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James Blond und das schöne Steuerweib

Wenn Sie unbegrenzten Kredit bei Ihrer Spielbank haben und jeweils bis zu einer Million im Spiel Craps setzen dürfen: Wie werden Sie am geschicktesten reich? Spielen Sie draufgängerisch, aber nicht habgierig. Setzen Sie immer die volle Million, aber geben Sie sich mit 36 Millionen zufrieden – wenn Sie bis dahin nicht ohnehin ruiniert sind.

Der hochgewachsene, wortkarge Engländer im blütenweißen Anzug schien sich plötzlich zu langweilen. Er sammelte seinen Gewinn vom Roulette-Tisch ein, warf dem Croupier lässig einen Tausend-Franc-Chip zu und begab sich zur Bar des Casino Incroyable.

"Monsieur?" fragte der Barkeeper.

"Wie immer."

"Oui, Monsieur."

"Drei Teile Gordon's, ein Teil Wodka und ein halbes -"

"Aber selbstverständlich, Monsieur", fiel ihm der Barkeeper müde ins Wort. "Geschüttelt, nicht gerührt. Wie könnte ich das vergessen?"

"Mit einer großen Scheibe Zitrone, so dünn, daß man durchsehen kann."

"Natürlich, Monsieur. Marie wird es Ihnen an den gewohnten Tisch auf dem Balkon bringen."

"Oh – nein, heute nicht." Aus dem Augenwinkel hatte der interessant gealterte Playboy eine schlanke Brünette erspäht, in der er eine weniger bedeutende Filmschauspielerin erkannte. Und ihr Begleiter – nun, ohne den angeklebten Schnauzbart und die blonde Perücke wäre er Le Zéro, dem mysteriösen internationalen Meisterspion, wie aus dem Gesicht geschnitten. "Servieren Sie mir meinen Drink heute" – er blickte den beiden unauffällig nach – "am Craps-Tisch." Er legte einen zerknitterten 50-Franc-Schein auf die Theke und setzte leise und behende seiner Beute nach.

Er ahnte nicht, daß dies eine der gefährlichsten Missionen seiner ganzen Karriere werden würde.

Am Craps-Tisch hielt die Brünette gerade die Würfel. Wie selbstverständlich ließ der Engländer sich in dem freien Sessel zwischen ihr und Le Zéro nieder. "Sie sehen aus, als ob Sie heute abend Glück haben werden", fing er an zu flirten und setzte einen Stapel Chips auf die "Line Area" des Tisches – wodurch er darauf spekulierte, daß sie gewinnen würde. "Entschuldigen Sie meine direkte Art, aber ich habe Sie in Ihrer ersten Rolle gesehen, Miss O'Hara. Sie sind auf dem besten Wege, ein Star zu werden."

"Meinen Sie?" erwiderte sie errötend. "Starlet O'Hara, ja, das bin ich. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"

"Mein Name ist Blond. James Blond."

Sie nahm die Würfel und warf zwei Einsen. "Doch nicht so viel Glück, wie Sie dachten", kommentierte sie bedauernd. Blond sah gelassen zu, wie die Bank seinen Einsatz kassierte. "Sie sind an der Reihe", sagte die Schöne.

Lässig schüttelte Blond die Würfel – ohne sie zu verrühren – und warf sie, so daß sie am anderen Ende des Tisches anschlugen und zurückprallten. Eine Sieben – das bedeutete sofortigen Gewinn. Er ließ seinen Einsatz und den Gewinn stehen und warf noch einmal. Zwei Sechsen. "Wie gewonnen, so zerronnen." Er gab die Würfel an seinen Nebenmann weiter, den er als Le Zéro erkannt hatte.

Er dachte an die gestrige Besprechung. Nach M's besten Informationen führte Le Zéro mehr als hundert Agenten von SMASH, einer international operierenden Untergrundorganisation, die sich auf politische Morde, Erpressung mit Kernwaffen, Drogenhandel und die Herstellung gefälschten Tomatenketchups spezialisiert hatte. Starlet O'Hara war offenbar nicht klar, in welch tödlicher Gefahr sie schwebte.

Zum Glück würde Le Zéro niemals Blonds Roué-Verkleidung durchschauen.

"Danke, Mr. Blond", sagte Le Zéro. "Man hat ja nicht oft das Vergnügen, mit einem Angehörigen des britischen Geheimdienstes Craps zu spielen."

Blond entschied sich für offenen Schlagabtausch. "Wie haben Sie mich erkannt, Le Zéro?"

"Es war sehr ungeschickt von Ihnen, gleich beim ersten Mal 007 zu werfen."

"Und es war sehr ungeschickt von Ihnen, einen Schnauzbart zu tragen, dem man auf den ersten Blick seine Herkunft aus Hutchinson's Theatrical Costumiers in der Londoner Worbold Street ansieht", konterte Blond.

Le Zéro grinste ihn hämisch an. Seine linke Hand steckte auf einmal in der Hosentasche, die charakteristisch ausgebeult war. "Im Gegensatz zu Ihnen, Mr. Blond, habe ich meine Waffe nicht im Hotel gelassen. Aber ich werde Ihr Leben sowie Ehre und Freiheit dieser charmanten Dame schonen, wenn Sie mir Ihr Können beim Craps unter Beweis stellen können."

Starlet O'Hara schnappte nach Luft. "Wie meinen Sie das? Meine Freiheit erhalten? Sie haben mir versprochen, mich in eine wirklich große Sache hineinzubringen."

Blond lachte sarkastisch. "Dummerweise haben Sie sich mit Le Zéro eingelassen, dem gefährlichsten Mann der Welt. Allerdings hat er Ihnen die Wahrheit gesagt: Der Harem des Potentaten von Jumbostan ist wirklich ungewöhnlich groß."

Die Brünette erbleichte. Le Zéro lächelte. "Wie scharfsinnig von Ihnen, Mr. Blond. Aber nun zu unserem Spiel! Ich habe mit dem Casino Incroyable einen zins- und gebührenfreien Kredit über zwei Millionen Francs für Sie ausgehandelt. Sie dürfen nur Pass-Line-Wetten eingehen, das heißt, auf meine Geschicklichkeit als Spieler setzen. Ich allein werde würfeln. Wenn es Ihnen gelingt, Ihr Kapital auf fünf Millionen Francs zu erhöhen, dann sind Sie und das Mädchen frei. Wenn Sie alles verlieren, dann werden Sie dem Casino zwei Millionen Francs schulden. Da Sie eine solche Summe nicht aufbringen können, werden Sie diese Nacht wohl nicht überleben – und Mademoiselle O'Hara ist per Luftfracht auf dem Weg nach Jumbostan."


Spielen Sie kühn!

Blond rief sich die Regeln von Bank Craps in Erinnerung, auch Las Vegas Craps genannt, der Casino-Version des amerikanischen Würfelspiels, bei dem alle Wetten gegen die Bank abgeschlossen werden, nicht unter den Spielern (Bild 1). Der "Shooter" – der würfelnde Spieler – kann sofort gewinnen, wenn er im ersten Wurf 7 oder 11 Augen erzielt. Er verliert sofort, wenn er 2, 3 oder 12 Augen wirft. Fällt eine der restlichen Zahlen 4, 5, 6, 8, 9 oder 10, dann wird diese Zahl der sogenannte Punkt des Shooters. Dieser muß nun weiterwürfeln, bis er entweder wieder seinen Punkt wirft, dann hat er gewonnen, oder eine Sieben, dann hat er verloren. Alle Spieler wetten gegen die Bank. Die gebräuchlichste Form ist die Pass-Line-Wette, bei der die Spieler darauf setzen, daß der Shooter gewinnt. Ausgezahlt wird eins zu eins: Jeder Franc Einsatz ergibt einen Franc Gewinn plus den Einsatz.

Blond stellte einige schnelle Berechnungen an. Er wußte, daß die Wahrscheinlichkeit dafür, daß der Shooter gewinnt, 244/495 beträgt. Also ist die Gewinnwahrscheinlichkeit bei einer Pass-Line-Wette ungefähr 0,493 – ein nicht allzu großer, aber deutlicher Vorteil für die Bank.

Mit unbewegter Miene setzte Blond einen Eine-Million-Francs-Chip ins Pass-Line-Feld. Starlet O'Hara sog scharf die Luft ein. "Aber das ist Ihr halbes Kapital!" Sie schluckte nervös. "Sie sind ein sehr kühner Spieler."

Blond beugte sich dicht zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: "Eigentlich nicht. Ein kühner Spieler setzt sein ganzes Kapital – oder so viel, wie zur Erreichung seines Ziels erforderlich ist. Ich hätte zwei Millionen Francs setzen sollen."

"Warum?"

"Weil die amerikanischen Mathematiker Lester Dubins und Leonard J. Savage 1965 bewiesen haben, daß man kühn spielen muß, wenn man seine Gewinnerwartung maximieren will und die Chancen, wie hier, gegen einen stehen. Im Prinzip wird nämlich die Chance, das Ziel zu erreichen, um so geringer, je länger sich das Spiel hinzieht. Furchtsames Spiel – also kleine Beträge zu setzen – verlängert die Zeit bis zum vollständigen Bankrott, macht ihn aber um so wahrscheinlicher."

"Oh. Aber warum haben Sie dann nur eine Million Francs gesetzt?"

"Weil das die Obergrenze ist. Einen größeren Einsatz würde die Bank nicht annehmen."

"Ach so."

"Das Äußerste, was ich tun kann, ist also, jedesmal das Haus-Limit zu setzen. Dann kann ich mit der Theorie vom Bankrott des Spielers meine Gewinnchancen ausrechnen."

"Klingt häßlich."

"Nehmen wir an, Sie setzen immer die gleiche Summe, nennen wir sie eine Einheit. Ausgezahlt wird eins zu eins. Nennen wir p die Wahrscheinlichkeit dafür, eine Wette zu gewinnen; dann verlieren wir sie mit der Wahrscheinlichkeit q=1-p. Man kann den Spielverlauf geeignet aufzeichnen: Ein Gewinn ist ein Schritt in die positive Richtung, ein Verlust in die negative. Aber in welche Richtung der nächste Schritt geht, hängt vom Zufall ab. Man nennt einen solchen Weg eine Irrfahrt oder auch random walk; die Theoretiker verwenden ihn gerne, um Diffusion oder die Brownsche Molekularbewegung angenähert zu beschreiben" (Bild 3).

Starlet O'Hara starrte Blond mit weit aufgerissenen Augen bewundernd an. Es ging zwar um sein Leben, aber eben auch um ihre Freiheit.

Blond fuhr fort: "Irgendwann stößt der random walk an die Barriere bei 0 an, das heißt, Sie sind bankrott, oder Sie erreichen Ihr Ziel – die Summe, die Sie kassieren wollen – und hören auf. Sie wissen ja: Das Wichtigste ist, aufzuhören, wenn es am schönsten ist..." – enttäuschter Blick von Starlet O'Hara – "... genauer gesagt, zum richtigen Zeitpunkt. Es handelt sich um einen random walk mit absorbierenden Grenzen. Nehmen wir nun an, Sie hätten ein Anfangskapital von s Einheiten und wollten am Ende insgesamt t Einheiten nach Hause nehmen. Dann beträgt die Wahrscheinlichkeit dafür, daß Sie Ihr Ziel erreichen, bevor Sie bankrott sind, nach einer Formel, die der Wahrscheinlichkeitstheoretiker William Feller von der Universität Princeton in den vierziger Jahren gefunden hat,

((Formel 1))

und ((Formel 2))

In unserem Falle ist meine Einheit eine Million Francs, mein Anfangskapital sind zwei Einheiten und mein Ziel fünf Einheiten. Also ist p=0,493, q=0,507, s=2 und t=5. Daraus ergibt sich

((Formel 3))

Ich habe also eine Gewinnchance von etwa 38 Prozent. Wenn ich statt dessen vorsichtiger spielen würde, vielleicht mit einer Einheit von 100000 Francs, dann wäre p=0,493, q=0,507, s=20 und t=50. Folglich hätten wir

((Formel 4))

und das ist viel ungünstiger. Und wenn ich immer nur 10000 Francs einsetzen würde, ergäbe sich eine klägliche Gewinnwahrscheinlichkeit von 0,000224. Sie sehen also, Mut zum Risiko kann sich wirklich auszahlen."

Die Schöne schmachtete ihn an. Eigentlich waren ihr Draufgängertypen zuwider, aber diesen eleganten Umgang mit Formeln fand sie ungeheuer erotisch. "Sie sind genial!"

Blond warf sich in die Brust. "Schon, aber eine 38-prozentige Chance ist nicht allzu gut. Ich brauche auch noch Glück." Er entspannte sich. "Zum Glück habe ich immer Glück." Scheinbar gedankenlos spielte er an seinem linken Manschettenknopf herum; nur einem sehr geschulten Auge wäre aufgefallen, daß er geringfügig größer war als der rechte.

Le Zéro warf eine Vier. Blond und das Mädchen sahen zu, wie er versuchte, seinen Punkt zu machen. Aber er warf vorher eine Sieben. Blond zuckte die Achseln und setzte die verbliebene Million auf die Pass-Line. Die Schöne klammerte sich voll Panik an seinen Arm, während Blond scheinbar ungerührt an seinem Manschettenknopf fummelte. Le Zéro warf eine Fünf und brauchte acht weitere Versuche, bis er wieder eine Fünf warf und damit seinen Punkt machte – ohne vorher eine Sieben zu werfen. Blond lächelte: Das Glück hatte sich ihm zugewandt. Er nahm die gewonnene Million an sich und ließ die andere stehen...

Eine Stunde später verließen Blond und seine neue Freundin Arm in Arm das Casino.

"Le Zéro war sehr verärgert", sagte sie. "Ich denke, wir sind noch nicht sicher vor ihm."

"Ach, ich würde mir da keine großen Sorgen machen", erwiderte Blond. Er hatte nach seinem Sieg dem berüchtigten Spion mit verächtlicher Geste zwei Millionen-Francs-Chips in die Jackentasche gesteckt. Niemandem war aufgefallen, daß die Büroklammer, die beide zusammenhielt, eine von Q präparierte ferngesteuerte Brandbombe war.

Blond blickte auf seine Armbanduhr, in die Q den Auslöser eingebaut hatte, gab vor, sie richtig einstellen zu wollen, und drehte an einem winzigen Knopf.

"Le Zéro wird grau vor Wut sein", sagte Starlet O'Hara.

"Aschgrau bestimmt", versicherte Blond. Hinter ihnen ertönten ein lauter Knall – und dann Schreie. "Ich denke, er qualmt", meinte Blond. "Wollen wir in meinem Zimmer eine Flasche Bollinger '57 genießen?"

Was ist ein unbegrenzter Kredit wert?

Nun, wie gesagt, Blond ahnte nicht, daß diese Mission die gefährlichste seiner ganzen Laufbahn werden würde. Bisher war alles einigermaßen nach Plan verlaufen. Q's miniaturisierte, als Manschettenknopf getarnte telekinetische Steuereinheit für Würfel hatte hervorragend funktioniert. Es hatte nie eine wirkliche Gefahr bestanden, außer vielleicht, als die Schauspielerin Blond einen etwas zu tiefen Blick in ihr Dekolleté gewährte und Blonds plötzlich feuchte Finger daraufhin beinahe einen Kurzschluß verursacht hätten. Nun aber, als seine Wachsamkeit nachließ, hatte dieser Abend noch einige unangenehme Überraschungen zu bieten.

Starlet O'Hara räkelte sich mit einem Glas Champagner auf dem riesigen Bett und kicherte in einem fort. Geschickt fesselte sie Blonds Aufmerksamkeit, indem sie langsam und genüßlich den seitlichen Reißverschluß ihres Kleides öffnete. Doch plötzlich zog sie mit der Geschwindigkeit einer Klapperschlange ein kleines, tödliches Ding aus dem Ausschnitt und richtete es auf ihn.

Blond erstarrte. Er erkannte die Waffe sofort. Es war ein Einkommensteuer-Formular.

"Ich hätte es wissen müssen, als Sie sich ohne Umstände bereit erklärten, auf mein Zimmer zu kommen. Sie sind eine Regierungsagentin."

"Richtig, Blond. Im Hauptberuf bin ich Inspektorin bei der Steuerfahndung. In Ausbildung..."

"Und nachts werden Sie zum weltweit gefürchteten Steuerweib! Das war alles eingefädelt."

"Nein, ursprünglich war ich hinter Le Zéro her. Er hatte eine private Taxifahrt in Birmingham als geschäftlich abgerechnet. Aber als er für Sie die Kreditlinie einrichten ließ, kam ich auf den Gedanken, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Hoppla, der Champagner steigt mir zu Kopf."

Blond protestierte. "Aber Spielgewinne sind doch steuerfrei."

"Schon. Aber Sie hatten freien Kredit. Das ist ein geldwerter Vorteil. Und der muß versteuert werden."

"Was?!"

"Der Fall Zarin. Im Jahre 1980 wurde David Zarin, einem Spielsüchtigen, von einem Spielcasino in Atlantic City ein theoretisch unbegrenzter Kredit eingeräumt. Am Ende war er der Spielbank drei Millionen Dollar schuldig. Nach den Gesetzen des Staates New Jersey konnte das Casino seinen Anspruch nicht gerichtlich durchsetzen, und die Parteien einigten sich außergerichtlich auf eine viel kleinere Summe. Dann aber forderte die Finanzbehörde Steuern auf die Restschuld, mit der Begründung, ein Schuldenerlaß komme einer Einnahme gleich."

Blond schüttelte den Kopf und wollte seinen Ohren nicht trauen. Selbst Miss Mannypunny wäre zu solch kalter Humorlosigkeit nicht fähig gewesen. "Aber ich habe Sie vor einem schlimmeren Schicksal als dem Tode bewahrt, nämlich vor dem Harem des Potentaten von Jumbostan!"

"Schon richtig, aber das mindert Ihre Steuerschuld nicht." Doch dann setzte sie ein verführerisches Lächeln auf. "Es sei denn, Sie wollen noch einmal spielen. Als der Fall Zarin vor Gericht kam, gab es großen Juristenstreit darüber, was drei Millionen Dollar Spielbankkredit wirklich wert seien. Die Finanzbehörde meinte, es seien drei Millionen. Zarins Rechtsanwalt hielt dagegen, der Kredit sei gar nichts wert, weil sein Klient ja alles verspielt und nie auch nur einen Pfennig Bargeld eingenommen habe. Merkwürdigerweise hat das Gericht nie ernsthaft zu klären versucht, wie hoch der wirkliche Wert von Zarins freiem Kredit anzusetzen sei."

"Wie auch. Rechtsanwälte sind ja keine Wahrscheinlichkeitstheoretiker."

"In der Tat. Hier also mein Vorschlag. Ich wette, daß Sie mir nicht sagen können, wieviel ein wirklich großer, zins- und gebührenfreier Kredit wert ist. Nicht nur zwei Millionen Francs, sondern eine Billion oder eine Trillion. Der Kredit ist zweckgebunden für Pass-Line-Wetten zu einer Million. Wenn Sie das herausbekommen, werde ich vergessen, daß Le Zéro Ihnen je einen Kredit gewähren ließ, und Ihnen dafür danken, daß Sie mich vor den Fängen des Potentaten von Jumbostan gerettet haben."

Blond hatte Kopfschmerzen bekommen, aber er achtete nicht darauf. Unter allen Eroberungen seines Lebens war dies zweifellos die schwerste. Glücklicherweise hatte er bei dem berühmten Statistik-Guru Martin Gale eine Fülle esoterischer Künste gelernt.

"Ich werde Ihnen einen Tip geben", bot Starlet O'Hara unvorsichtigerweise an. "Der Wert des Kredites ist der maximale zu erwartende Gewinn, den Sie herausholen können."

"Aha", freute sich Blond. Sie hatte ihm damit einen kleinen, aber entscheidenden Hinweis auf einen schwachen Punkt seines Opfers gegeben. Er machte sich daran, das Problem langsam einzukreisen. "Ich beginne mit s Einheiten und mache stets Wetten von einer Einheit, bis ich t Einheiten erreicht habe oder bankrott bin. Im ersten Falle beträgt mein Gewinn t-s Einheiten, im zweiten null. Also ist die erwartete Auszahlung

((Formel 5))

Ich denke, ich habe eine erste Spur."

Starlet O'Hara sah mit offenem Munde zu, wie Blond mit dem hartnäckigsten Gegner seiner Laufbahn kämpfte.

Instinktiv erspürte er einen Angriffspunkt, trotz der verwirrenden Fülle der Symbole, die auf ihn herabregneten. "Ich muß t so wählen, daß E(s, t) maximal wird. Und ich weiß nichts weiter, als daß ich praktisch unbegrenzten Kredit habe." Ach so – er konnte mit einer asymptotischen Approximation eine Bresche schlagen!

Mit einem geschickten Griff befreite er sich von lästigem Ballast: Er setzte an die Stelle des Quotienten q/p das Zeichen r und mußte sich nur merken, daß r größer als 1 war; denn nach wie vor standen die Chancen einer Pass-Line-Wette gegen ihn. "Angenommen, ich lasse t sehr groß werden und s auch, und zwar so, daß d=t-s fest bleibt. Dann ist

((Formel 6))

und das geht gegen r-d für t gegen unendlich. Also strebt E(s, t) gegen dr-d." Nun mußte Blond noch einen geeigneten Wert für d finden; der beste – der mit dem höchsten E – war ihm gerade gut genug. Ein schneller Griff zur Differentialrechnung, um die Ableitung dieser Funktion zum Verschwinden zu bringen... "Das wird maximal für d=1/(log r)."

Starlet O'Hara mußte widerwillig eingestehen, daß Blond erheblich weiter gekommen war, als sie vermutet hatte.

"Nun weiß ich, wie das Ziel zu setzen ist: Ich wähle t=s+d=s+1/(log r). Im Grenzwert großer Werte von s gilt dann

((Formel 7))

wobei e=2,71828... die Basis der natürlichen Logarithmen ist."

Jetzt lag ihm das Problem wehrlos zu Füßen. "Für Pass-Line-Wetten bei Craps gilt p=0,493 und r=0,507/0,493=1,028. Also ist log r=0,028 und d=1/log r =1/0,028=36. Die beste Strategie ist also, das Ziel um 36 Einheiten höher anzusetzen als das verfügbare Kapital. Und das ist nahezu unabhängig davon, ob dieses Kapital – sprich die Kreditlinie – 100 Millionen oder 100 Milliarden Francs beträgt", schloß Blond mit einem charmanten Lächeln.

"Ausgezeichnet", sagte das Steuerweib. "Sie überraschen mich, Mr. Blond. Aber mit wieviel Geld würden Sie aus der Sache herauskommen – im Mittel?"

"Das ist doch trivial. Sechsunddrei-" Seine Partnerin hatte einen Moment zu früh Triumph in ihren Gesichtszügen erkennen lassen. Fast hätte Blond seinen bisherigen Erfolg mit einem falschen Wort verspielt; aber gerade noch rechtzeitig besann er sich, daß er ein Ziel von 36 Einheiten zwar anstreben sollte, aber mit großer Wahrscheinlichkeit (nämlich 1-1/e) nicht erreichen würde. "Der erwartete Gewinn beträgt 1/(0,028 e)=13 Einheiten, also 13 Millionen Francs in diesem Fall."

"13006305 Francs, um genau zu sein", sagte Starlet O'Hara. "Aber über Peanuts will ich nicht streiten. In Zarins Fall betrug das Haus-Limit für eine Pass-Line-Wette beim Craps 15000 Dollar. Wäre er also Ihrer Strategie gefolgt, hätte er im Erwartungswert ungefähr 195000 Dollar gewonnen. Soviel war sein freier Kredit wirklich wert – es sei denn, es gäbe noch eine bessere Strategie. Vielleicht hätte er Black Jack spielen sollen. Da ist ein geübter Spieler sogar im Vorteil. Da er aber die drei Millionen Dollar verloren hat, ist nicht anzunehmen, daß er ein geübter Spieler war."

"Wie hat das Gericht im Fall Zarin entschieden?"

"Der Fall ging in die nächste Instanz. Und das Revisionsgericht entschied schließlich, daß er keine Steuern zu zahlen habe."

"Das heißt, Sie haben eine leere Drohung ausgestoßen?" rief Blond voller Zorn aus.

"Nicht unbedingt. Die Frage wurde nie einem britischen Gericht vorgelegt."

Blond blickte sie verlangend an. "Sie sagten, Sie würden mir nun dafür danken, daß ich Sie aus den Fängen des Potentaten von Jumbostan gerettet habe."

"Oh, gewiß, Mr. Blond." Starlet O'Hara leckte ihre Lippen und lächelte: "Vielen Dank dafür, daß Sie mich aus den Fängen des Potentaten von Jumbostan gerettet haben." Sie musterte nochmals anerkennend den attraktiven Körperbau des Geheimagenten; aber dann stellte sie ihr Champagnerglas ab, schob das Steuerformular wieder in ihr Kleid und zog den Reißverschluß zu.

"Das war alles?" fragte Blond.

"Sie sollten sich glücklich schätzen, ein Dankeschön von der Steuerfahndung bekommen zu haben", sagte sie. "Ich werde Sie jetzt verlassen, ehe wir etwas tun, was ich später bereuen würde." Sie schwieg einen Moment, und Blond betrachtete ihre schlanke, verführerische Gestalt im Flur. "Wie fühlen Sie sich am Ende unseres Abends, Mr. Blond?"

Blond schluckte kurz und heftig und nahm wieder seine tadellose Haltung an. "Erschüttert – nicht gerührt."

Literaturhinweise

- How to Gamble If You Must. Von Lester E. Dubins und Leonard J. Savage. McGraw-Hill, New York 1965.

– Random Walks and Ruin Problems. Kapitel XIV in: An Introduction to Probability Theory and Its Applications, Band I. Von William Feller. Wiley, New York 1968.

– What Is the Worth of Free Casino Credit? Von Michael Orkin und Richard Kakigi in: American Mathematical Monthly, Band 102, Heft 1, Seiten 3 bis 8, Januar 1995.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 8 / 1996, Seite 10
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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