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Katzenkorbknotenknobelei

Fäden um Finger zu legen ist ein Kinderspiel – aber es gibt keine gute mathematische Theorie dafür.


Es hat sehr lange gedauert, bis die Wissenschaftler dem Allerweltsgegenstand Knoten die gebührende Aufmerksamkeit widmeten. Erst in den zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts entstand als Zweig der Topologie, der Wissenschaft von den Lagebeziehungen ohne Rücksicht auf metrische Relationen, die Knotentheorie.

Im letzten Jahrzehnt gab es in dieser Disziplin dramatische Entwicklungen. Die bedeutendste war die Entdeckung dessen, was heute das Jones-Polynom genannt wird: Der neuseeländische Mathematiker Vaughan F. R. Jones hat einen algebraischen Ausdruck gefunden, der weitreichende Auskünfte über einen Knoten gibt (siehe seinen Artikel "Knotentheorie und Statistische Mechanik", Spektrum der Wissenschaft, Januar 1991, Seite 66). Zwei Knoten mit unterschiedlichen Jones-Polynomen sind topologisch verschieden, das heißt, sie lassen sich nicht stetig ineinander deformieren. Algebraische Ausdrücke mit dieser Eigenschaft, sogenannte Knoteninvarianten, hatte man schon früher gefunden, aber das Jones-Polynom war die erste aus einer neuen, weitaus leistungsfähigeren Klasse von Super-Invarianten. Die bekannteste unter ihnen wurde unabhängig und nahezu gleichzeitig von drei verschiedenen Arbeitsgruppen entdeckt; in dem Namen HOMFLY-Polynom stecken die Anfangsbuchstaben der Namen der Entdecker.

Aber selbst diese mächtigen Invarianten können uns nicht alles sagen, was wir über Knoten wissen wollen: Wenn zwei Knoten die gleiche Invariante haben, müssen sie immer noch nicht topologisch äquivalent – das heißt stetig ineinander deformierbar – sein. Mehr noch: Es gibt einige Fragen über sie, die – nach heutigem Verständnis – nicht einmal der Topologie zuzurechnen sind; darüber möchte ich diesen Monat schreiben.

In der Unterhaltungsmathematik gibt es immer wieder Knobelaufgaben, die der Aufgabensteller selbst nicht lösen kann. Ich will diesmal noch weiter gehen und Aufgaben beschreiben, bei denen die Mathematik zu ihrer Lösung erst noch erfunden werden muß. Es handelt sich um das Kinderspiel, das unter Namen wie "Katzenkorb" oder "Abnehmen" bekannt ist.

Viele Kinder spielen mit einer Fadenschlinge, die auf raffinierte Weise zwischen den Fingern beider Hände hin und her läuft. Aber die wenigsten Menschen haben eine Vorstellung davon, wie reichhaltig dieses Spiel ist. Eine vollständige Sequenz beim Abnehmen besteht aus acht verschiedenen Figuren; nach demselben Prinzip lassen sich unzählige weitere Figuren erzeugen. Die klassische Knotentheorie kann diese Reichhaltigkeit nicht erfassen, denn von ihrem Standpunkt aus sind alle Figuren im wesentlichen dasselbe: stetige Deformationen des trivialen Knotens, das heißt der unverknoteten Schlinge.

Man müßte eine nette kleine Algebra der Fingerfadenspiele erfinden: Formeln, die beschreiben, wie man von der langweiligen einfachen Schlinge zu immer interessanteren Formen gelangt, indem man diverse Standardzüge ausführt. Ein geeigneter Ansatz wäre die Theorie der Zöpfe, die der deutsche Mathematiker Emil Artin (1898 bis 1962) erarbeitet hat. Ein Zopf ist ein System von Schnüren (genauer: Kurven), die zunächst parallel zueinander verlaufend gedacht werden. Aus diesem trivialen Zopf macht man interessantere, indem man jeweils zwei benachbarte Schnüre unterwegs umeinander windet und dadurch ihre Positionen vertauscht – wie beim echten Zöpfeflechten. Artin entwickelte eine Zopfalgebra: Wenn zu zwei Zöpfen der gleiche algebraische Ausdruck gehört, sind sie äquivalent. Anders als bei den bisher bekannten Knoteninvarianten gilt hier auch die Umkehrung: Sind die beiden algebraischen Ausdrücke verschieden, dann sind auch die Zöpfe nicht äquivalent. Artins Ideen haben in gewissem Ausmaß Jones inspiriert.

Die Figuren beim Fingerfadenspiel ähneln in mehrfacher Hinsicht Zöpfen. An die Stelle des oberen und des unteren Zopfendes treten die Finger, um die sich die Schnüre herumwinden. Allerdings sind die erlaubten Züge reichhaltiger als in der Zopftheorie; so dürfen um ein und denselben Finger mehrere Schnüre laufen. Deswegen reicht die Zopfalgebra zur vollständigen Beschreibung nicht aus.

Eine Fingerfadenalgebra müßte demnach nicht nur erfassen, wie die Schnüre sich überkreuzen, sondern auch, wie sie sich um die Finger winden. Eine weitere Komplikation kommt hinzu: Gelegentlich muß im Verlauf der Zugfolge ein zweites Kind in die Figur hineingreifen und sie auf die eigenen Hände übernehmen, wobei sich die Figur in eine andere verwandelt.

Für Fingerfadenspiele nimmt man zweckmäßig ein Stück weiche, glatte Schnur, ungefähr einen Meter lang und zu einer Schlinge verknotet. Nennen wir die Spieler Angela und Bernd. Zuerst macht Angela einen Katzenkorb (oben im Bild).

Es gibt in der Folge der Figuren eine Grundbewegung, einen Standardzug, der in fast jedem Schritt vorkommt. Das ist im nächsten Zug der Fall. Wenn Bernd von oben auf Angelas Figur blickt, sieht er zwei Schnurkreuzungen. Diese nimmt er auf, jede mit einer Hand, und zieht sie auseinander. Dann zieht er die Schüre weiter nach außen weg, über die Außenkante der Figur nach unten, nach innen und dann durch das Loch in der Mitte wieder nach oben.

Bernd zieht nun seine Hände auseinander und spreizt Daumen und Zeigefinger. Angela läßt die Schnur von ihren Händen gleiten, und Bernd hat eine neue Figur auf seinen Fingern. Dieses Stadium heißt "Badewanne". Wenn Angela nun daran genau die gleichen Bewegungen ausführt, gelangt sie zu einer dritten Figur, dem "Wasserfall".

Der nächste Schritt erfordert eine andersartige Bewegung. Bernd zieht erst die eine, dann die andere innere Schnur mit dem kleinen Finger über den jeweils gegenüberliegenden Rand und taucht dann mit Daumen und Zeigefinger von unten in die Mitte. Diese letzte Bewegung ist ähnlich wie beim Standardzug, nur daß hier keine Kreuzungen gefaßt werden. Schließlich öffnet Bernd Daumen und Zeigefinger, hält aber mit den kleinen Fingern – sowie Mittel- und Ringfingern – die Schnur weiter fest. So entsteht die "Krippe". Mathematisch gesehen ist das exakt die gleiche Form wie der Katzenkorb, nur auf dem Kopf.

Für den nächsten Zug ist wieder die Grundbewegung auszuführen, allerdings auch umgekehrt: Man greift die Kreuzungen von unten statt von oben. Es ergibt sich die kopfstehende Badewanne, die traditionell "die Diamanten" genannt wird. Eine weitere Wiederholung der Grundbewegung, diesmal in der normalen Ausführung, bringt das "Katzenauge" hervor. Wenn man jetzt die Schnüre ein wenig anders aufnimmt und die Hände auseinanderzieht, ohne von unten in die Mitte zu tauchen, gelangt man zum "Fisch auf dem Teller".

Die letzte Form ist raffinierter. Bernd trennt die mittleren Schnüre mit den kleinen Fingern voneinander und greift dann die Kreuzungen wie gewohnt. Dann dreht er Daumen und Zeigefinger nach innen und oben und erhält so die achte Form, die aus mir unerfindlichen Gründen "Uhr" heißt.

Mit anderen Zügen erreicht man dieselben Figuren in anderer Reihenfolge. Zum Beispiel kommt man direkt vom Katzenkorb zum Wasserfall oder von der Badewanne zum Katzenauge. Ein guter Formalismus sollte all diese Variationen erklären können. Es müßte aus ihm auch hervorgehen, ob zwei bestimmte Züge miteinander kommutieren, das heißt zum selben Resultat führen, einerlei, in welcher Reihenfolge man sie ausführt. Schließlich müßte eine Theorie die Schnurfiguren vollständig beschreiben und nicht nur deren Topologie. Ein guter Anfang wäre eine Kurzschreibweise für die Lage der Fäden relativ zu den Fingern und für Standardbewegungen wie "nimm die Schleife von den rechten Hand mit dem Mittelfinger der linken Hand auf".

Wer eine Fingerfadenalgebra entwickeln will, fängt vielleicht am besten mit Figuren an, die ein Spieler alleine machen kann. Da gibt es auch allerhand Interessantes, zum Beispiel die Figur, die als "Indisches Diadem" oder "Stirnband" bekannt ist. Man beginnt ähnlich wie beim Katzenkorb, aber nicht ganz genau so (Bild auf der nächsten Seite). Spannen Sie die Standardschleife um Daumen und Kleinfinger beider Hände (1), nehmen Sie dann die Schnur, die vor der linken Handfläche verläuft, mit dem rechten Zeigefinger auf (2) und tun Sie dasselbe mit der jeweils anderen Hand (3). Lassen Sie dann die Schnur von den Daumen gleiten, indem Sie diese gegeneinander neigen und die Hände langsam auseinanderziehen. Drehen Sie Ihre Hände mit den Handflächen nach außen. Tauchen Sie mit den Daumen unter allen Schnüren durch, haken Sie sie unter die zwischen den kleinen Fingern verlaufende Schnur und drehen Sie die Hände dann wieder zurück, wobei Sie die Kleine-Finger-Schnur zu sich hin ziehen (4). Das ist einfacher, als es klingt. Probieren Sie es aus, und Sie werden sehen, daß die fragliche Schnur die naheliegendste für diese Bewegung ist – obgleich sie den Daumen am fernsten liegt.

Als nächstes schieben Sie die Daumen über die Schnur, die sich direkt davor befindet, dann unter die nächste, nehmen diese hinter dem jeweiligen Daumennagel mit (5) und gelangen so zu Stellung 6. Lassen Sie nun die Schlingen von den kleinen Fingern abgleiten, indem Sie diese vorsichtig krümmen und die Hände langsam auseinanderziehen. Das Ergebnis (7) sieht ziemlich verstrickt aus, aber von nun an wird es einfacher. Krümmen Sie Ihre kleinen Finger auf sich zu und schieben Sie sie über die erste Schnur, die sie treffen (die von den Zeigefingern kommt) und unter die nächste Schnur (die von den Daumen kommt). Strecken Sie dann die kleinen Finger wieder aus (8).

Nun befinden sich auf jedem Daumen zwei Schleifen; diese lassen Sie wie zuvor abgleiten. Nun sieht die Schnur viel einfacher aus (9), abgesehen von einer großen Verhedderung in der Mitte, aber auf die kommt es im Moment nicht an. Schieben Sie jeden Daumen über die zwei Schnüre, die um den Zeigefinger liegen, dann unter die nächstliegende Schnur vom kleinen Finger; strecken Sie die Daumen dann wieder. Für diese Bewegung müssen Sie die Hand möglicherweise ein bißchen einwärts drehen (10).

Der nächste Schritt ist ungewöhnlich. Fassen Sie mit Fingern der rechten Hand die Schnur am Punkt a und heben Sie sie über den linken Daumen. Achten Sie dabei darauf, daß Sie die Schnur oberhalb der Schnur fassen, die vom kleinen Finger kommt und die zu fassende Schnur kreuzt. Tun Sie dann dasselbe für die andere Hand. Wenn Sie es richtig gemacht haben, sind Sie bei Teilbild 11 angekommen, wobei es auf die Details des verknoteten Innern wieder nicht ankommt.

Nun sind wir fast am Ziel. Der letzte Schritt ist abermals leichter getan als gesagt. Drehen Sie Ihre Daumen aufeinander zu, stecken Sie sie durch die mit b gekennzeichneten Löcher und nehmen Sie sie wieder hoch. Stecken Sie dann die Zeigefinger durch die Löcher c (12). Lassen Sie die Schnur nun vorsichtig von den kleinen Fingern abgleiten, drehen Sie die Handflächen langsam nach außen und straffen Sie die Schnur. Mit etwas Übung erscheint – das Indische Diadem in all seiner Pracht (13).

Diese beiden Beispiele geben nur einen winzigen Einblick in die Reichhaltigkeit der Schnurfiguren, wie sie zum Beispiel in dem Buch "String Figures and How to Make Them" von Caroline F. Jayne ausgebreitet wird. In der englischen Originalversion dieses Beitrages habe ich noch beklagt, daß keine mathematische Theorie dafür existiert. Inzwischen hat mich Mark A. Sherman darauf hingewiesen, daß es eigens für Schnurfiguren eine Vereinigung gibt, die International String Figure Association. Das von ihm herausgegebene Vereinsblatt "Bulletin of the International String Figure Association" brachte 1997 einen Artikel darüber, wie man mathematische Fertigkeiten durch solche Fingerspiele kultivieren könnte. Eine komplette Sonderausgabe der Vorgängerzeitschrift "Bulletin of the String Figures Association" befaßte sich 1988 mit den mathematischen Prinzipien der Schnurfiguren.

Aber man kann seinen Spaß an den Fingerfadenspielen auch ohne mathematische Theorie haben.

Literaturhinweise

String Figures and How to Make Them. Von Caroline F. Jayne. Dover Publications, 1975.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 1 / 1999, Seite 8
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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  • Infos
Die International String Figure Association, P. O. Box 5134, Pasadena, California 91117 (USA) ist im World Wide Web zu erreichen unter http://members.iquest.net/~webweavers/isfa.htm.
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