscheinlichkeit 1-0,375=0,625), nicht genau zweimal Kopf zu werfen. Bei längeren Folgen wird dieser Effekt noch ausgeprägter.

Ähnliche Untersuchungen zeigen, daß es kein Gesetz des Ausgleichs gibt: Die zukünftigen Wahrscheinlichkeiten der Ereignisse werden nicht davon beeinflußt, was in der Vergangenheit geschehen ist. Aber in einem gewissen, interessanten Sinne gibt es eben doch eine langfristige Tendenz zum Ausgleich. Man zeichne in einem Diagramm auf, um wieviel nach jedem Wurf die Anzahl der Kopf-Würfe über jener der Zahl-Würfe liegt. Die Kurve steigt also mit jedem Kopf-Wurf und sinkt mit jedem Zahl-Wurf, jeweils um eine Einheit. Derartige Diagramme aus aufeinanderfolgenden, zufallsbestimmten Schritten nennt man Irrfahrten (random walks).

Das Bild auf der nächsten Seite oben zeigt eine typische Irrfahrt aus 10000 Münzwürfen. Die lange Phase des Vorsprungs für "Kopf" ist ganz normal. Die Wahrscheinlichkeit, daß bei 10000 Würfen eine Seite höchstens 0,7 Prozent der Zeit (70 Würfe) vorn liegt und den ganzen Rest der Zeit die andere Seite, beträgt ungefähr 1 zu 10.

Allerdings ist die Wahrscheinlichkeit dafür, daß die Waage nie wieder ins Gleichgewicht kommt (also Kopf für alle Zeit vor Zahl liegt), gleich 0. Das folgt ebenfalls aus der Theorie der Irrfahrten. In diesem Sinne trifft das Gesetz des Ausgleichs zu. Wenn Kopf einen Vorsprung von 100 hat, können Sie mit Aussicht auf Erfolg darauf wetten, daß irgendwann Gleichstand eintritt. Aber Sie wetten besser nicht darauf, daß das innerhalb der nächsten 1000 Würfe geschehen wird.

Angenommen, Sie erhalten bei 100 Münzwürfen 55mal Kopf und 45mal Zahl – ein Ungleichgewicht von 10 zugunsten von Kopf. Die Theorie der Irrfahrten besagt, daß dieses Ungleichgewicht sich fast sicher (mit Wahrscheinlichkeit 1) ausgleichen wird, wenn man genügend oft wirft. Ist das nicht ein Gesetz des Ausgleichs? Na ja – nicht so, wie die meisten Leute denken. Man setze die Folge der 100 Würfe durch eine Million weiterer Würfe fort. Dann wird man in der Folge der 1000100 Würfe im Mittel (das heißt, im Durchschnitt sehr vieler Million-Würfe-Folgen) 500055mal Kopf und 500045mal Zahl finden. Das Ungleichgewicht der ersten hundert Würfe bleibt also erhalten. Allerdings: Die zu erwartende relative Häufigkeit von Kopf ist nicht mehr 55/100=0,55, sondern 500055/1000100=0,500005. Ungleichgewichte werden durch große Anzahlen nicht ausgeglichen, sondern bis zur Unkenntlichkeit verwässert.

Nehmen wir nun einen Würfel statt einer Münze und notieren, wie oft die Augenzahlen 1 bis 6 auftreten. Wir gehen wieder davon aus, daß der Würfel fair ist, also jede Augenzahl mit der gleichen Wahrscheinlichkeit 1/6 auftritt. Zu Anfang stehen alle sechs Zähler auf 0; aber sie zeigen bald verschiedene Werte an. Ein Gleichstand könnte frühestens nach sechs Würfen herrschen, wenn nämlich jede Zahl genau einmal gefallen ist. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß irgendwann noch einmal Gleichstand herrscht, einerlei wie lange ich werfe? Sie ist erstaunlich klein, wie ich gleich zeigen werde.

Dazu verallgemeinern wir das Konzept der Irrfahrt auf mehrere Dimensionen. Eine Irrfahrt in der Ebene findet im einfachsten Fall auf den Kreuzungspunkten eines unendlich ausgedehnten, quadratischen Gitters statt. Der Irrfahrer beginnt im Ursprung und wandert in jedem Schritt um ein Feld nach Norden, Süden, Osten oder Westen, jeweils mit Wahrscheinlichkeit 1/4 (Bild unten). In drei Dimensionen steigt man in einem unendlich ausgedehnten Klettergerüst herum und hat für jeden Schritt sechs Richtungen zur Auswahl: Nord, Süd, Ost, West, aufwärts und abwärts, jeweils mit Wahrscheinlichkeit 1/6.

Für ein zweidimensionales Gitter kann man zeigen, daß die Wahrscheinlichkeit, irgendwann zum Ursprung zurückzukehren, gleich 1 ist. Stanislaw M. Ulam (1909 bis 1984), besser bekant als einer der Erfinder der Wasserstoffbombe, hat dieselbe Wahrscheinlichkeit in drei Dimensionen zu 0,35 berechnet. Wenn Sie sich also in der Wüste verirren und ziellos umherlaufen, werden Sie irgendwann auf die Oase treffen. Wenn Sie sich aber im Weltraum verirren, sind Ihre Chancen, zufällig zur Erde zurückzufinden, nur ungefähr 1 zu 3.

Wir markieren nun die sechs Richtungen einer dreidimensionalen Irrfahrt mit den sechs Augenzahlen eines Würfels: Nord=1, Süd=2, Ost=3, West=4, aufwärts=5, abwärts=6. Dann werfen wir wiederholt einen Würfel und lassen einen Punkt sich so durch das dreidimensionale Gitter bewegen, wie der Würfel anzeigt. "Rückkehr zum Ursprung" bedeutet, daß man genauso oft 1 wie 2 gewürfelt hat, genauso oft 3 wie 4 und genauso oft 5 wie 6. Die Wahrscheinlichkeit dafür, daß das irgendwann eintritt, ist also ungefähr 0,35. Die Wahrscheinlichkeit für die stärkere Bedingung, daß alle 6 Zahlen gleich oft gewürfelt werden, ist noch kleiner.

David Kilbridge aus San Francisco gibt sie mit ungefähr 0,022 an. Für Würfel mit 2, 3, 4 oder 5 Seiten betragen die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten 1, 1, 0,222 und 0,066. Kilbridge sowie einige andere Leser haben mich auch darauf aufmerksam gemacht, daß Ulams Zahl, die ich dem Standardwerk von William Feller entnommen hatte, nicht ganz richtig ist. Der englische Mathematiker George N. Watson hat 1939 für diese Wahrscheinlichkeit folgenden Wert angegeben: 1-1/[3(18+12SQRT2-10SQRT3-7SQRT6) ×K(2SQRT3+SQRT6-2SQRT2-3)]2 . Dabei ist K(z) definiert als 2/PI mal das vollständige elliptische Integral erster Art zum Modul z2. Wollen Sie es noch genauer wissen? Der Zahlenwert ist ungefähr 0,340537329551.

Yuichi Tanaka, ein Redakteur der japanischen Ausgabe von Scientific American, hat mit dem Computer Irrfahrten auf einem vierdimensionalen Gitter durchprobiert, um einen Schätzwert für die Rückkehrwahrscheinlichkeit zum Ursprung zu ermitteln. Nach drei Tagen lieferte sein Programm den Näherungswert 0,193201673. Möchte vielleicht jemand das durch elliptische Integrale ausdrücken?

Selbst die einfachste eindimensionale Irrfahrt hat viele unvermutete Eigenschaften. Angenommen, Sie legen sich von vornherein auf eine bestimmte, große Anzahl von Würfen fest, sagen wir eine Million, und beobachten nach jedem Wurf, ob Kopf oder Zahl vorn liegt. Wie oft wird Kopf vorne liegen? In der Hälfte aller Würfe, sollte man meinen. Aber in Wirklichkeit ist das der am wenigsten wahrscheinliche Fall. Am wahrscheinlichsten sind die Extreme. Die beiden häufigsten Einzelfälle sind: "Kopf" führt die ganze Zeit, und "Kopf" führt nie


Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 1999, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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