Kommunikationsgewohnheiten und Lesen
Das Ergebnis einer Verhaltensstudie widerspricht einem allgemeinen Vorurteil: Die Lesehäufigkeit ist nicht rückläufig. Das Was und Wie des Lesens wird allerdings stark
von persönlichen Gewohnheiten bestimmt.
Alltagsbeobachtungen lassen bei vielen die Vermutung aufkommen, daß das Lesen als eigenständige Kulturtechnik gegenüber anderen Rezeptionsformen zurückfalle und die Zukunft der Literatur multimedial sei. Die Wissenschaft kann dies jedoch bisher so nicht bestätigen.
Kulturpessimisten und -optimisten argumentieren entgegengesetzt – oft auf der Basis desselben Datenmaterials. Wenn etwa die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung zumindest im wöchentlichen Rhythmus zum Buch greift, ist das für die einen ein im Sinne idealistischer Bildungsideale erfreulicher Befund – es habe noch nie zuvor so viele Leser gegeben. Die anderen vergleichen damit die Reichweiten des Fernsehens – wenn es täglich etwa drei Viertel der erwachsenen Bevölkerung vor den Bildschirm lockt, sei dies das Todeszeichen der Lesekultur.
Generell weisen empirische Untersuchungen darauf hin, daß die Medien nach bestimmten Gewohnheitsregeln genutzt werden: Entweder ist das Lesen selbstverständlich mit einbezogen – oder eben nicht. So wird die Möglichkeit, statt eine Fernsehserie zu verfolgen sich in einen Roman zu vertiefen, jenen, die nicht an das Lesen gewöhnt sind, kaum bewußt.
Erste Anhaltspunkte für unterschiedliche kommunikative Gewohnheiten, die auch die Mediennutzung steuern, fand ich bei einer Studie in Österreich („Lesen in der Mediengesellschaft“, Wien 1989). Ganz grob ließen sich zwei extreme Gruppen erkennen, die sich nicht nur durch ihr Lese- beziehungsweise Mediennutzungsverhalten unterscheiden, sondern generell durch ihre kommunikativen Möglichkeiten: Die einen machen von allen zur Verfügung stehenden Medienangeboten Gebrauch und haben eine überdurchschnittliche Kompetenz, einem Text wesentliche Informationen zu entnehmen; sie unterhalten sich viel mit ihren Mitmenschen und zeigen sich in ihrem Freizeitverhalten eher aktiv. Die anderen verfügen über eine eher unterdurchschnittliche Kompetenz der Informationsaufnahme aus einem Text, beschränken sich weitgehend auf die elektronischen Medien und bevorzugen aus deren Programm unterhaltende Sendungen; sie kommunizieren kaum mit ihren Mitmenschen und leben eher häuslich zurückgezogen.
Regelhaftes Verhalten
Dieses Phänomen näher zu beschreiben war unter anderem das Ziel einer eingehenderen Auswertung der für die Bundesrepublik repräsentativen Studie „Kommunikationsverhalten und Medien“ (Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1989). Besonders interessant erschien meinen Kollegen Ulrich Saxer und Wolfgang Langenbucher und mir die Frage, inwieweit das Lesen Anteil an den gewohnheitsmäßigen alltäglichen Kommunikationsstrukturen hat.
Bei immer wiederkehrenden Situationen entscheiden wir uns vielfach aufgrund von Gewohnheiten. So läuft zum Beispiel die Abendgestaltung in der Regel immer wieder nach dem gleichen Muster ab. Wer einmal dazu übergegangen ist, jeden Tag nach der Arbeit den Fernseher einzuschalten oder jeden Abend die Nachrichten zu sehen, wird dies nur in Ausnahmefällen nicht tun. Solche Verhaltensregeln schleifen sich sozusagen ein. Ebenso kann es zur Gewohnheit werden, morgens zum Frühstück die Tageszeitung zu lesen oder abends vor dem Einschlafen noch kurz ein Buch aufzuschlagen.
Um unterschiedliche Kommunikationsgewohnheiten beschreiben zu können, werteten wir das Datenmaterial statistisch mit Hilfe einer Cluster-Analyse daraufhin aus, wie oft die Medien Fernsehen, Radio, Buch, Tageszeitung, Zeitschrift sowie Schallplatte und andere Tonträger wie CD und MC in Anspruch genommen werden; außerdem eruierten wir die genutzten Inhalte. Mittels verschiedener Methoden konnten wir zwischen informativen und unterhaltenden Inhalten unterscheiden. So ließen sich schließlich vier unterschiedliche kommunikative Strukturen erkennen.
Vier typische Weisen des Umgangs mit Medien
Individualisten: Sie bevorzugen von allen Medien Bücher – sowohl zur Unterhaltung als auch zur Information – und Musik sowohl aus dem Radio wie insbesondere von Tonträgern. Ihr Fernsehkonsum liegt nur wenig unter dem Durchschnitt. Der Anteil der täglichen Zeitungsleser ist unter ihnen am geringsten, jener der Zeitschriftenleser hingegen überdurchschnittlich, wobei eher die anspruchsvollen favorisiert werden. Insgesamt ist dies eine Kommunikationsstruktur junger Menschen; das Durchschnittsalter liegt bei 33 Jahren. Etwa ein Viertel der Bevölkerung ist dieser Gruppe zuzuordnen.
Informationskonsumenten: Sie nutzen Informationen jedweder Art. Auf der Skala der Medien erreichen bei ihnen anspruchsvolle Zeitschriften und überregionale Tageszeitungen die höchsten Werte, gefolgt vom Fach- beziehungsweise Sachbuch und den informativen Sendungen in Radio und Fernsehen. Unter ihnen sind die meisten gewohnheitsmäßigen Leser zu finden, die sich auch in der Freizeit mit Lektüre beschäftigen. Der Anteil der täglichen Fernseher ist dagegen nur unterdurchschnittlich, während der der täglichen Zeitungsleser hier am höchsten ist. Angehörige dieser Gruppe stehen zumeist im Berufsleben; das Durchschnittsalter liegt bei 41 Jahren. Etwa ein Sechstel der Bevölkerung ist dieser Gruppe zuzuordnen.
AV-Konsumenten: Diese Gruppe ist durch die ausgiebige Nutzung der audio-visuellen Medien Fernsehen und Hörfunk gekennzeichnet; bevorzugt werden die Unterhaltungsprogramme des Fernsehens. Bücher wie auch anspruchsvolle Zeitungen und Zeitschriften werden kaum gelesen; dafür hat die Boulevard-Presse den höchsten Wert, und weniger anspruchsvolle Zeitschriften werden häufig zur Hand genommen. Das Durchschnittsalter beträgt 50 Jahre; Jugendliche und junge Erwachsene (bis 29 Jahre) sind nur unterdurchschnittlich vertreten. Diese Gruppe macht etwa ein Drittel der Bevölkerung aus.
Abstinente: Die kommunikativ Passiven sind nicht nur von Medien – gleich welcher Art – schwer zu erreichen, sie lassen auch kaum inhaltliche Präferenzen erkennen. Erwartungsgemäß ist in dieser Gruppe der Anteil der Nicht-Leser am höchsten; nur 4 Prozent greifen täglich einmal zu einem Buch. Die Altersstruktur entspricht ungefähr jener der AV-Konsumenten, wobei hier der Anteil älterer Menschen (über 60 Jahre) noch höher ist. Das Durchschnittsalter beträgt 52 Jahre. Als abstinent ist etwa ein Viertel der Bevölkerung einzuschätzen.
Ergebnisse
Bei zweien dieser vier typischen kommunikativen Strukturen gehört also das Buch selbstverständlich zu den genutzten Medien. Insgesamt gibt es aber weniger anspruchsvolle Leser als Menschen, für die fast ausschließlicher Fernsehkonsum zur Gewohnheit geworden ist.
Die Dominanz der AV-Konsumenten könnte man als Trend zur Oberflächlichkeit deuten. Zu beachten ist jedoch, daß es unter ihnen nur wenige junge Leute gibt – diese haben vielmehr eine stark individualisierte Kommunikationsstruktur. Dem Drang der Jugend nach Individualität kommen die Lese- ebenso wie die Musikmedien entgegen. Menschen, die vorwiegend im beruflichen Alltag stehen, suchen sich vor allem zu informieren. Später im Leben wird Entspannung durch die audio-visuellen Medien wichtiger; und in der Gruppe jener, die sich aus dem gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehen ausschließt, sind insbesondere ältere Menschen zu finden.
Insgesamt kann man festhalten, daß keineswegs weniger gelesen wird als vor Einführung des Fernsehens. Zeitung, Zeitschrift und Buch haben ihren festen Platz in einem sich weiterhin erneuernden Mediengefüge. Den Trend bestimmt sogar, daß Junge mehr als Ältere lesen und sich selbstverständlicher dieser Rezeptionsform bedienen, die sie wohl aufgrund anderer Bildungschancen besser beherrschen.
Dennoch lassen sich Veränderungen erkennen. Sie betreffen weniger die Quantität als die Art und Weise des Medienkonsums: Lesen ist nicht mehr ein Privileg höherer Bildungsschichten. Beruflich werden Bücher und Zeitschriften in so gut wie jeder Sparte genutzt, wenn auch nicht jeder gleichermaßen den Drang hat, sich auf diese Weise weiterzubilden. Was die Freizeitlektüre betrifft, so wird in Zukunft der abstinente Akademiker ebensowenig eine Ausnahme sein wie der intensiv lesende Handwerker. Der allgemeine Trend zu stärkerer Nutzung von Printmedien – insbesondere der informativen – ist somit eng gebunden an individuellen Einsatz.
Aus: Spektrum der Wissenschaft 7 / 1993, Seite 112
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH
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