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Kognitive Täuschungen. Fehl-Leistungen und Mechanismen des Urteilens, Denkens und Erinnerns


"Kognitive Täuschungen" – gibt es denn auch nicht-kognitive? Täuschen kann man sich doch wohl nur, wenn man statt dessen etwas hätte wissen oder erkennen können, und umgekehrt – so will zumindest mir scheinen.

In dem vorliegenden Band setzen die Psychologen Fritz Strack aus Trier und Martin H. Gonzales aus Minneapolis (Minnesota) "Wissen" gegen "Fühlen", wobei nur letzteres der jeweiligen Person und nur dieser "unmittelbar gegeben und introspektiv zugänglich" sei (Seite 300) – Christian Wolff (1679 bis 1754), Philosoph in Halle und Schüler des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm von Leibniz (1676 bis 1716), läßt grüßen! Des weiteren sei es so, daß, wenn man einem "empfundenen Gefühl einen Namen gegeben" hat, man dann wisse, daß man (zum Beispiel) glücklich, hungrig oder müde sei (Seite 303). Dann sollte man sich darüber allerdings auch täuschen können.

Das tut man auch – oder jedenfalls fast! Strack und Gonzales berichten nämlich, daß Versuchspersonen, die unter dem Vorwand einer ergonomischen Untersuchung eine gebeugte Sitzhaltung einzunehmen hatten, sich hernach als weniger stolz – auf eine zuvor angeblich erbrachte überdurchschnittliche Leistung – beschrieben als eine Vergleichsgruppe, die aufrecht hatte sitzen dürfen. Waren die Gebeugten wirklich weniger stolz? Strack und Gonzales sind sich sicher, daß "das Gefühl nicht aus der Körperhaltung erschlossen, sondern durch das ausgelöste körperliche Empfinden unmittelbar beeinflußt" war (Seite 307). Wie wollen sie das auf der Basis ihrer eigenen Erkenntnisgrundsätze wissen können?

Der Aufsatz von Strack und Gonzales exemplifiziert nur allzu gut die Fallgruben eines konstruktivistischen Forschungsansatzes, in dem man Instanzen und Prozesse von "Informationsverarbeitung" vermutet, ohne den Versuch zu machen, deren Natur näher zu bestimmen – welchem Programm auch alle anderen Autor(inn)en des Bandes verpflichtet scheinen. Da theoretisieren sie fröhlich und recht unbekümmert in den Begriffen der Umgangssprache drauflos, als hätte uns nicht spätestens der österreichische Philosoph Ludwig Wittgenstein (1889 bis 1951) in seinen "Philosophischen Untersuchungen" vor den hier möglichen grammatischen Fiktionen gewarnt.

Kognitive Täuschungen – das sei "ein Sammelsurium von Täuschungen des Denkens, Urteilens, Erinnerns", nicht aber der Wahrnehmung, wiewohl der Begriff "Kognition" dieselbe sehr wohl mit umfasse, stellt einer der Herausgeber, Wolfgang Hell von der Universität Münster, im Schlußkapitel des Buches fest (Seite 318). Dort vergleicht er auch die "modernen" kognitiven mit den traditionelleren "optischen" Täuschungen (weshalb das Kapitel wohl besser an den Anfang gehört hätte).

Dieser Vergleich macht immerhin noch einmal deutlich, daß die Rede von Täuschungen einen Maßstab voraussetzt, relativ zu dem etwas als "richtig" oder "falsch" bestimmbar wird. Bei den "optischen Täuschungen" (die besser "visuelle" genannt werden sollten) ist dies eben die allgemein akzeptierte geometrische Optik. Einen vergleichbaren Maßstab – Hell spricht von "normativen Lösungen" (Seite 320) – für das zu finden, was unter den umgangssprachlichen Wendungen von "Denken", "Urteilen", "Erinnern" und so weiter daherkommt, ist zugegebenermaßen ungleich schwieriger. Der nächstliegende Kandidat ist die mathematische Logik. Aber gerade Abweichungen von ihr könnten im alltäglichen Schlußfolgern durchaus begründbar sein, wie Volker Gadenne von der Universität der Bundeswehr in München argumentiert (Seite 183).

Ohne Zweifel macht das Buch also auf die Tücken des Täuschungsbegriffs aufmerksam. Enttäuschend bleibt demgegenüber, wie wenig Herausgeber und Autor(inn)en über ein bloßes Referieren bisheriger Studien hinausgehen – die zumeist nur so summarisch abgehandelt werden, daß man sie schon kennen muß, um sie verstehen und beurteilen zu können. Ein Buch also nur für Insider und solche, die es werden wollen – so scheint es mir jedenfalls.

Etwas griffiger und vielleicht auch für Nicht-Konstruktivisten mit Gewinn lesbar erscheinen mir eigentlich nur zwei Beiträge: Gerd Gigerenzer von der Universität Chicago diskutiert den Einfluß der Darstellungsform probabilistischer Information auf deduktiv-statistisches Schließen, und Friedrich Wilkening und Sabina Lamsfuß von der Universität Tübingen betrachten Konzepte sogenannter naiver Physik im ontogenetischen Entwicklungsverlauf bei Kindern verschiedenen Alters. Gigerenzer gelingt es zu zeigen, daß Darstellungen von Wahrscheinlichkeiten als Häufigkeiten in überschaubaren Stichproben vor Fehlschlüssen schützen können (Seiten 106 bis 108). Wilkening und Sabina Lamsfuß demonstrieren überzeugend, daß der Rekurs auf physikalische "Mißkonzepte" nicht notwendig als "altersspezifisches kognitives Defizit" interpretiert werden müsse, vielmehr "zu einem beträchtlichen Teil aufgabenspezifisch und kontextbedingt" scheint (Seite 281).

Ganz in diesem Sinne ist es, wenn Wolfgang Hell im Schlußkapitel "die Einbettung der Erklärung von Täuschungen in Theorien über das normale Verhalten" fordert (Seite 322). Bleibt nur wieder die Frage: Warum fangen die Autoren damit nicht schon in diesem Buch an? Ich möchte – bewußt provokativ – den Verdacht äußern: Das Spiel mit Theorien ist für viele allemal amüsanter als die – längst überfällige – schmerzliche Entscheidung darüber, von welcher Art eine einheitsstiftende Theorie sein sollte.

Ich sehe hier nur zwei Vorgehensweisen, die übrigens beide in dem vorliegenden Band an einigen Stellen anklingen: Entweder man denkt konsequent über mögliche beobachtbare Implementierungen vermuteter Prozesse nach, oder man rekonzipiert das gesamte Forschungsprogramm in Begriffen alltäglicher Konversationslogik, und das heißt: beobachtbaren Sprechverhaltens. Die von den Herausgebern uns noch einmal vorgeführte Erklärungslogik im Stile vermeintlich neutraler, immer irgendwie anzupassender Computer-Metaphorik wirkt jedenfalls schon lange überholt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 12 / 1994, Seite 144
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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